New York im Kaleidoskop

Inhalt

6 Little Italy

Der originale Ort

Seit jeher sind Chinatown und Little Italy die beiden ethnischen Viertel, die als besonders typisch für das kaleidoscope gelten. Deshalb begebe ich mich voller Interesse in das Viertel um Grand Street und Mulberry Street, über der eine Neon-Reklame „Welcome to Little Italy“ hängt, bin aber bald enttäuscht, weil die (wenigen) italienischen Restaurants und Läden sehr amerikanisiert wirken und die Passanten überwiegend chinesisch aussehen, wie auch im nur ein paar Straßen entfernten Chinatown. An der Mulberry Street erinnert ein kleines Privatmuseum an das historische Little Italy und ein Gedenkstein an den ersten italienischen Siedler in New York im Jahre 1635. Die Vornamen von Peter Caesar Alberti erscheinen darauf bereits amerikanisiert, was sie zur Zeit seiner Ankunft bestimmt nicht gewesen sein dürften. Laut Inschrift ist die Italian Historic Society of America sehr stolz darauf, den 2. Juni zum „Alberti Day“ proklamiert zu haben. Offensichtlich wird der Hype um Little Italy vorwiegend von Geschäftsleuten gefördert, die „original“ italienische Restaurants betreiben und durch regelmäßige italienische Feste (Carnevale, Columbus Day, Natale) die Aufmerksamkeit der Konsumenten auf dieses Viertel lenken wollen.

Besonders skurril ist das Fest des Hl. Januarius, des Stadtheiligen von Neapel. In seiner Heimatstadt, in der er das Martyrium erlitt, hat er eine große Bedeutung durch das Wunder der Blutverflüssigung. Aufbewahrt in einer zweiteiligen Phiole wird die harzige Substanz (das angebliche Blut des Heiligen) jedes Jahr zu seinem Gedenktag flüssig und fließt vom oberen Behälter der Phiole in den unteren. Dass dieser Vorgang pünktlich erfolgt, hat für die Neapolitaner große Bedeutung; er wird von der katholischen Kirche gewissermaßen als Orakel eingesetzt, das Wahlen beeinflusst und angeblich Katastrophen verhindert, denn die ausbleibende Blutverflüssigung signalisiert, dass der Heilige mit dem Verhalten der Gläubigen unzufrieden ist und diese nur mit unbedingter Treue zur Kirche sein Wohlwollen wiederherstellen können. Mit New York hat das alles überhaupt nichts zu tun, dennoch wird hier alljährlich ab dem 19. September die zehntägige Festa San Gennaro mit einer große Prozession veranstaltet, bei der die Statue des Heiligen von St. Patrick‘s Old Cathedral (dem ehemaligen Sitz des katholischen Bischofs von NY) durch die Straßen von Little Italy getragen wird, in dem kaum noch Italiener leben. Diese haben nämlich in der zweiten und dritten Generation, nachdem sie sich geschäftlich und auch sonst integriert hatten, das Elendsviertel verlassen und sich komfortablere Behausungen in den five boroughs of New York gesucht, insbesondere in Staten Island und Queens. Für sie rückten Chinesen nach, die dadurch das benachbarte Chinatown vergrößern. Allerdings haben sie eine Vereinbarung mit den „Italienern“ getroffen, dass auf „deren“ Gebiet keine chinesischen Reklamen aufgehängt werden dürfen).

Little Italy ist eigentlich nur noch eine Reminiszenz an frühere, keinesfalls bessere Zeiten, als an diesem Ort zehntausende bitterarme Emigranten, vorwiegend aus dem rückständigsten europäischen Staat, dem Königreich Beider Sizilien, in armseligen Mietskasernen entlang der Mulberry Street hausten. Nach dem Scheitern der Parthenopäischen Republik in Neapel (dem Versuch, eine Revolution nach französischem Vorbild in Süditalien durchzuziehen) und den niedergeschlagenen Aufständen von 1830 und 1848, auf die jedesmal eine äußerst restaurative Politik und stagnierende Wirtschaft folgten, sahen viele – und besonders die Armen – als einzige Lösung die Auswanderung nach Amerika. Endlich angekommen, ließen sie sich vorzugsweise da nieder, wo schon andere Landsleute lebten und schufen dadurch dieses Stück Italien in der Neuen Welt, in dem sie nach ihren Gebräuchen lebten und weiterhin ihre Muttersprache sprachen.

