22 New York am Meer
Liegt New York am Meer? Aber natürlich, denn es ist eine bedeutende Hafenstadt, seine Wirtschaft ist seit Jahrhunderten auf das Meer ausgerichtet, seine Bewohner kamen aus Übersee und gehen im Sommer im Meer baden. Aber irgendwie auch nicht, denn im Stadtgebiet finden wir nur Flüsse: den Hudson, den Harlem und den East River, sowie eine rundum vom Land umgebene Bucht, die Upper Bay. Wenn man in South Ferry oder Red Hook auf die weiten Wassermassen hinausblickt, glaubt man nur, sich am offenen Meer zu befinden, aber dieses liegt weit draußen, ca. 50 km entfernt und die Stadt ist durch die Upper Bay und auch noch die Lower Bay von ihm getrennt. Überdies riegelte sich das gewaltig wachsende New York des 19. Jh. mit seinen Industriebauten vom Wasser geradezu ab. Überall in Manhattan, Brooklyn und Queens war die Wasserseite von Speichern, Docks, Fabriken und Hafenanlagen zugestellt. Dieser Fehlentwicklung wird zwar durch die aktuelle Umstrukturierung begegnet, bei der man die Uferzonen durch hochwertige Wohnbebauung und Parks wieder zurück gewinnt, aber trotzdem muss man auch heute weite Wege zurücklegen, um in New York wirklich ans Meer zu gelangen und diese möchte ich in diesem Kapitel gehen.
Coney Island
Am einfachsten kommt man zum Baden im Meer, wenn man mit der Subway nach Coney Island fährt. Zwar liegt diese Sandbank im Süden Brooklyns noch in der Lower Bay und ist überdies teilweise durch die Halbinsel Rockaway vom offenen Meer abgeschirmt, aber ihre ausgedehnten Sandstrände und der Massen-Badebetrieb im Sommer vermitteln schon den Eindruck eines richtigen Seebads. Zur Zeit der Stadtgründung durch die Niederländer war die heutige Halbinsel noch eine echte Insel, die durch den Coney Island Creek vom Festland getrennt war; im Nordosten und Nordwesten der Halbinsel sind noch Reste davon erhalten. Die Niederländer gaben ihr den Namen Conyne Eylandt, Kanincheninsel, woraus sich später der heutige Name entwickelte. Nachdem 1824 die erste Brücke den Creek überspannte, kamen um 1830 auch die ersten Touristen und ein Hotel entstand, das vorwiegend von gut betuchten New Yorkern frequentiert wurde. Sie kamen mit der eigenen Pferdekutsche, was einen halben Tag in Anspruch nahm, deshalb nahm der Tourismus erheblich zu, als eine Dampfschifflinie nach Manhattan in Betrieb genommen wurde. Dies wiederum führte zu weiteren Investitionen, wobei eine breite Strandzone angeschüttet wurde, weil der Coney Island vorgelagerte Breezy Point eine natürliche Sandvorspülung verhinderte.
Der ständig steigende Tourismus führte zur Gründung von Brighton Beach, einer Gemeinde im westlichen Coney Island. William A. Engelman, ein Kriegsgewinnler des amerikanischen Bürgerkriegs, hatte für quasi ein Trinkgeld ein großes Strand-Grundstück erworben, das er unter dem Namen des englischen Seebads Brighton, dem populären Erholungsziel der British Royalty and der Aristokratie, vermarktete. Dem Bau der ersten Eisenbahnlinie, die Tagestouristen aus Brooklyn heranschaffte, folgten bald zwei weitere, die zusammen mit der Landstraße, dem Ocean Parkway und der Dampferlinie, für die Engelman eine große Pier errichten ließ, zum weiteren Aufschwung beitrugen. Damit die Touristen auch über Nacht blieben, baute er 1871 das Ocean Hotel, das direkt über den Ocean Parkway erreichbar war. Zum Hotel gehörte eine 1878 eingeweihte Badeanstalt, der Grand Brighton Beach Bathing Pavilion and Ocean Pier für 1,200 Badegäste. Der Badebetrieb unterschied sich gewaltig vom heutigen, denn die vornehme Kundschaft begab sich im teuren „Badekostüm“ an die Wasserlinie, plantschte und spritzte dort mangels Schwimmkenntnissen ein wenig herum und frönte anschließend – wieder standesgemäß bekleidet – den Vergnügungen, die der Unternehmer für sie bereitstellte. Juden und Schwarze (von denen viele die Halbinsel bewohnten) blieben vom Badebetrieb ausgeschlossen und die reichlich vertretene Polizei achtete peinlich genau auf die Einhaltung der guten Sitten und den korrekten Schnitt der Bademode.
