New York im Kaleidoskop

Inhalt

5 Immigration

New York, das Traumziel

Ein rauschendes Fest inmitten unserer russisch-jüdischen Verwandtschaft (aus Anlass des 21. Geburtstags unserer Enkelin sowie ihrer Bachelor-Verleihung) bringt mich dazu, ein wenig über Immigration nachzudenken, die Tatsache, die New York am meisten geprägt hat und es auch immer noch tut.

Aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte war die Stadt stets auf Zuwanderung angelegt. Der indigenen Bevölkerung war das urbane Leben fremd, deshalb gehörte sie von Anfang an nicht zur Einwohnerschaft und mit der Ausbreitung der Stadt wurde sie zunehmend verdrängt und später sogar ausgerottet. Das sehr erwünschte Wachstum konnte nur mit Einwanderern erreicht werden und zu den wenige hundert niederländischen Einwohnern gesellte sich schon bald eine viel größere Anzahl von Briten, nachdem die Krone die Kolonie usurpiert hatte. Die Ferne vom Monarchen, das Fehlen des Feudalsystems in der Neuen Welt und die Glaubensfreiheit bewog viele Briten, die Unterdrückung in der Heimat gegen das zwar unsichere und karge, aber freie Leben in Übersee einzutauschen. Doch erst mit der amerikanischen Unabhängigkeit wurde die Neue Welt zum bevorzugten Migrationsziel aller Europäer, die Hungersnot, Armut, Leibeigenschaft, Religionskriegen und der Rekrutierung zur Armee entkommen wollten. Die ersten Emigrationswellen kamen aus den Armutsgebieten Europas wie Norwegen, Irland und Italien, mit der Restauration nach dem Sturz Napoleons kamen Deutsche und Polen dazu, die der Unfreiheit entflohen, bis schließlich die Neue Welt generell zum Ziele aller wurde, die sich durch Auswanderung eine bessere Zukunft erhofften. Die chinesische Migration setzte erst relativ spät ein, wie ich noch im Kapitel Chinatown ausführen werde.

Russen

Nach der Oktoberrevolution kamen erstmals Russen nach Amerika, die vor Kommunismus, Enteignung und Atheismus flüchteten. Während des Stalinismus und sogar noch bis zu Gorbatschow wurde ihnen jedoch das Verlassen des Sowjetstaats verboten. Das galt aber nicht für Juden, die in ihrem Pass als Staatsangehörigkeit den Vermerk „jüdisch“ hatten. Das Sowjetsystem war nämlich gleichermaßen atheistisch wie antisemitisch und wurde durch diesen „Trick“ seine ungeliebten jüdischen Mitbürger los. Sie immigrierten – insbesondere in den 70er Jahren, als wegen amerikanischer Kopfgeldzahlungen besonders viele Visa erteilt wurden – massenhaft in die USA, wo man schon viel früher die vor der Shoah geflüchteten deutschen Juden aufgenommen hatte. Erst nach dem Untergang des Kommunismus emigrierte auch eine größere Anzahl ehemaliger Sowjetrussen, darunter Ukrainer, Weißrussen, Kaukasier und Angehörige der islamischen Sowjetrepubliken nach Amerika.