Davon ist am originalen Ort nur noch eine Art Open-Air Themenpark für die italienische Immigration des 19. Jh. übrig und die italienischen Sprachfetzen, die ich hier mitbekomme, stammen ausnahmslos von italienischen Touristen. Eine Eigenheit von Little Italy wird allerdings noch lange (nicht zuletzt durch die vielen Spielfilme und Fernsehserien) im kollektiven Gedächtnis verbleiben: Die organisierte Kriminalität. Im ehemaligen Elendsviertel allgegenwärtig, orientierte sie sich am Vorbild der sizilianischen Mafia, mit der sie eng verflochten war und aus der sie ständig neue Mitglieder rekrutierte. In allen Lexikon-Einträgen über Little Italy ist die Mafia das wesentliche Thema. Anstatt die – ohnehin raren – Sehenswürdigkeiten dieses Viertels zu beschreiben, erzähle ich stattdessen lieber die Biographien von drei historischen Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Jahrhunderten, die das Leben der Italiener in New York wesentlich anschaulicher machen, als eine Beschreibung heutiger Baulichkeiten. In SOHO/Nolita, unweit von Little Italy, war ich auf den unscheinbaren Petrosino Square gestoßen, der nach einem italienischstämmigen New Yorker Polizisten benannt ist. Der Text der hier angebrachten Gedenktafel überzeugte mich sofort, dass Joseph Petrosinos Biografie alles Prototypische für das Leben italienischer Immigranten in New York enthält.

Wie der Mord an Petrosino nach 100 Jahren aufgeklärt wurde

Giuseppe Petrosino (1860 – 1909) wurde im Alter von 10 Jahren von seinen Eltern aus seinem Geburtsort Padula in Süditalien zu seinem Großvater nach New York geschickt, der jedoch bald darauf bei einem Straßenbahnunfall verstarb, so dass Giuseppe und sein mit ihm gereister Cousin eigentlich hätten ins Waisenhaus kommen müssen. Doch der mit der Einweisung befasste Richter nahm die beiden Jungen statt dessen in der eigenen Familie auf, während er nach den Angehörigen fahndete. Die Jungen bekamen durch das Leben bei ihm Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, die sie in Little Italy nie erhalten hätten. Mittlerweile waren die Nachforschungen des Richters aber erfolgreich und Petrosinos Familie gelang schließlich ebenfalls die Emigration. Zusammen mit ihrem Sohn zogen sie alle zusammen in die five cents houses in der Mulberry Street, die die Stadt für die Ärmsten der italienischen Zuwanderer bereithielt. Da hatte Giuseppe bereits längst den Entschluss gefasst, diesem Milieu durch Eintritt in den Polizeidienst zu entkommen.

In Abendkursen lernte er Englisch, wurde amerikanischer Staatsbürger, wobei er seinen Vornamen anglisierte und bewarb sich immer wieder vergeblich bei der Polizei, bis man ihn schließlich bei der Müllabfuhr einstellte, die damals zur town police gehörte. Da er verschiedene italienische Dialekte beherrschte, konnte er der Polizei häufig bei der Aufklärung von Straftaten helfen, die von Angehörigen der italian community begangen wurden. Deshalb wurde er 1883 dann doch noch beim New York Police Department (NYPD) eingestellt – als erster Italienisch sprechender Polizist und obwohl er mit 1,60 m Körpergröße eigentlich zu klein für den Polizeidienst war. Nach kurzer Ausbildungszeit im Streifendienst gewann er durch seine Leidenschaft für den Job, seinen sicheren Instinkt, seine Intelligenz und sein hohes Verantwortungsgefühl allgemeine Anerkennung. Wurde ein Verbrechen im italienischen Milieu begangen, riefen seine Vorgesetzten gerne nach dem „Itaker“ („Send for the Dago!“). Seine Erfolge machten Theodore Roosevelt, damals in der Leitung des NYPD tätig, auf ihn aufmerksam, was zu seiner Beförderung zum Detektiv führte.

New Yorks größtes Kriminalitätsproblem war in jener Zeit die „Schwarze Hand“, eine aus italien stammende mafiöse Vereinigung, die durch Morde (fast die Hälfte aller in New York begangenen gingen auf ihr Konto), Entführungen, Erpressungen und Schutzgeldforderungen berüchtigt war. Man fand Leichen in Little Italy, in Schornsteine gepresst, die in der Sommerhitze verwesten oder in Fässer verpackt, die man an irgendeiner Straßenecke abstellte, Kinder wurden entführt (an einem Tag allein 35) und immer gab es Erpressungsschreiben, die das Zeichen der „Schwarzen Hand“ trugen. Für Petrosino war diese Organisation eine Schande für alle anständigen Italiener in Amerika und zu ihrer Bekämpfung griff er zu ungewöhnlichen Mitteln, die ihn zu einem Pionier der Bekämpfung des organisierten Verbrechens machten. So bediente er sich gern der Verkleidung und tarnte sich als Klempner, Gangster, orthodoxer Jude, blinder Bettler oder katholischer Priester, um ins Milieu seiner Gegner einzudringen. Er gründete die Italian Branch als Spezialeinheit italienischstämmiger Polizisten, der es gelang, die Kriminalitätsrate in New York dramatisch zu senken. Neben Roosevelt, der dafür sorgte, dass er zum Sergeant befördert wurde, hatte er einflussreiche Unterstützer wie die Millionäre Carnegie und Rockefeller, die italienische Handelskammer und die New Yorker Börse, was zeigte, wie ernst die seriöse Geschäftswelt die organisierte Kriminalität nahm.

