New York im Kaleidoskop

16 Bildung

School

Das Thema „Schule“ nimmt bei unseren New York Reisen jedes Mal großen Raum ein, denn unsere drei Enkeltöchter befinden sich alle noch in der Ausbildung. Egal, ob es sich um Grundschule, Oberschule oder das Studium an einer Universität handelt – im amerikanischen Sprachgebrauch fallen alle Ausbildungen unter den Sprachbegriff school. Im Fall der Enkelinnen beziehen sich unsere aktuellen Erfahrungen auf die Highschool, das Universitätsstudium und die Promotion – und alles, was ich in diesem Umfeld mitbekommen habe, bestärkt meine Überzeugung, dass man die USA und besonders New York ohne Kenntnis des Ausbildungssystems nicht verstehen kann. Auf den ersten Blick wirken die Daten, die die NY-Schulbehörde über sich selbst ins Internet gestellt hat, beeindruckend, nämlich das viele Geld, das für den einzelnen Schüler ausgegeben wird, die gute Lehrer/Schüler Relation, die großen Schulgebäude und ihre gute Ausstattung, die Diversität der einzelnen Institute, die Sicherheit, die in ihnen herrscht und und und. Doch schaut man genauer hin, fallen einem viele Dinge auf, die den guten Eindruck relativieren. Trotz rechtlicher Gleichheit aller Schüler und Studenten ist der entscheidende Aspekt für gute Bildungschancen in New York, in welcher Neighborhood der Stadt man wohnt. Da gibt es schlecht ausgestattete Schulen in armen Migrantenvierteln, an denen sich kaum Schüler mit Englisch als Muttersprache befinden – gegenüber anderen in wohlhabenden Gegenden, wo engagierte Eltern die sowieso schon homogene Schülerschaft mit eigenem Geld zusätzlich fördern und ihre guten Beziehungen für die optimale Ausstattung „ihrer“ Schule einsetzen. Überhaupt spielt Privatinitiative in den USA eine viel größere Rolle als in Deutschland und speziell im Bildungswesen konkurrieren private Einrichtungen scharf mit staatlichen von der Pre-School über Elementary School, Middle School, High School bis zum College und der University. Das staatliche Schulsystem beginnt relativ spät für Fünfjährige mit dem Kindergarten (vergleichbar der Vorschule im deutschen System) und deshalb stehen sich sich bereits in der ersten Klasse zwei sehr unterschiedliche Gruppen gegenüber: Diejenigen, die vom Kleinkindalter an von ihren Eltern für teures Geld in private Pre-Schools (Kinderkrippe, Kita und Kindergarten) gesteckt wurden, wo sie eine umfangreiche Förderung genossen und jene, die erst als Fünfjährige mit zumeist mangelhaften Englischkenntnissen an die Public Schools (die Schulen des staatlichen Bildungssystems) kommen. Entscheiden sich die Eltern für das staatliche Schulwesen, so müssen sie die Elementary School, die ihrem Wohnort zugeordnet ist, akzeptieren. Wie schon gesagt, beginnt hier die Ausbildung mit dem Kindergarten und meistens tun sich in Migrantenvierteln bereits in der ersten Klasse große Probleme auf, da sich das hier vorhandene sprachliche Defizit der Kinder schwerlich in einem Jahr beheben lässt und viele in ihren Leistungen bald dem Durchschnitt hinterher hinken. Den betroffenen Eltern bleibt dann nur die Ergebung in ihr Schicksal, oder sie umgehen das Problem durch eine fingierte Adresse in einer „besseren“ Neighborhood oder melden ihr Kind gleich an einer teuren Privatschule an. Nach vier Schuljahren in der Elementary School steht der Wechsel auf die ebenfalls vierjährigen Middle Schools an. Diese können sich ihre Schülerschaft in der Regel selbst aussuchen und konkurrieren untereinander um begabte Schüler mit attraktiven Angeboten (wie Sport, Musik, Kunst, Naturwissenschaft oder Sprachen). Um aufgenommen zu werden, müssen diese ihre Begabung allerdings in einem Interview oder durch einen Test nachweisen. Die Bedauernswerten, die in in diesem „Wettkampf“ außen vor bleiben, werden von der Schulbehörde auf frei gebliebene Plätze verteilt, selbstverständlich an nicht so nachgefragten Schulen.

