New York im Kaleidoskop

2 New Yorks Ursprünge

Niederländische Gründer und englische Usurpatoren

Der niederländische Seefahrer Adriaen Block (*1567 †1627) unternahm von 1611 bis 1614 mehrere Erkundungsreisen auf den Spuren Henry Hudsons, bei denen er Manhattan und Long Island als Inseln identifizierte und die Gegend kartografierte. Zusammen mit Hendrick Christiansz und einer Gruppe von zwölf Kaufleuten beantragte er bei den Niederländischen Generalstaaten (dem Parlament der Republik der Vereinigten Niederlande) die Gründung einer Compagnie van Nieuwnederlant, der exklusive Rechte auf drei Jahre für den Handel zwischen dem 40. und 45. Breitengrad eingeräumt wurden. An der Südspitze Manhattans entwickelte sich daraufhin die Siedlung Nieuw Amsterdam, als Handelsstützpunkt und Sitz des Gouverneurs der neu gegründeten Kolonie. Die Gouverneure May, Verhulst, Minuit, Kieft und Stuyvesant regierten sie recht selbstherrlich, sehr zum Missvergnügen ihrer neuen Untertanen. Der dritte Gouverneur, Peter Minuit, beanspruchte das Verdienst für sich, den Lenape-Indianern – für Waren im Wert von 60 Gulden – die Insel Manna Hatta abgekauft zu haben. Dieser Landkauf erscheint heute recht fragwürdig, da den Einheimischen Grundbesitz und dessen Veräußerung unbekannt war, für sie dürfte es sich stattdessen um eine befristete und gemeinsame Nutzungsvereinbarung mit den Neuankömmlingen gehandelt haben. Aber dennoch betrachteten sich die Niederländer fortan als Eigentümer der Stadt und des umliegenden Landes, auf dem sie zur Selbstversorgung der Kolonie mit Lebensmitteln Bauernhöfe (holländisch: boerderij) anlegten, von denen sich heute noch der Straßenname Bowery herleitet. Durch den niederländischen Besitzanspruch wurden ständig Konflikte mit den Indianern provoziert – unter Willem Kieft brach z. B. der Pfirsich-Krieg aus, weil ein Siedler eine Indianerin tötete, die einen Pfirsich auf seiner Plantage gepflückt hatte.

1653 erhielt Neu Amsterdam das Stadtrecht – auf einer Karte von 1656 zeigt es sich als Ansammlung nur einer Handvoll Häuser, überragt von einer Windmühle, dem Fort Amsterdam, dem Handelshaus der Compagnie und dem Galgen. Das Fort hatte Peter Minuit zum Schutz von Kolonie und Stadt angelegt, aber dennoch konnte er nicht verhindern, dass sich die Briten (gemäß ihrem Anspruch auf ganz Nordamerika) die Stadt und die Kolonie einverleibten. Sie erließen die so genannte Navigationsakte (navigation act), die vorschrieb, außereuropäische Güter ausschließlich auf englischen Schiffen nach Großbritannien zu bringen. Da die Niederländer dagegen verstießen, nahm eine britische Expedition Nieuw Amsterdam kurzerhand ein. Unter dem letzten Gouverneur Peter Stuyvesant war den Bewohnern die niederländische Regierung bereits so verhasst geworden, dass sie seinen Aufruf zum Widerstand gegen die „Usurpatoren“ einfach ignorierten und sich widerstandslos ergaben. Die Engländer benannten die Stadt nach dem Duke of York (dem späteren König James II.) in New York um und die Einwohner galten fortan als englische Staatsbürger.

Trotz des Zuzuges weiterer Siedler blieb New York eine kleine Stadt, die nur den äußersten Süden der Insel Manhattan für sich beanspruchte. An der heutigen Canal Street verlief verlief eine Palisade, die die Siedlung nach Norden absicherte. Die Hauptstraße durch die Stadt und hinter der Palisade die Ausfallstraße durch Manhattan war der Broadway, ein Fixpunkt der Stadtgeschichte von den Anfängen bis heute. Fort Amsterdam (an der Stelle des heutigen Custom‘s House in der Wall Street gelegen) rissen die Briten ab und errichteten vor der Südwestspitze von Manhattan eine neue Verteidigungsanlage. Castle Clinton sollte denselben Zweck erfüllen, die Stadt gegen Angriffe von See her zu sichern, lag aber strategisch günstiger. Heute befindet es sich, seiner militärischen Aufgaben beraubt, landfest inmitten der angeschütteten Anlagen des Battery Park und man kann hier für die Überfahrt zur Freiheitsstatue und nach Ellis Island Schlange stehen. Im 19. Jh. benutzte man es zur Einreisekontrolle für Immigranten (als Vorgänger von Ellis Island), dann als Theater und schließlich als New Yorks erstes Aquarium.