In seiner Freizeit hörte Petrosino gerne Opern und wie für alle Musikliebhaber seiner Zeit war Enrico Caruso sein Idol. Bei einem der Gastspiele an der Met erhielt Caruso ein Erpresserschreiben über 2000 Dollar und kam dieser Forderung sofort nach, was nach dem Bekanntwerden eine Flut weiterer Erpresserbriefe auslöste, darunter ein zweites der „Schwarzen Hand“, die ihre Forderung von 2000 auf 15.000 Dollar aufstockte. Darauf wandte sich Caruso an Petrosino, dem es gelang, die Erpresser bei einer fingierten Geldübergabe zu fassen, was ihm eine lebenslange Freundschaft mit dem Sänger einbrachte. Er galt jetzt als Berühmtheit in New York und pflegte sorgsam sein Image: Er gab sich äußerst schweigsam, lachte nie, trug immer einen langen, dunklen Mantel und als Hut eine schwarze Melone. Seine Einheit wurde in Italian Legion umbenannt und auf 30 Mann aufgestockt, ein Team von Agenten mit license to kill und der Erlaubnis, außerhalb der Gesetze zu agieren. Da die Stadt sich außerstande sah, so etwas rechtlich und finanziell zu tragen, wurde die Organisation von privaten Bürgern finanziert. Petrosino wurde zum lieutenant befördert und Präsident Theodore Roosevelt verlieh ihm für 500 Festnahmen und 2500 Ausweisungen von Kriminellen eine Ehrenmedaille.

Er hatte sich jetzt die Bosse der organisierten Kriminalität ins Visier genommen, die er mithilfe des neuen amerikanischen Einwanderungsgesetzes, das es ermöglichte, Kriminelle auch drei Jahre nach der Einbürgerung noch in ihre Herkunftsländer abzuschieben, aus den USA verbannen wollte. Sein erster Erfolg dabei war die Verhaftung des sizilianischen Paten Don Vito Cascio Ferro wegen Geldfälschung und Erpressung und dessen sofortige Ausweisung nach Sizilien. Noch auf dem Schiff schwor Cascio Ferro ewige Rache. Petrosino hatte mittlerweile Kontakte zur Polizei von Palermo geknüpft, um durch Geheimagenten Verbindungen von „Schwarzer Hand“ und Mafia in beiden Städten zu durchleuchten. Ausgestattet mit einer Liste von kriminellen Italienern in New York, deren Vorleben in Palermo er nachgehen wollte und einer Einladung der italienischen Regierung zur Überreichung eines Ehrengeschenks ob seiner Verdienste bei der Bekämpfung der italienischen Kriminalität im Ausland, bestieg er in geheimer Mission ein Schiff nach Italien. Ausgerechnet sein eigener Polizeichef plauderte in einem Zeitungsinterview diese Mission aus und als Petrosino in Palermo ankam, wusste bereits jeder davon, den das interessierte.

Über Genua, Mailand, Bologna und Rom, wo er seine Auszeichnung entgegennahm, reiste Petrosino in seine Heimatstadt Padula und besuchte seinen Bruder. Er verabredete ein weiteres Treffen mit ihm nach seiner Rückkehr aus Sizilien und begab sich dann nach Palermo. Hier traf er sich am 9.2.1909 mit dem amerikanischen Konsul, vermied aber von Anfang an den Kontakt zur einheimischen Polizei, weil er über diese haarsträubende Dinge gehört habe, wie er dem Konsul mitteilte. Am 12.3. erzählte er diesem von seiner Absicht, seine Nachforschungen über die Mafia hinaus auf die Kandidaten der kommenden Wahlen und auf Politiker und Geschäftsleute auszuweiten. Bei seiner Recherche in Palermo hatte er gelöschte Strafregister, leere Aktendeckel und komplett verschwundene Akten festgestellt. Um 19:30 dieses Tages, nachdem er einen heftigen Sturm abgewartet hatte, begab er sich auf die Piazza Marina; ob zum Essen oder zum Treffen mit einem vermeintlichen Informanten, blieb ungeklärt. Vor dem Eingang des Parks Villa Garibaldi trafen ihn zwei tödliche Schüsse in den Rücken, er selbst hatte wohl nichts befürchtet, denn seine Pistole hatte er im Hotel gelassen. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck ohnmächtiger Wut.