Unsere Enkelinnen wurden von ihren Eltern von klein auf darauf vorbereitet, im Wettrennen um gute Bildungsmöglichkeiten zu bestehen. Von welcher Bedeutung die Wahl der „richtigen“ Schule für das Kind ist, mussten die Eltern am Beispiel ihrer erstgeborenen Tochter allerdings erst lernen. Denn sie hatten das Kind naiver Weise an der für ihre Neighborhood zuständigen Middle School angemeldet, wo sich schnell herausstellte, dass hier bereits Achtklässlerinnen schwanger wurden und dass die „Fachkraft“ für Französisch mithilfe der Schüler ein einstudiertes Fake-Examen hinlegte – bis sich später herausstellte, dass sie des Französischen überhaupt nicht mächtig war. Diese Negativerfahrung brachte die Eltern dazu, ab jetzt nur noch nach Schulen mit besonderem Profil für ihre Kinder zu suchen, auf denen ein Ausleseverfahren existierte, wie oben beschrieben. Das bedeutete für die Älteste, dass sie noch während der verkorksten Mittelschulzeit auf den Besuch einer qualitätvolleren Highschool vorbereitet werden musste – durch intensiven Nachhilfe-Unterricht der Eltern! Allen drei Töchtern war ihrerseits bewusst, dass Pflichtbewusstsein, Fleiß und die Entwicklung spezieller Interessen quasi die Eintrittskarte in solch „bessere“ Schulen waren, im Falle der beiden jüngeren die Louis Armstrong Middle School in Queens. Dem Namen des Patrons entsprechend war sie künstlerisch ausgerichtet und für die beiden Mädchen, die sich frühzeitig in Musik bzw. Kunst engagierten, gab es keine Schwierigkeiten, hier angenommen zu werden. Die Jüngste ging noch einen Schritt weiter, indem sie ein Jahr nach der Aufnahme bei Louis Armstrong Vorbereitungskurse zur Qualifikation für die Hunter School belegte. Diese – jetzt städtische – Einrichtung wurde 1869 von dem Philanthropen Thomas Hunter, der sich speziell der Bildung von jungen Mädchen verschrieben hatte, als „The Female Normal and High School“ gegründet. Mittlerweile werden hier auch Jungen aufgenommen und die Schule versteht sich, zusammen mit dem Hunter College, einer städtischen Universität, als Bildungsstätte, an der alle begabten Kinder der citizens of New York unentgeltlich lernen können. Über besagte Aufnahmeprüfung können auch Schüler, die nicht von Anfang an bei Hunter angemeldet waren, noch nachträglich in die 7. Klasse aufgenommen werden und so geschah es mit Manon, unserer jüngsten Enkelin. Sie kam dadurch schon zwei Jahre früher quasi auf die „Oberschule“, während ihre Schwestern regulär nach der 8. Klasse auf die high school, die letzte vierjährige Station der amerikanischen Schullaufbahn, überwechselten. Dem Beispiel ihrer Mutter folgend, hatten sie sich an der LaGuardia High School of Music & Art and Performing Arts beworben und wurden auch angenommen. Die eine, weil sie sich seit der middle school intensiv mit Kunst beschäftigt hatte, die andere, weil sie seit Jahren schon sehr ambitioniert Klavier spielte und sich in der Middle School zusätzlich entschloss, Kontrabass zu lernen – zum späteren Einsatz im Sinfonie-Orchester ihrer künftigen Highschool. LaGuardia School wurde übrigens 1936 von dem legendären, namensgebenden Bürgermeister persönlich gegründet, der damit sicherstellen wollte, dass auch musisch begabte Kinder aus der Mittel- und Unterschicht staatlich gefördert werden und ihnen anschließend der Weg zur Universität offen steht. Die später in LaGuardia eingegliederte Abteilung für Tanz wurde 1980 durch den Film Fame weltweit bekannt und die im Lincoln Center – ganz in der Nähe von LaGuardia – ansässige Juilliard School, das New Yorker Konservatorium (und seit 1951 und 68 auch Tanz- und Schauspielschule), pflegt enge Kontakte zu LaGuardia und übernimmt regelmäßig deren begabteste Schüler. Das verblüffende künstlerische Niveau der Schule unserer Enkelin konnten wir bei einer fulminanten Aufführung von „La belle Hélène“ von Jacques Offenbach mitbekommen, leider ohne ihre Mitwirkung, da ihr Sinfonieorchester an der Aufführung nicht beteiligt war. Dessen Auftritte konnten wir leider nur in Aufzeichnungen sehen, die aber belegen, dass es sich auf demselben Niveau wie die Opernaufführung befand. Diese fand in der great hall der Schule statt, einem riesigen Saal mit professioneller Bühne und opulenter Ausstattung für das Stück. Es war schon gewöhnungsbedürftig, dass im sittenstrengen Amerika ein dermaßen „schlüpfriges“ Stück in einer Schulaufführung gegeben wird. Nicht etwa deswegen, weil hier Anzügliches gezeigt wurde (immerhin sang die Helena bei der Premiere in Paris nackt), sondern im Gegenteil durch die absolute Abwesenheit all dessen, was das Pariser Publikum vor 150 Jahren so entzückt hatte. So mussten sich die Protagonisten auf das Musikalische konzentrieren und das taten sie ausgesprochen gut.