Von jüdisch-russisch wage ich im Falle „unserer“ Familie gar nicht zu sprechen, weil bei ihnen der Anteil der Religiosität beständig abnimmt. War der Urgroßvater unserer Enkelin, Arkadi, noch ein frommer Mann, der regelmäßig in die Synagoge ging, so änderte sich das in der Großeltern-Generation von Yefim und Biana bereits grundlegend. Ihnen diente die jüdische Religion in erster Linie als Vehikel, die Sowjetunion, in der man sie diskriminierte, zu verlassen. Doch zog es sie nicht ins jüdische Israel, wo Yefim seine Karriere als Zahnarzt sicherlich hätte fortsetzen können, sondern ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, dessen Begrenzungen sie sehr bald kennen lernen sollten. In New York etablierten sie sich eher als Exil-Russen, denn als Juden, weil sie aufgrund fehlender Englischkenntnisse Schwierigkeiten hatten, sich in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren. Ganz besonders New York machte es seinen Immigranten schon seit jeher viel zu leicht, einfach im Status der Nicht-Integration zu verharren, da es hier viele Stadtviertel gibt (die bekanntesten historischen sind Little Italy und Chinatown), die nur durch eine einzige Ethnie geprägt sind und wo man die Landessprache nur im Ernstfall benötigt. Für Yefim bedeutete das russische Leben in NY allerdings, seinen Beruf als Zahnarzt aufzugeben, denn die Ergänzungsprüfung für eine amerikanische Zulassung scheiterte an seinen mangelnden Englischkenntnissen. Die einzige Möglichkeit, wenigstens in seinem weiteren Berufsumfeld zu verbleiben, war eine Umschulung zum Zahntechniker, doch da er zeitlebens für russische Zahnärzte arbeitete (und das bei einem 12-Stunden-Arbeitstag) blieb auch während der Berufstätigkeit nur wenig Möglichkeit, sich sprachlich zu integrieren. Seine heimliche Tätigkeit als Zahnarzt zu Hause (mit dem Behandlungsstuhl im Wohnzimmer) änderte daran ebenfalls nichts, denn auch hier war seine Kundschaft ausschließlich russisch. Ich nehme an, dass es sich in Bianas Berufsleben als Immobilienmaklerin ähnlich verhielt, obwohl ihre Englischkenntnisse ungleich viel besser sind als die Yefims. Jetzt, wo beide nicht mehr arbeiten, sehen sie russisches Fernsehen, treffen russische Freunde und Biana führt endlose Telefongespräche mit ihren Töchtern – auf russisch! In der Generation ihrer Töchter ist die Integration endlich gelungen, denn obwohl noch in Taschkent geboren, durchliefen sowohl Julie (eigentlich Yulia) als auch ihre jüngere Schwester Yana das amerikanische Bildungssystem mit High-School-Diploma und einem anschließenden Universitätsstudium. Beide heirateten russische Männer (Julie in erster Ehe einen russischen Juden), beide stehen der jüdischen Religion aber indifferent gegenüber. Sie sind native speakers sowohl in Russisch als auch in Englisch, jedoch verliert sich erstere Fähigkeit bereits wieder bei ihren Kindern.

Da Julie in zweiter Ehe einen Deutschen heiratete, konkurrieren in ihrem Haushalt nun drei Sprachen miteinander, allerdings mit unterschiedlicher Ausprägung unter den drei Enkelinnen. Alle drei sprechen Englisch muttersprachlich und exzellent: Eden, die als Kleinkind eine russische nanny hatte, kann noch sehr gut russisch, würde aber nie ein Buch in dieser Sprache (und insbesondere in dieser Schrift) lesen, was ihre Mutter dagegen beständig tut. Deutsch lernt sie mit großer Motivation, aber mangels Anwendungsmöglichkeiten steht es bei ihr nur auf Platz drei. Erelle spricht akzentfrei Deutsch mit sehr gutem Wortschatz, verwendet aber noch gelegentlich die englische Grammatik. Deutsch zu schreiben und zu lesen wird die große Herausforderung dieses Sommers sein, wenn sie ein Medizinstudium in Berlin aufnimmt. Mit Russisch hat sie wenig am Hut, versteht aber immerhin das meiste, was die russischen Großeltern zu ihr sagen. Für Manon, die pausenlos für die Schule lernt, ist Englisch die absolute Nummer 1, ihr Deutsch, das sie wie Erelle akzentfrei spricht, ist gegenüber letztem Jahr leider geschrumpft, ob wegen der Konkurrenz von Französisch in der Schule oder mangelnder Sprachpraxis zu Hause, kann ich nicht sagen; Russisch spielt für sie keine Rolle mehr. Alle drei Mädchen sind areligiös, als Julie neulich konstatierte, Erelle sei doch jüdisch wegen ihrer jüdischen Mutter, fing sie sich folgenden Konter ein: „Und das sagt mir jemand, der mich mit pork sandwiches großgezogen hat!“