Trotz zahlreicher Augenzeugen konnte niemand sachdienliche Aussagen machen, aber Petrosinos Einheit in New York erhielt einen Tag später ein Bekennerschreiben der „Schwarzen Hand“, von dem aber nicht geklärt werden konnte, ob es echt war. In Palermo wurde Don Vito Cascio Ferro festgenommen, jedoch nach Präsentation eines Alibis sofort wieder frei gelassen. Noch 20 Jahre lang konnte er seine kriminellen Machenschaften in Palermo fortsetzen, in denen er weiterhin die Verbindung zur New Yorker Mafia pflegte und wohl auch die eigene Rückkehr vorbereitete. Jedoch wurde er nach seiner 70. Verhaftung – unter den Faschisten im Zuge der Aktion des „Eisernen Präfekten“ Cesare Mori gegen die „Ehrenwerte Gesellschaft“ – zu 50 Jahren Zuchthaus verurteilt, allerdings nicht für den Mord an Petrosino. Für diesen veranstaltete man in Palermo eine Trauerfeier und sandte den Sarg anschließend nach New York – ohne die Leiche einzubalsamieren, eine letzte Rache der Mafia. New York bereitete ihm eine würdige Trauerfeier in St. Patrick‘s Old Cathedral mit über 200 000 Menschen auf den Straßen. Auf dem Calvary Cemetary in Queens, wo er ein Ehrengrab erhielt, liegen auch Mitglieder der Gangsterfamilien Morello, Lupo und Terranova, die er einst bekämpfte.

Über 100 Jahre lang wurden ständig neue Vermutungen über den oder die Mörder Petrosinos geäußert, die aber immer unbeweisbarer wurden, je mehr der potentiellen Täter wegstarben. Bereits 1945, nach anderen Quellen 1943 war Don Vito im Zuchthaus gestorben, ob an einem Herzinfarkt, durch einen alliierten Bombenangriff oder durch Verdursten, ist umstritten. Aber 2014 tauchte dann doch noch eine „heiße“ Spur auf, als die italienische Polizei bei einer Aktion gegen die Mafia das Telefon eines gewissen Palazzotto abhörte. Dieser hatte in einem konspirativen Gespräch damit geprahlt, dass Petrosino auf Befehl von Don Vito durch einen Onkel seines Vaters getötet worden war. „Der Onkel meines Vaters, Paolo Palazzotto, war der erste, der in Palermo einen Polizisten getötet hat, den amerikanischen Polizisten Joe Petrosino … wir sind schließlich Gangster seit 100 Jahren!“

Die erwähnte Aktion der italienischen Faschisten gegen die sizilianische Mafia dauerte nur bis 1943. Nach dem Waffenstillstand mit den Alliierten und dem Übertritt Italiens auf deren Seite erlahmten die Anstrengungen des Staates gegen die Krake und als die Amerikaner einen geeigneten Landeplatz für die Invasion Südeuropas suchten, war es die New Yorker Mafia, die Kontakte zu sizilianischen Mafiosi knüpfte. Sie schlugen den Alliierten einen (nicht sonderlich originellen) Ort für diese Aktion vor: Die Küste bei Marsala. Dort war schon 1860 Giuseppe Garibaldi mit seiner spedizione dei mille (dem Zug der Tausend) gelandet und hatte Italien vereinigt. Auch die zweite Invasion war erfolgreich und trug dazu bei, dass sich die Mafia schnell erholen konnte. Ihre Mitglieder wurden von Leidtragenden des Faschismus nun zu antifaschistischen Widerstandskämpfern hochstilisiert und hatten schon bald ihre alte Macht wieder inne. Und auch die connection mit New York und anderen amerikanischen Städten funktionierte wieder wie ehedem.

Eine Generation vor Joe Petrosino war 1850 einer der berühmtesten Italiener nach Little Italy (und nach Staten Island) gekommen. Obwohl sein Aufenthalt nur bis 1854 währte, gibt er ebenfalls interessante Aufschlüsse über das Leben italienischer Emigranten in New York.