Spuren der Vergangenheit auf dem Broadway

Das Areal des ältesten New York kann man auch heute noch auf derselben Straße durchqueren, wie zur Zeit der Gründung und das möchte ich jetzt tun. Von der Staten Island Ferry kommend überquere ich die Peter Minuit Plaza und stehe vor zwei altertümlich aussehenden Backsteingebäuden im Schatten riesiger Wolkenkratzer, der Church of the Holy Rosary und dem James Watson House. Mit ihren bescheidenen Abmessungen wirken sie in ihrer Umgebung wie aus der Zeit gefallen, aber nur auf das Watson House trifft das auch zu. Es ist ein ehemaliges Reederhaus von 1793 und gibt einen guten Eindruck vom Aussehen der Stadt in ihren Anfängen. Die Kirche stammt dagegen erst aus dem Jahre 1965, obwohl ihr Baustil ein viel höheres Alter suggeriert. Das ehemalige Reederhaus diente nämlich ab 1884 als Missionsstation für junge Immigrantinnen und als daneben endlich die lange geplante Pfarrkirche gebaut wurde, musste sie sich dessen Stil anpassen. Nach wenigen 100 m entlang weiterer Wolkenkratzer und dem Monumentalbau des National Museum of the American Indian beginnt der Broadway, der „breite Weg“, der Manhattan seit je her durchquert. Gleich an seinem Beginn weitet sich die Schlucht der Hochhäuser zu einem kleinen, mit einem schmiedeeisernen Zaun umgebenen Platz auf, dem Bowling Green. Als New Yorks älteste Grünanlage wurde er 1733 angelegt und – wie der Name besagt – diente er tatsächlich einmal dem Bowling-Spiel. Der ovale eiserne Zaun, der ein Areal mit Blumenrabatten, Parkbänken und Springbrunnen umschließt, soll noch aus der Erbauungszeit stammen.

An der Nordspitze des Bowling Green steht der Raging Bull, bezeichnenderweise das Symbol für den Finanzplatz New York. Der wild tobende bronzene Stier scheint auf nichts und niemanden Rücksicht zu nehmen. Er ist immer von Touristen umlagert und insbesondere Frauen streicheln ihm gern die Eier, die davon schon ganz blank poliert sind. Kürzlich hat man auf recht unglaubwürdige Weise versucht, die verheerende Botschaft des Kapitalbullen etwas abzumildern, indem man direkt vor ihm die Statue eines kleinen Mädchens aufstellte, das ihm Einhalt gebieten soll. Unweit davon liegt die Wall Street mit dem New York Stock Exchange, der berühmten Börse. Hier erst verstehe ich die Etikettierung von NY als Welthauptstadt, denn überall im financial district sind Schilder mit der Inschrift NY financial capital of the world angebracht. Ich würde den Begriff „Welthauptstadt“ allerdings treffender durch „Geldhauptstadt“ ersetzen und gern im Detail herausfinden, wessen Geld hier eingesetzt wird, wozu man es verwendet und wem es nützt bzw. schadet. Das Börsengebäude zeigt selbstbewusst seine wohlbekannte, mit einer riesigen US-Flagge bestückte Tempelfassade. Nur wenige Meter entfernt gibt es eine weitere solche klassizistische Fassade, die diesmal aber von der Entstehung der Demokratie in Amerika zeugt, das Federal Hall Memorial. Nach dem Unabhängigkeitskrieg wurde New York nämlich für ein Jahr Hauptstadt der USA und man widmete sein altes Rathaus um zur Federal Hall, quasi dem ersten Kapitol des neu entstandenen Staates. Hier fanden bedeutende geschichtliche Ereignisse der USA statt: Die Erhebung der Forderung „No taxation without representation„, der Amtseid von George Washington und die Verabschiedung der Bill of Rights. Die Federal Hall musste später dem Customs House weichen und dieses dann dem genannten Tempelbau des Federal Hall Memorial.