Der Eisenbahnmagnat Austin Corbin beschloss nach einem Besuch in Engelmans Etablissement diesem Konkurrenz zu machen und erwarb ein eigenes Strandstück, das er Manhattan Beach nannte, wohl um vorwiegend reiche New Yorker anzulocken. Hier errichtete er das damals luxuriöseste Strandhotel für 1.500 Gäste mit eigenen Läden und Feinschmeckerrestaurants, das direkt von seiner eigenen Bahnlinie bedient wurde. Ex-Präsident Ulysses S. Grant war unter den Eröffnungsgästen und der berühmte Militärkomponist Sousa, der Erfinder des Sousaphons, dirigierte das Orchester. Das ließ William A. Engelman nicht ruhen und er reagierte darauf mit Gründung eines Konsortiums, das 1878 das Brighton Beach Hotel errichtete. Der riesenhafte Holzbau direkt am Strand sprengte alles bisher dagewesene: 5000 Gäste sollten täglich die Badeanstalt, die Läden und Restaurants, sowie die Luxuszimmer des Hotels frequentieren.
Schon zehn Jahre später war das Hotel vom Untergang bedroht: Die See trug die Strandlinie vor dem Hotel beständig ab und es lief Gefahr, vom Wasser verschlungen zu werden. Doch Engelmans Sohn ließ parallel zur Wasserlinie über die gesamte Breite des Gebäudes Schienentrassen verlegen und zog das komplette Bauwerk mithilfe von Dampflokomotiven mehrere hundert Meter landeinwärts. Eine solche Hybris trug gewiss bereits den Keim des Verfalls in sich. Doch zunächst musste erst einmal das Unterhaltungsangebot für die riesigen Menschenmengen ausgeweitet werden: Neben der Brighton Beach Music Hall und einem Theater entstanden Pferde- und Hunderennbahnen, auf denen die männliche Kundschaft ihrer Wettleidenschaft frönen konnte. Käufliche Damen hatten hier eine gute Gelegenheit, sich an ihre Kundschaft heranzupirschen und gemeinsam mit aus dem Boden schießenden Spielcasinos und Revuetheatern verlor Brighton Beach allmählich seinen aristokratischen Charakter. Bei sinkenden Preisen – um die vielen Zimmer überhaupt loszuwerden – bekamen jetzt auch andere als die gewohnten Kunden Zugang zum Hotel, was viele der Stammkunden vertrieb und den Niedergang dieser Freizeitgestaltung der besseren Kreise beschleunigte. Ein Gesetz gegen Pferde- und Hunderennen-Wetten gab dem Ganzen den Rest.
Paradoxer Weise nahm der Run auf Coney Island jedoch noch zu, nachdem die ärmeren Schichten entdeckt hatten, dass man mit den neu erbauten Bahnen bereits für einen Nickel (5 Cent) an die See fahren konnte. Aus dem Programm für die nun massenhaft einströmenden armen Tagesbesucher entwickelte sich das Nickel Imperium, ein Kompendium von Billig-Angeboten an Jahrmarkt-Attraktionen wie Glücksspiel an Automaten, Fressbuden, Fahrgeschäften und Kuriositäten wie Dr. Couneys Säuglingsinkubatoren (die aus einer Rummelattraktion zu einem seriösen medizinischen Gerät wurden), einer Zapfanlage in Gestalt einer „Kuh, der nie die Milch ausgeht“ oder der ersten Rolltreppe von 1895, die als inclined elevator (schräger Aufzug) eine Höhe von 2,10 m am Eisernen Pier bewältigte. Auch exotische Tiere wie Löwen, Kamele oder Elefanten gab es zu sehen, sowie die berüchtigten Monstrositätenkabinette, in denen gegen Eintrittsgeld deformierte Menschen zur Schau gestellt wurden. Im „Congress of the World’s Greatest Living Curiosities“ waren etwa riesen- und zwergwüchsige Menschen und die „Frightfully Fat Lady Trixy“ mit angeblichen 311 Kilo Körpergewicht ausgestellt. Berühmt war auch die „Halbdame Violetta“, die, ohne Gliedmaßen zur Welt gekommen, sich alleine anziehen und ihre Haare zurechtmachen konnte. Alle Attraktionen gruppierten sich in drei großen amusement parks: Steeplechase Park, Luna Park und Dreamland, wovon Steeplechase eine längere Lebensdauer hatte (von 1897 bis 1964), die anderen beiden jedoch durch Brand und Pleite schon im ersten Drittel des 20. Jh. wieder verschwanden.