Was Garibaldi in New York trieb

Als Giuseppe Garibaldi im Juli 1850 in New York eintraf, waren viele seiner Anhänger, die ihn beim Anlanden begeistert begrüßten, bitter enttäuscht, weil der „Held zweier Welten“, geplagt von Arthritis, wortlos an ihnen vorüberzog. Doch wusste man genaueres 0ber die Motive seiner erneuten Emigration, konnte man den Revolutionär, der sich sowohl in Brasilien als auch in Italien stets für die Freiheit des Volkes eingesetzt hatte, gut verstehen: Zu tief saßen die Schicksalsschläge der letzten zwei Jahre, das Scheitern der italienischen Republik und der Tod seiner Frau Anita, die ihm so viel bedeutete. Nachdem er sie während seines ersten Exils in Südamerika kennen und lieben gelernt hatte, war sie seine Gefährtin bei all seinen revolutionären Unternehmungen und zog sogar mit ihm zusammen in die Schlacht! Auch das Scheitern der römischen Republik (befördert durch die Intervention der Franzosen zugunsten des Kirchenstaats) hatten sie gemeinsam durchlitten. Auf der Flucht vor den Truppen Louis Napoleons (des späteren Napoleon III.) hatte Anita 1849 versucht, Venedig zu erreichen, in dem die Revolution noch im Gange war. Aber kurz vor Erreichen des Ziels – nahe Ravenna – war sie einem Malaria-Anfall erlegen, was Garibaldi in tiefe Verzweiflung stürzte. Er verließ Italien ein weiteres Mal und bemühte sich zunächst um die Sicherung seines Lebensunterhalts. Eine Beteiligung an einem Handelsschiff (dessen Kommando er ebenfalls übernehmen sollte) war ihm adäquat erschienen, doch zerschlugen sich diese Pläne bald.

So setzte er als einfacher Passagier auf der „Waterloo“ von Liverpool in die Neue Welt über. Einen gewissen Trost wird ihm das Faktum verschafft haben, dass das englische Schiff nach dem Ort der Niederlage Napoleons I., des Onkels seines Widersachers, benannt war. In New York kam er zunächst bei einem Signor Pastacaldi unter, der am Irving Place in Little Italy lebte. Garibaldi bewohnte zwei Zimmer in dessen Wohnung, ein Schlafzimmer mit Waschtisch und einem Eisenbett, auf dem drei Matratzen lagen und ein Wohnzimmer mit einem Hirschgeweih an der Wand. Die skurrilen Züge seines Charakters kommen hier zum Vorschein: Dieses Geweih schleppte er stets mit sich, damit es ihn vor dem „bösen Blick“ seiner Feinde beschütze. Auch besaß er einen Papagei, dem er mit viel Geduld beigebracht hatte: „Viva Italia, fuori le stranieri!“ (raus mit den Fremden[Besetzern]) zu rufen. Auf seiner Stange sitzend skandierte der gelehrige Vogel den Slogan jedes Mal, wenn jemand das Zimmer betrat. Seine Zeit verbrachte der Revolutionär mit Schreiben, für die Freizeit hatte er sich ein kleines Angelboot gekauft, das er in den italienischen Nationalfarben bemalte und nach Ugo Bassi benannte, einem revolutionären Priester aus seiner Zeit in Italien.

Sein Wohnungswechsel von Little Italy nach Staten Island erklärt sich wohl aus seiner prekären Lage, denn er hatte am Ort seines Asyls keinerlei Einkünfte. Gut, dass er auf Antonio Meucci traf, einen Tüftler und Emigranten aus Florenz, den sein Engagement für den italienischen risorgimento ebenfalls in die Neue Welt vertrieben hatte. Dieser lud ihn in sein Haus auf Staten Island ein, wo er mit seiner 14-köpfigen Familie lebte und wo sie zunächst gemeinsam eine Salamifabrik betrieben. Der Ex-General musste das Fleisch ausbeinen und für die Wurstmasse kleinschneiden. Einmal schnitt er sich dabei in den Finger und obwohl dieser stark blutete, setzte er ungerührt seine Arbeit fort, so dass sein Blut den Salamiteig färbte, was er damit kommentierte, dass er dabei sei, eine „revolutionäre Salami“ herzustellen. Wie wenig er diesen Job schätzte, wird aus einer Notiz deutlich, die er verfasste, nachdem Meucci die Wurstherstellung aufgegeben und eine Stearinkerzenfabrik eröffnet hatte: „Verdammt sei die Salami, gesegnet die Kerzen, Gott rette Italien, wenn er kann!“ Die sich wandelnden Verhältnisse in Europa riefen Garibaldi 1854 nach Italien zurück, wo ihm sein Lebensziel, die Einigung seines Vaterlandes, dann doch noch gelang. Er hätte sich auch in den USA unsterblich machen können, denn Abraham Lincoln forderte ihn später auf, an seiner Seite im amerikanischen Bürgerkrieg mitzukämpfen. Der Präsident ging aber auf Garibaldis Forderung, die Abschaffung der Sklaverei zum Kriegsziel zu machen, nicht ein und somit unterblieb Garibaldis dritte Reise nach Amerika.

Zwei Generationen vor Garibaldi war 1805 bereits ein berühmter italienischer Künstler nach New York gekommen, doch erregte das hier, abseits der europäischen Kunstzentren, wenig Aufsehen. Aber die 33 Jahre, die er bis zu seinem Lebensende hier noch verbrachte, spiegeln anschaulich die Bedingungen, unter denen emigrierte Künstler in New York leben mussten.