Von Julie habe ich viele Einblicke in die Denkweise der russischen Immigranten mitbekommen: Während für die Männer das Hauptaugenmerk darauf liegt, durch einen gut bezahlten Job das Leben der Familie in der Fremde in Würde aufrecht zu erhalten, liegt es bei den Müttern darin, den eigenen Kindern zu einem besseren Leben zu verhelfen, als es ihnen selbst vergönnt war. In Gesprächen russischer Mütter untereinander läuft es immer darauf hinaus, herauszustellen, was ihre Kinder bereits geschafft haben und welche Karrieresprünge noch möglich sind. Der Erfolg der Kinder (und Enkel) bestimmt das Statusgefühl der Mütter und ist deshalb nie endender Gesprächsstoff untereinander. Ebenfalls sehr wichtig ist ihnen, dass ihr Nachwuchs in der russisch-jüdischen community verbleibt und deshalb sind Ehen innerhalb dieser sehr erwünscht. Im Falle unserer Schwiegertochter ist ihre zweite Ehe mit einem Nicht-Russen (und obendrein einem Goj) für die Familie gewiss nicht unproblematisch gewesen, wir Großeltern konnten aber keinerlei Ressentiment gegenüber Vincent oder uns feststellen.

Genau wie die Immigranten anderer Ethnien neigen auch die New Yorker Russen dazu, sich in eigenen Stadtvierteln zu ballen. Das größte Russenviertel liegt in Brighton Beach auf Coney Island im Bereich des im Laufe der Jahrzehnte völlig heruntergekommenen Amüsierviertels am Atlantikstrand. Nach Abriss desselben entstanden hier vielgeschossige Plattenbauten wie in Ost-Berlin, in denen Schwarze und Immigranten billigen Wohnraum fanden. Im Verlauf der Jahre zog die schwarze Bevölkerung weg und – besonders in den 70er Jahren – kamen viele ukrainische Juden von der Krim dazu, die wie in ihrer Heimat am Schwarzen Meer auch in der Fremde am Wasser wohnen wollten. In den Straßen entlang der Hochbahn nach Coney Island entfaltet sich in der Little Odessa genannten neighborhood russisches Geschäftsleben mit originalen Lebensmittelgeschäften und entsprechender Gastronomie sowie einem großen Buchladen, in dem es jedes russische Buch in kyrillischer Schrift und eine große Auswahl an russischer Musik gibt. Heutzutage stellt die Siedlung ein aufstrebendes Viertel dar, nachdem der Verfall von Coney Island gestoppt ist und die Wohnlage direkt am Meer, noch dazu mit guter Anbindung durch die Verkehrsmittel sehr nachgefragt ist. Aber auch in Queens leben viele Russen, wie überhaupt dieser Bezirk, der größte der five boroughs of New York, überwiegend von Immigranten bewohnt wird.

Latinos und andere

Die Roosevelt Avenue am Bahnhof von Jackson Heights (der neighborhood unserer Verwandtschaft) ist fest in der Hand von Latinos (der mit 3 Mio größten New Yorker Immigrantengruppe) die sich aber noch in weitere spezielle süd- und mittelamerikanische Ethnien aufteilen: Kolumbianer, Peruaner, Venezolaner sowie Kubaner und Mexikaner. Kilometerweit reihen sich handtuchschmale Geschäfte mit immer dem gleichen Warenangebot aneinander. Jamaica, das Stadtviertel an der Endstation der E-Linie ist das Zentrum der Latino-Migranten. Eine besondere Rolle spielen die Puertoricaner, die aber nicht in Queens, sondern in Harlem und der Bronx wohnen. Aufgrund des politischen Status ihrer Heimatinsel können sie ungehindert in die USA einreisen und sind mit über 1 Mio die größte Einzelgruppe unter den Latinos in New York. Sie stehen an unterster Stelle der Migrantenhierarchie, ihr Stadtviertel El Barrio in East Harlem gilt als kriminalitätsbelastet und gefährlich. Hier herrscht ein noch niedrigerer Integrationsstand als anderswo in der Stadt und von seinen Einwohnern ist der Name für in NY wohnende Latinos abgeleitet: Nuyoricans.