Zur gleichen Zeit verfielen auch die Hotelpaläste, wurden nach und nach abgerissen und durch vielgeschossige Wohnungsbauten ersetzt, in die aber aufgrund des schlechten Rufs von Coney Island nur eine unterprivilegierte Klientel einzog. Aus den Bahnlinien waren in den 20er Jahren Subwaylinien geworden und die Station Coney Island – Stillwell Avenue wurde mit acht Gleisen zum weltgrößten Subway Bahnhof, heute halten hier die vier Linien D, F, N und Q. An den Wochenenden kamen an diesem Bahnhof Tausende an, die die Vergnügungsparks mit ihren Attraktionen wie dem Riesenrad, einer gigantischen Achterbahn und einer Vielzahl von neu entwickelten Fahrgeschäften besuchten. Der bauliche Wildwuchs und die zunehmenden sozialen Probleme riefen Stadtplaner wie den berühmt-berüchtigten Robert Moses auf die Szene, der Coney Island einen radikalen facelift verordnete. Er kaufte auf eigene Kosten den Strandabschnitt der Halbinsel und schenkte ihn der Stadt. Unter seinem Chef Fiorello LaGuardia wurde die ganze Halbinsel Planungsgebiet der Stadt, die mit menschenfreundlichen Absichten, aber ohne großen Erfolg ein Erholungsgebiet und gleichzeitig billigen Wohnraum für Minderbemittelte schaffen wollte. Es entstanden riesige Badeanstalten mit bathhouses, der Boardwalk, eine 3,5 km lange Promenade, die Strände wurden vergrößert, Buhnen und Dämme gebaut und dahinter gewaltige Blöcke mit Sozialbauten. Den Coney Island Creek schüttete man zu und bebaute ihn mit einem parkway, einer autobahnähnlichen Straße, wie sie Moses so schätzte. Auch ein Teil der Vergnügungsanlagen wurde restauriert, aber alles war kostenpflichtig, was sich die Bevölkerung während der großen Depression überhaupt nicht leisten konnte. So sparten die Besucher durch mitgebrachtes Essen und Trinken, zogen sich in Privatwohnungen um und kehrten in der Subway als drippers – mit den nassen Badesachen unter der Kleidung – wieder heim. Das Gewerbe litt unter diesem Verhalten, viele gingen pleite und mit der Zeit geriet ganz Coney Island in einen desaströsen Zustand des Verfalls, der von vielen Künstler-Fotografen dokumentiert wurde. Durch die zunehmende Wasserverschmutzung brachen Krankheiten aus und brachten auch den Badebetrieb zum Erliegen.
Heutzutage hat sich das Viertel ein wenig erholt und bei unserem Besuch sieht es gar nicht mehr so gruselig aus, da die meisten Ruinen des Vergnügungsparks beseitigt wurden. Durch Kläranlagen hat sich die Wasserqualität wieder verbessert und die Strandzone sieht aufgeräumt aus. Es entstanden ein neuer, deutlich kleinerer Luna Park, die Riesen-Achterbahn Cyclone, der Astro Tower und Deno’s Wonder Wheel. Robert Moses hatte bereits in den 50er Jahren dafür gesorgt, dass neue Attraktionen Coney Island aufwerteten: Das New York Aquarium erhielt hier seinen Sitz, der KeySpanPark entstand als Stadion für das Farmteam der NY Mets, aber auch für Konzerte und ein Wahrzeichen der Stadt, der Parachute Jump, kam vom verfallenen Ausstellungsgelände in Flushing hier an den Strand. Der 76 m hohe Turm diente während der ersten Weltaustellung als Fallschirm-Sprungturm und war das einzige nicht militärische Objekt dieser Art. Nach der Ausstellung kaufte ihn der Betreiber des Steeplechase Park und ließ ihn in Coney Island wieder aufstellen, wo er das Schicksal des Vergnügungsparks teilte. Das Fallschirmspringen wurde eingestellt und der Abriss des heruntergekommenen Bauwerks erwogen. Doch glücklicher Weise erkannte man noch rechtzeitig den Wert des „Eiffelturms von Brooklyn“ und setzte ihn auf die Denkmalliste. Fallschirmabsprünge gibt es aus Sicherheitsgründen zwar keine mehr, aber er dient jetzt dem „ball drop“ in der Silvesternacht und wird durch tausende kleiner Lampen illuminiert. Die Halbinsel zerfällt heute in die vier Neighborhoods Manhattan Beach, Brighton Beach, Seagate und Coney Island. (Von O nach W).