Warum Lorenzo Da Ponte Gemüse verkaufte

Lorenzo Da Ponte wurde 1749 als Emanuele Conegliano in Céneda im Veneto geboren (seit der italienischen Einigung heißt der Ort Vittorio Veneto). Er entstammte einer alteingesessenen jüdischen Familie und da Juden damals keine Nachnamen trugen, fungierte der Name seiner Herkunftsstadt Conegliano als solcher. Sein verwitweter Vater Geremia, ein Gerber und Lederhändler, wollte sich nach langer Witwerschaft mit einer Christin wiederverheiraten und konvertierte deshalb mit seinen drei Söhnen zum Katholizismus. Dem Brauch der damaligen Zeit folgend, gab der taufende Bischof Lorenzo da Ponte der Familie seinen Nachnamen und dem ältesten Sohn des Konvertiten sogar seinen vollen Namen, wohl auch, um sich selbst den Gewinn neuer Seelen für die katholische Kirche zuzuschreiben. Allerdings mussten die neugetauften Da Pontes das Adelsprädikat „da“ groß schreiben, da die Kleinschreibung dem „echten“ Adel vorbehalten blieb. Durch die Taufe hatte der bis dahin ungebildete junge Lorenzo die Möglichkeit, die Lateinschule seiner Stadt zu besuchen und als nach dem Tod des Bischofs die finanzielle Unterstützung ausblieb, entschloss er sich, Priester zu werden und machte dabei schnell Karriere: 1769 Eintritt ins Priesterseminar in Portogruaro, 1770 Lehrer für Rhetorik dortselbst, 1772 stellvertretender Direktor und 1773 die Weihe zum Priester. Das zölibatäre Leben und die strengen Regeln des Priestertums entsprachen indes nicht seiner Lebenseinstellung, deshalb entzog er sich der Kontrolle und dem engstirnigen Klima von Portogruaro durch einen Umzug nach Venedig.

Hier verkehrte er im Milieu der Glücksspieler und hatte eine dramatische Liebesaffäre, doch ehe ihm das als Priester gefährlich werden konnte, erhielt er eine Anstellung als Lehrer für klassische Literatur im benachbarten Treviso. Als Lehrmaterial verfasste er dort einen (sicherlich von Jean-Jacques Rousseau beeinflussten) Zyklus lateinischer und italienischer Gedichte über den Gegensatz zwischen Natur und Gesellschaftsordnung, der die Inquisition auf ihn aufmerksam machte. Aufgrund ihres Berichts entzog ihm die Serenissima 1776 die Lehrbefugnis für die gesamte venezianische Republik. Daraufhin kehrte Da Ponte nach Venedig zurück und setzte sein Lotterleben fort. Zeitweilig in einem Bordell lebend, übergab er, wie schon sein Vorbild Rousseau, zwei Kinder, die er mit seiner Geliebten gezeugt hatte, dem Waisenhaus. Das Verhältnis eines Geistlichen mit einer verheiratete Patrizierin war dann selbst in der freizügigen Hauptstadt zu starker Tobak, zumal er sich auch im Kreise verdächtiger Literaten und Freigeister wie Casanova bewegte. Man klagte ihn 1779 wegen Ehebruchs und Konkubinats an und noch bevor ihn eine Strafe auf Kerkerhaft oder Verbannung aus der Republik Venedig ereilen konnte, setzte er sich ins benachbarte, aber habsburgische Görz (Gorizia) ab.

Der italienische Hofkomponist Kaiser Josephs II., Antonio Salieri, damals viel berühmter als Mozart, vermittelte dem Landsmann schließlich 1783 eine Stelle als Textdichter für das italienische Theater in Wien. Aufgrund der Gunst des Kaisers machte er in der Hauptstadt schnell Karriere als Autor, Dramaturg, Programmmacher, Besetzungschef und Regisseur, obwohl er kein einziges dieser Metiers je studiert oder vorher betrieben hatte. Aber auch sein skandalträchtiges Privatleben setzte sich nahtlos fort: Bei einem Anschlag aufgrund einer Liebesintrige wurde ihm Säure verabreicht, wobei er alle Zähne verlor. Richtig berühmt wurde er, als er sich mit Mozart zusammentat und die Libretti für die drei „Da-Ponte-Opern“ Le nozze di Figaro (1786), Don Giovanni (1787) und Così fan tutte (1790) schrieb. Über 40 weitere Libretti für verschiedene Komponisten machten ihn schließlich zu einem der bedeutendsten Künstler dieses Genres. Doch seine Karriere in Wien endete 1791 nach dem Tod seines Gönners abrupt aufgrund höfischer Intrigen. Unter Josephs Nachfolger Leopold II. wurde er aus den kaiserlichen Diensten entlassen.