Der Abschluss der High-School-Jahre stellt eines der überall in den USA zelebrierten Rituale dar, bei denen für teures Geld ein Talar (eigentlich ein Fetzen billiger Stoff) und ein albernes, dem Doktorhut ähnliches, Käppi gekauft werden – beides Gegenstände, die nach einmaligem Gebrauch in den Müll wandern. Dann muss eine opulente Party für die Empfänger des high school diploma ausgerichtet werden und diverse Geschenke werden fällig. Wegen der Größe amerikanischer Schulen (LaGuardia hat 2.700 Schüler) können bestenfalls zwei Familienangehörige am Ritual und der Party teilnehmen. Die Zeremonie findet überall in den Staaten am letzten Schultag statt, was das öffentliche Leben außerhalb des Schulbetriebs ziemlich lahmlegt. Anschließend geht das Geldausgeben für die Eltern erst richtig los, falls die Sprösslinge studieren wollen, denn so gut wie alle Hochschulen erheben Studiengebühren. Die Wahl der Ausbildungsstätte, College (für einfache Studienabschlüsse wie den Bachelor) oder University (für Bachelor, Master oder Doctor) bestimmt den Status der Absolventen. Es existiert ein US-weites Hochschul-Ranking und bei den führenden sind die Gebühren am höchsten. Die alteingesessenen, teilweise über 200 Jahre alten Universitäten wie Princeton, Harvard, Columbia und Yale zählen zur Ivy League, benannt nach den von Efeu umrankten alten Gebäuden, in denen sie lange Zeit residierten. Trotz des Stolzes auf die renommierten Institutionen leisten sich einige Staaten auch kostenlose State Universities, die aber in der Regel mit ersteren nicht mithalten können, die mit den eingenommenen Gebühren einen exzellenten Lehrkörper und aufwändige Forschungsvorhaben finanzieren. Um die weniger Wohlhabenden nicht ganz von der Universität auszugrenzen, existiert ein ausgeklügeltes Zuschuss-System, das Absolventen mit einem ausgezeichneten High School Diploma zugute kommt. Aus diesem Pool suchen sich die Hochschulen ihre Stipendiaten aus, die sie mit Teil- oder Vollförderung bedenken. Unsere volljährigen Enkelinnen hatten beide Glück, ein solches Vollstipendium zu erwischen, aber das deckte natürlich Kost und Logis nicht ab. Da die eine ihren Studienplatz am Hunter College in NY ergattert hatte, konnte sie zu Hause wohnen und somit die Kosten für die Eltern im erträglichen Rahmen halten. Fünf Jahre später gab es für die andere einen Platz an der Boston University, was bedeutete, dass pro Jahr ca. 20.000 $ Unterhaltskosten anfielen. In den ersten beiden Semestern sind die freshmen verpflichtet, auf dem Campus in einem Dormitorium (dorm) zu wohnen, wobei oben genannte Kosten entstehen. Sophomores (wie man sie ab dem 3. Semester nennt) und Seniors (höhere Semester) leben außerhalb des Uni-Campus, was die Angelegenheit aber nicht billiger macht, denn Studentenzimmer wie auch wie die Selbstverpflegung sind exorbitant teuer. In der Regel nehmen amerikanische Studenten für alle Studienkosten einen Kredit auf, den sie später jahrelang abstottern müssen, wenn sie erst einmal einen Job gefunden haben. Hätte unsere Enkelin sich nicht kurzerhand für ein Medizinstudium in Berlin entschieden, wären ca. 500.000 $ zurückzuzahlen gewesen!