Unweit der Roosevelt Avenue in Queens, in der 75. Straße, befinden sich indische und pakistanische Geschäfte und im Stadtteil Flushing gibt es ein weiteres – viel größeres – Chinatown neben dem historischen in Manhattan. Und dazu noch Viertel für Kambodschaner, Vietnamesen, Koreaner und viele andere. Alle Geschäfte tragen Geschäftsschilder in der Landessprache- und Schrift, wodurch gerade in den ostasiatischen Vierteln ein pittoresker Eindruck entsteht. Wenn wir mit der Subway von Queens nach Manhattan fahren, passiert es uns oft, dass wir die einzigen „Kaukasier“ im Wagen sind. Dieser Begriff geht auf den deutschen Anthropologen Johann Blumenbach zurück, der 1795 in seiner Schrift „Von den verschiedenen Rassen der Menschen“ alle hellhäutigen – und dadurch angeblich besonders „schönen“ – Menschen als Kaukasier bezeichnete, weil sie in Europa von der Westküste Irlands bis zum Kaukasus lebten. Der bei uns (glücklicher Weise) nicht mehr verwendete Terminus gilt in den USA weiterhin als Synonym für europäischstämmige, weiße Menschen (caucasian race) und wird z. B. auf dem Einreiseformular in die USA benutzt um Weiße von anderen „Rassen“ abzugrenzen. Aber auch sprachlich wird diskriminiert: An den Bahnhöfen in Queens hängen die Mitteilungen der Verkehrsbetriebe MTA (Metropolitan Transportation Authority) in 6 verschiedenen Sprachen aus: Englisch, Spanisch, Puertoricanisch, Russisch und in zwei ostasiatischen Sprachen, nämlich Chinesisch und Koreanisch.

Europäische Immigranten spielen in NY nicht mehr die große Rolle wie im 19. Jh.; die Deutschen (wie auch die Skandinavier) sind z. B. völlig in der amerikanischen Bevölkerung aufgegangen. Aber in Greenpoint, Brooklyn gibt es ein Polenviertel, darüber hinaus existieren überall griechische Läden und die einst größte europäische Immigrantengruppe, die Iren, werden alljährlich zum St. Patrick’s Day sichtbar, wenn allerorten irische Musik gespielt und die Spitze des Empire State Building (sowie gelegentlich auch der East River) grün eingefärbt wird. Die Wiederbelebung traditioneller irischer Volksmusik, für Europäer repräsentiert durch The Dubliners aus der irischen Hauptstadt, wurde durch die irischen Migranten in Amerika angestoßen. James (Chief) O’Neill, einst Police Superintendent in Chicago widmete sich lebenslang der Erforschung der traditionellen irischen Tanzmusik und wurde der Herausgeber der größten Sammlung irischer Reels, Jigs und Hornpipes. The Clancy Brothers and Tommy Makem aus New York waren die stilbildende Folkgruppe und wurden Vorbild für The Dubliners.

All diese genannten Ethnien bevölkern also den New York Melting Pot, eine Metapher, die seit 1908 (in einem gleichnamigen Theaterstück) beschwört, dass die Ingredienzien des Schmelztiegels New York zu einer einheitlichen Masse verschmolzen werden, dem New York Citizen. Doch dieser monokulturellen Sichtweise steht eine mutikulturelle gegenüber, weil die Realität der neighborhoods etwas anderes erzählt. Liberal Denkende, die den Vorteil nebeneinander bestehender gleichberechtigter Kulturen schätzen, möchten anstelle von melting pot lieber von mosaic, salad bowl oder noch besser vom New York Kaleidoscope sprechen.

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