Da an eine Rückkehr in die Republik Venedig immer noch nicht zu denken war, begab er sich ins benachbarte Triest und setzte dort seine Tätigkeit als Librettist fort, jedoch mit nur mäßigem Erfolg. Aber er lernte die 20 Jahre jüngere Engländerin Nancy Grahl kennen, die für 40 Jahre die Frau an seiner Seite bleiben sollte und die ihn bewog, sein Glück doch lieber in London zu versuchen. Über Prag (wo er den ihm wesensverwandten Casanova besuchte) und Dresden reiste er in die britische Hauptstadt, unterrichtete dort Italienisch und schrieb weiterhin Libretti. Am King‘s Theatre am Haymarket, dem Haus für die italienische Oper, fand er eine Anstellung, gleichzeitig führte seine Frau das angeschlossene Gasthaus. Noch 28 Werke mit seinen Texten wurden aufgeführt, aber insgesamt ließ die Beliebtheit der opera buffa, für die sein Name stand, nach und das Theater ging 1804 pleite. Hinzu kamen andere finanzielle Schwierigkeiten: Da Ponte hatte sich bei seinen windigen Geldgeschäften für ungedeckte Wechsel eines Parlamentariers verbürgt und jetzt rückten ihm die Gläubiger auf den Hals. Nancy beschloss daraufhin, sich mit den gemeinsamen vier Kindern nach Amerika abzusetzen, ein Jahr später folgte er ihr nach und ließ sich zunächst in Sunbury/Pennsylvania und dann in New York nieder.

An eine Fortsetzung seiner künstlerischen Tätigkeit war im kulturlosen New York nicht zu denken. Aber wie immer in seinem bisherigen Leben zeigte er sich flexibel und versuchte sich mit verschiedenen geschäftlichen Unternehmungen, so als Tabak- und Branntweinhändler und als Besitzer eines Obst- und Gemüseladens in der Bowery. Über seine Tätigkeit als Privatlehrer für Italienisch gelang es ihm dann, allmählich wieder Anschluss an das intellektuelle Leben zu finden. 1825 wurde er zum (allerdings unbezahlten) ersten Professor für italienische Literatur am Columbia College in New York ernannt und produzierte – wie immer geschäftlich wenig erfolgreich – in seiner eigenen Verlagsbuchhandlung eine Reihe von Büchern, darunter seine Memoiren, durch die wir so gut über sein wechselvolles Leben informiert sind. Bis zu seinem Lebensende setzte sich Da Ponte vehement für die Verbreitung der italienischen Sprache, Literatur und Musik in Amerika ein und der große Erfolg des ersten US-Gastspiels einer europäischen Operntruppe mit seinem „Don Giovanni“ entfachte die Begeisterung für sein altes Metier aufs Neue. Er warb um Sponsoren für den Bau des italienischen Opernhauses in New York, das an Pracht alle Theater der Stadt weit übertreffen sollte, steckte selbst viel Geld hinein und erlebte die feierliche Eröffnung im Jahr 1833. Doch schon am Ende der ersten Spielzeit ging es pleite (und brannte dann auch noch ab) – charakteristisch für so vieles in Da Pontes Leben.

Er war jetzt eine New Yorker Berühmtheit und nachdem er am 17. August 1838 in seiner New Yorker Wohnung in der Spring Street 91 gestorben war, trug ihn eine gewaltige Trauergemeinde zu Grabe. Seine Begräbnisfeier wurde 1838 mit großem Pomp am Sitz des katholischen Bischofs von New York, St. Patrick‘s Cathedral (heute St. Patrick’s Old Cathedral) begangen. Dort sollte ihm auch ein würdiges Grabmal errichtet werden, was aber nie in die Tat umgesetzt wurde. Sein Grab ist heute unauffindbar, da es irgendwo unter den Häusern der 11th Street liegt, wo sich früher der katholische Friedhof befand.