Der Broadway ist ab hier als „Canyon of Heroes“ gestaltet, ins Pflaster eingelegte Metallstreifen weisen auf alle celebrities hin, die je in NY geweilt haben (ein bisschen weiter oben finde ich später sogar den Streifen für „Willy Brandt, Mayor of West Berlin“). Unweit von der Wall Street stoße ich auf ein bedeutendes Stück Alt-New-York, die Trinity Church mit ihrem schönen alten Friedhof. Gegründet 1696 ist er ein Ruhepunkt in dieser hektischen Umgebung, ein von alten Bäumen beschattetes grünes Karree, an dem sich auf der Broadwayseite die Kirche erhebt. Beeindruckend sind die vielen altehrwürdigen Grabsteine, die an berühmte New York citizens erinnern, wie den Erfinder des Dampfschiffs, Fulton, nach dem hier auch eine Straße benannt ist. Die viel jüngere neugotische Kirche der Pfarrei besitzt einen Turm, der bei seiner Einweihung 1846 – kaum zu glauben – mal der höchste New Yorks war. Sie ist bereits das dritte Gebäude an dieser Stelle und war bei meinem Besuch wegen Renovierung geschlossen

Westlich vom Broadway, auf der Brachfläche, die durch die Ereignisse von nine eleven entstand, ist – neben dem bereits wieder aufgebauten World Trade Center – mittlerweile „The Oculus“ entstanden, ein 4 Milliarden-Projekt mit einem neuen Bahnhof (und einem Tunnel nach New Jersey) sowie einer – von Santiago Calatrava entworfenen – Shopping Mall in beeindruckender, moderner Architektur. Calatrava hat sowohl den Bahnhof als auch das Einkaufszentrum unter die Erde verlegt und der eigentliche Oculus ist nur die Lichtquelle, die dem ganzen den Eindruck verleiht, als wäre es oberirdisch. Er erhebt sich als rippengewölbter Lichtdom über dem Einkaufszentrum, seine äußere Gestaltung klingt an die erschütternden Bilder von 9/11 an, als nur noch bizarr verbogene Stahlteile aus dem Trümmerinferno herausragten. Im Innern ist alles vom Feinsten: Schneeweißer Marmor, wohin das Auge blickt, Calatravas elegant gebogene Stützen (gleichermaßen an Gaudì wie an Dalì erinnernd), Rolltreppen und gläserne Fahrstühle, Putzleute mit riesigen Besen, die auch den kleinsten Dreckkrümel sofort beseitigen und das Ganze angenehm klimatisiert. Doch genug des Lobes – Shopping Mall bleibt Shopping Mall mit den ewig gleichen Geschäften; man fragt sich, wie an solch teurer location überhaupt profitabel gewirtschaftet werden kann.

Ich glaube, dass die gigantischen Investitionen in die vielen Neubauten aus sehr unterschiedlichen Motiven getätigt wurden: Zuerst einmal (rein ideologisch) in dem Bestreben, die „Schande von 9/11″ auszulöschen, bei der es einer Handvoll Terroristen gelungen war, die USA als Ganzes anzugreifen, indem sie das WTC, das Pentagon und das Kapitol gleichzeitig attackierten. Davon gelang zwar nur der symbolische Anschlag auf den Kapitalismus „richtig“, während die beiden anderen auf das Militär und die Regierung überwiegend fehlschlugen, aber dennoch hat die Terrorattacke ein großes amerikanisches Trauma verursacht. Seit dem Unabhängigkeitskrieg hatte niemand mehr die USA auf ihrem eigenen Territorium angegriffen. Da aber ideologische Gründe allein noch keine Milliardeninvestition rechtfertigen, denke ich, dass die Verbesserung der Infrastruktur, die mit der Neuplanung einhergeht (wie z. B. der neue Bahnhof nach New Jersey), die Immobilie so stark aufwerten, dass sich die absurd hohen Kosten irgendwann für die Investoren doch „rechnen“ werden. Schließlich werden allein über den Bahnhof über eine Mio potentieller Kunden aus dem Staat New Jersey erschlossen. Allerdings bleibt es für mich rätselhaft, weshalb man eine Zugfahrt unter dem Hudson hindurch unternehmen sollte, nur um in Geschäften irgendwelcher Ketten einzukaufen, die es am Wohnort ebenfalls gibt.

Bedenklich auch, wie der Terroranschlag im hochpreisigen 9/11 Museum und durch teure guided tours über das Gelände geschäftlich ausgebeutet wird. Die eigentliche Gedenkstätte – schon seit einigen Jahren fertig – ist jedoch unkommerziell: Würdig gestaltet, mit freiem Eintritt und für jeden verständlich. Auf dem Grundriss der Twin Towers wurden zwei quadratische schwarze Wasserbecken angelegt, von deren Rand Wasser in die Tiefe stürzt und in einem schwarzen Schlund verschwindet, dessen Grund nicht einzusehen ist. Auf den bronzenen Rändern der Becken sind die fast 3000 Namen der Opfer für alle Ewigkeit (wie die Inschrift besagt) eingraviert.