Graduation Day

Selbstverständlich reisen wir zur graduation extra aus Berlin an und, obwohl sie in Boston und nicht in NY stattfindet, nehme ich sie in dieses Kapitel mit auf, weil sie exemplarisch für all das steht, was an diesem Tag auch in NY abläuft. Zuerst müssen wir die Jüngste mit dem Wagen an der Hunter School abholen, einem fensterlosen, bunkerähnlichen Komplex (ein ehemaliges Waffendepot (armory) der Polizei) im Norden Manhattans. Dann begeben wir uns auf den Highway nach Norden und stellen entsetzt fest, dass dichter Ausfall-Verkehr (wie jeden Tag!) herrscht und wir bald im ersten Stau steckenbleiben. Das hält über die gesamte Fahrt an und hat nur eine angenehme Unterbrechung, als wir auf dem Parkplatz einer Tankstelle unsere mitgebrachten Picknick-Schätze verputzen. Für mich ist sogar eine in Packpapier eingewickelte Bierflasche drin (öffentlicher Alkoholkonsum – d.h. ohne Packpapier um die Flasche herum – ist diesem Lande verboten). Bei Einbruch der Dunkelheit erreichen wir Boston, immer dem Navi folgend, das uns zielstrebig nach South Boston führt, der von der Schwiegertochter Julie so gefürchteten, kriminalitätsbelasteten, Slum-Adresse. Am Ziel Beach Street angekommen, finden wir eine hochfrequentierte, laut ratternde Eisenbahnlinie und dunkle verkommene Häuser, aber keins mit der Hausnummer unseres air bnb. Erst ein Anruf beim Vermieter offenbart, dass wir die Adresse Beach Street in Revere, einem Ort – thank God – nördlich von Boston gebucht haben und dies hier glücklicherweise der falsche Ort ist. In Revere sieht alles – soweit man das in der Dunkelheit sehen kann – viel angenehmer aus. „Unser“ Haus ist ein für Massachusetts typisches Holzhaus mit drei Etagen und einer porch mit einer kleinen Bank davor. Wir bewohnen die oberen beiden Geschosse und haben reichlich Platz für alle, auch für die aus Kalifornien anreisende älteste Enkelin und die am nächsten Tag eintreffenden russischen Großeltern aus NY. Alle „Amerikaner“ und wir unter einem Dach, das ist eine neue Erfahrung für uns – mal sehen.

Am graduation day begegnen uns scharenweise junge Menschen in roten Talaren mit den lächerlichen Kopfbedeckungen, bald werden wir sehen, dass auch unsere Enkelin so aussieht, allerdings mit high heels und gewagter Kurzbekleidung darunter. Der Saal für die Verleihung der Urkunden an die Studenten der Neurowissenschaft liegt im Keller; Renate hat uns bereits Plätze in der Saalmitte reserviert. Die Veranstaltung beginnt mit dem Einmarsch der „Gladiatoren/innen“ und einer routinierten Einführungsrede des offenbar bei den Studenten besonders beliebten Professors, eines bärtigen Mittfünfzigers mit schelmischem Gesichtsausdruck. Ihm folgt die erste Studentensprecherin, eine übergewichtige Person (wie so furchtbar viele in diesem Land!), die unter großem Beifall der Diplomanden die Besonderheiten dieses Studienjahrgangs hervorhebt und anschließend die presentation of awards, in der zu unserem Kummer der Name Erelle Fuchs wegen eines einzigen fehlenden Pünktchens nicht vorkommt. Die zweite Studentensprecherin wirkt etwas peinlich, weil sie die Demenz ihrer Großmutter als Motiv für ihr Studium der Neuro-Wissenschaft viel zu ausführlich ausbreitet, aber dann kommt es bereits zur presentation of diplomas: Nach einem erneuten Defilee durch den Saal werden die Studenten einzeln aufgerufen (unsere Enkelin unter der Aussprache Errill Fyooks für ihren Namen) und erhalten vor einer Leinwand, auf der jeweils ihr Name, ein Kinderbild und ein Erwachsenenfoto erscheint, vom schelmischen Professor die Urkunde ihres Diploms ausgehändigt. Nach den abschließenden Worten des Professors schenken wir uns die reception for graduates, family, and friends sowie die riesige Abschlussveranstaltung bei 12 Grad C im Freien, sondern kaufen beim Bäcker ausgiebig Kuchen und ziehen uns zur privaten Nachfeier in Erelles Apartment zurück. Es sind ihre letzten Stunden dort, denn mit dem Diplom endet auch ihr Mietvertrag (1000 $ im Monat für ein Zimmer!). Nach dem Kaffee werden ihre Habseligkeiten eingepackt und die Feiergruppe zerstreut sich wieder: Erelles Freundin mit ihren Sachen im Auto nach NY, Eden mit dem Flugzeug nach Kalifornien, Erelle und die russischen Großeltern im Flieger und wir restlichen fünf im Auto nach NY. Die Heimfahrt geht auch wieder über volle Highways, ist aber nicht so nervig wie auf dem Hinweg.

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