Ein italienischer Tag in Lower Manhattan

Dieser kleine Spaziergang nach Greenwich Village kam durch unsere Liebe zu Italien zustande. Bei Barnes & Noble, einem 4-stöckigen Buchladen am Union Square (den Platz werden wir auch noch in anderem Zusammenhang besuchen) wollten wir für unsere Schwiegertochter Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman „Il Gattopardo“ (allerdings auf englisch) kaufen, da sie am Vorabend so interessiert auf die Beschreibung meines italienischen Lieblingsbuchs reagierte. Die renommierte Buchhandlung, bekannt durch ihre Riesenauswahl, liegt in einem schönen alten Backsteingebäude, dessen hohe Hallen durch gusseiserne Säulen unterteilt sind. Mir fällt auf, dass die Literatur-Abteilung in der 4. Etage verortet ist, während man Krimis, Kochbücher, Teen-Literatur und Schallplatten ohne Treppensteigen bequemer in den unteren Geschosse kauft. Aber wer sich (selbstverständlich per Rolltreppe) in den Parnass der Literatur hocharbeitet, findet das gemütliche, zum Haus gehörige Lese-Café ebenfalls hier oben. Es ist wenig frequentiert und während ich mich auf die Suche nach meinem italienischen Dichter-Heros mache, vertieft sich Renate dort in ein Frauenpower-Magazin. Der Autor ist nicht einfach zu finden, weil er im Regal nicht, wie an der Information angekündigt, unter L wie Lampedusa einsortiert ist. Eigentlich war auch das das schon falsch, weil sein Familienname, der Name einer berühmten sizilianischen Adelsdynastie (mit dem heilig gesprochenen Kardinal Giuseppe Maria Tomasi in der Ahnenreihe) eben Tomasi lautet und nicht Lampedusa, der Name seines Herrschaftsgebiets. Ich finde ihn schließlich unter d für di, dem unwichtigsten Bestandteil seines so langen Namens! Auf dem Buchcover ist der Autorenname zu Giuseppe di Lampedusa verballhornt, der englische Titel ist „The Leopard“ und im immerhin sehr ausführlichen preface des Buches findet sich keinerlei Hinweis darauf, dass ein gattopardo kein leopard ist, sondern eine Pardelkatze, alles kleine Indizien für amerikanische Ignoranz. Da der Laden free wifi hat, daddeln wir noch ein wenig herum, bevor wir uns auf den Weg zum Washington Square machen. Die Gegend ist von Gebäuden der New York University geprägt und gehört zum Stadtviertel Greenwich Village.

Garibaldi im Park

Im nahegelegenen Washington Square Park, einer Schöpfung des in New York mehrfach vertretenen österreichischen Gartenkünstlers Ignatz Anton Pilat, steht ein martialischer Garibaldi in Bronze, wild entschlossen den Säbel zückend. Wie wir bereits wissen, lebte der Freiheitsheld nach der gescheiterten Revolution in Italien für einige Jahre in New York. Da die mitgliederstarke Italian Community New Yorks so fern der Heimat unbedingt eine Identifikationsfigur brauchte, sammelte sie Geld für die Aufstellung eines Garibaldi-Denkmals in diesem Park. Der Bildhauer Turrini konzipierte es als ebenerdig stehende dreifigurige Gruppe, wobei der Revolutionär auf einem unregelmäßigen Felsuntergrund platziert war. Wegen ständig steigender Kosten entschloss sich die genervte Stadt, es während einer Europareise des Künstlers in reduzierter Form einfach aufzustellen – als Einzelfigur auf einem hohen Marmorsockel! Da Garibaldis Fußstellung zu der neuen Aufstellung nicht mehr passte, sägte man die Füße einfach ab und passte das ganze – jetzt kompatibel mit der geraden Sockelplatte – ziemlich brutal an. Der zurückgekehrte Künstler war entsetzt über die „Amputation“ seines Kunstwerks und die jetzt so unnatürliche Haltung des Volkshelden, dass er eine Neuanfertigung des Denkmals auf eigene Kosten anbot, doch die Stadt ging nicht darauf ein. Und mittlerweile, 140 Jahre später, hat sich die Aufregung über diese „Denkmalsschändung“ gelegt.

Links vom Denkmal grüßt ein sehr italienisch aussehender campanile (gleich denen der römischen mittelalterlichen Kirchen) durch eine Lücke der Parkbäume. Er stammt von 1895 und gehört zur Judson Memorial Church, ein an ihr angebrachtes Schild behauptet jedoch, dieser fake-style sei byzantinisch. Der Namensgeber der Kirche, Adoniram Judson wirkte als baptistischer Missionar in Burma und hatte weder mit Italien als auch mit Byzanz irgend etwas am Hut! In der Mitte des Washington Square steht ein Triumphbogen, ähnlich dem in Ancona, dessen Öffnung – bei entsprechender Platzierung des Fotografen – gut als Rahmen für das Empire State Building taugt, das einige Meilen entfernt in midtown steht. In der entgegengesetzten Richtung rahmt eine enge Greenwich-Village-Straße das ebenso weit entfernte One World Center ein. Wenn auch „echtes“ Italien anders aussieht und sowieso mit Amerika nicht vergleichbar ist, so ist dieser italienisch inspirierte Spaziergang (den man auch gern mit einem Besuch von Little Italy oder dem Petrosino Square verbinden kann) für uns eine schöne kleine Neuentdeckung in New York.

Gefällt Dir der Beitrag? Dann teile ihn!