Zurück am Broadway gehe ich noch 300m weiter nördlich zur St. Paul’s Chapel, dem ältesten erhaltenen Gebäude Manhattans von 1766. Sie ist im englischen georgian style erbaut, hat eine tempelförmige Fassade zum Broadway und einen mehrstöckigen barocken Glockenturm nach hinten und ist von einem ähnlich stimmungsvollen Kirchhof wie die Trinity Church umgeben. Nach dem Besuch der kühlen Einkaufswelt des Oculus ist es sehr angenehm, ein Weilchen in dieser Idylle zu sitzen, die inmitten der Wolkenkratzer und des Broadway wie aus der Zeit gefallen wirkt. Wegen der Nähe zum ground zero dienen Kirche und Friedhof dem Gedenken an die unfassbaren Ereignisse von 2001 und gerade hier kann man sich in würdigem Ambiente noch einmal die Leistungen und das Leid der Feuerwehr- und Rettungsleute an diesem Tag ins Gedächtnis rufen. Im immerhin 250 Jahre alten klassizistischen Innenraum der Kirche probt gerade ein Laienorchester ein sehr fetziges Cello-Konzert, wahrscheinlich amerikanischer Herkunft, da es mir völlig unbekannt ist.

Jetzt sind es nur noch ein paar Schritte bis zur Old Town Hall, wo ich meinen Old-New-York-Walk beenden möchte. Das Gebäude wurde 1803 geplant und 1812 eingeweiht und ist das älteste aller amerikanischen Rathäuser. Es hatte zwei Vorgänger, eines an der Pearl Street aus der Zeit der Niederländer und eines an der Wall Street, wo sich heute das Federal Hall Memorial befindet. Als die Hauptstadt des Staates New York 1797 nach Albany verlegt wurde, beschlossen die New Yorker, in einer Grünanlage am Rande der Stadt ein repräsentatives neues Rathaus zu errichten, das sich von außen in französischer Neo-Renaissance und im Innern im britischen georgian style zeigt. Die Grünanlage wurde Mitte des 19. Jh. zum City Hall Park umgestaltet. Die City Hall ist auch heute noch Sitz des Bürgermeisters von New York (aktuell Eric Adams) und des City Council. Die Verwaltung für die seit dieser Zeit enorm gewachsene Stadt befindet sich allerdings im unweit gelegenen Municipal Building, einem unübersehbaren, riesigen schneeweißen Wolkenkratzer. Die historische Stadt erstreckte sich noch ein paar Straßen weiter nördlich bis zur Canal Street, der Grenze von Alt-New York.

Wie schon gesagt, endet der Broadway hier jedoch nicht, sondern durchquert (als ehemalige Ausfallstraße) ganz Manhattan schräg zum Straßenraster des 19. Jh. Dieser gitterförmige Stadtgrundriss – bereits erfunden in der Antike von Hippodamus von Milet – beginnt jenseits der Canal Street, von wo aus man im 19. Jh. das neue New York planmäßig errichtete. Mit Ausnahme des Central Park wurde ganz Manhattan von einem Netz sich kreuzender Streets und Avenues durchzogen, die keine Namen erhielten, sondern durchnummeriert wurden, nämlich 190 west-östliche Streets (beginnend im Süden) und elf nord-südliche Avenues (beginnend im Osten). Zur noch besseren Orientierung gab man den Streets zusätzlich ein E (für East) und W (für West) bei, so dass man der Adresse 7th Avenue / 47th Street W entnehmen kann, dass sie in Midtown leicht westlich gelegen ist – es ist der von den New Yorkern als Mittelpunkt der Stadt empfundene Times Square. Verglichen mit dem mittelalterlichen Grundriss europäischer Städte mit ihrem engen und krummen Straßengewirr ist das ein übersichtliches, logisches System, in dem sich der Fremde gut zurechtfindet. Er muss nur bedenken, dass auch die anderen vier boroughs genau so unterteilt sind und da es in allen fünf jeweils einen Broadway gibt, existiert auch dieselbe Adresse fünfmal. Deshalb empfiehlt es sich, bei Verabredungen wie Broadway / 42nd Street zusätzlich noch den borough anzugeben, sonst wartet der eine in Manhattan und der andere in Queens, wie es uns einmal passiert ist.

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