Brighton Beach als multikulturelles Viertel ist jetzt die Hauptattraktion: Die ersten Zugezogenen waren Flüchtlinge aus Europa, die vor dem Europäischen Faschismus in den 1930er und 1940er Jahren geflohen waren, aktuell besteht die Gemeinde allerdings zum größten Teil aus russischen und ukrainischen Juden, welchen (gegen Kopfgeld!) seit den 1970er und 1980er Jahren die Ausreise aus der Sowjetunion gestattet wurde. Das Straßenbild der Sitwell Road ist durch viele russische Restaurants und Läden aller Art geprägt, was dem Viertel zugleich den Beinamen Little Odessa eingebracht hat. Es wird kolportiert, dass sich die Juden aus Odessa bevorzugt hier am Meer niederließen, weil sie das an ihre alte Heimat erinnerte. Neben den russischen Einwanderern gibt es in Brighton Beach aber auch noch Georgier, Armenier, Pakistani, Afghanen, Polen, sowie Schwarze, Hispanics und Türken in den Neighborhoods weiter westlich. Ihre massenhafte Unterbringung auf Coney Island (und Rockaway Beach) geht auf die Stadtentwicklungspolitik von Robert Moses zurück, der neue Sozialsiedlungen bevorzugt am Stadtrand errichten ließ, wo der Baugrund noch billig war.
„Kein Omelett ohne Eier zu zerschlagen“
An dieser Stelle drängt sich ein Exkurs über Robert Moses auf, den einflussreichsten Chefplaner New Yorks über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren. In Fachkreisen verglich man seine Bedeutung stets mit der von Baron Haussman, dem Schöpfer des modernen Paris. Aber obwohl für einen großen Teil des heutigen Erscheinungsbildes von New York verantwortlich, geriet er im Laufe der Zeit weitgehend in Vergessenheit. Als Sohn deutsch-jüdischer Eltern 1888 in Connecticut geboren, wuchs er in Manhattan auf und studierte in Yale, Oxford und Harvard; seine Karriere begann er als Chef kleinerer Bauprojekte. 1934 wurde er von Bürgermeister LaGuardia zum Parkbeauftragten berufen und behielt diesen Posten bis 1960. Von 1934 bis 1968 leitete er zusätzlich noch die Triborough Bridge Authority, zuständig für Hunderte von Großbauprojekten. Über Jahrzehnte war er in vorderster Front für Städtebau, Sozialwohnungsbau und das größte „Slum-Beseitigungsprogramm“ der USA verantwortlich, dazu kamen noch zahllose Straßen, Brücken, Tunnel, Parks und Gebäudekomplexe, ohne die New York heute undenkbar wäre. Darunter befinden sich die Verrazzano Bridge, die Triborough Bridge, der Brooklyn-Battery Tunnel, der Long Island Expressway, der Battery Park, das Gelände der Weltausstellungen 1939 und 1964 in Flushing, das Lincoln Center und das Uno-Hauptquartier am East River. Massenhaft genutzte Spielplätze, Schwimmbäder und Strandanlagen, von denen die New Yorker keine Ahnung haben, wem sie sie verdanken, gehörten ebenfalls zu seinem Programm. Kompromisslos und diktatorisch übte Moses seinen Job aus und überlebte dabei fünf Bürgermeister politisch. Der Masterplaner, der am liebsten mit Luftbildern arbeitete, wird heute überwiegend kritisch gesehen: Rund 500.000 Menschen wurden aus ihren (zugegebener Maßen verfallenen) Sozialwohnungen vertrieben und der Neubau von 1009 Kilometern Highways ist mit verantwortlich für das heutige Verkehrschaos in der City. Sätze wie „Städte wurden von und für den Verkehr geschaffen“ und „Du kannst kein Omelett herstellen, ohne Eier zu zerschlagen“ waren typisch für seine Denkweise und erleichtert kann man konstatieren, dass einige seiner stadtzerstörendsten Projekte unverwirklicht blieben, wie der Mid-Manhattan Expressway, ein sechsspuriger Highway auf Betonstützen vom East River bis zum Hudson, quer durch Manhattan, sowie die meilenlange Hängebrücke über den New Yorker Hafen, die Brooklyn-Battery Bridge, die an ihrem Landepunkt Lower Manhattan ausradiert hätte. Obwohl ein großer Liebhaber von Parks, konnte er sich eine Verlängerung der Fifth Avenue quer durch den Washington Square Park vorstellen, was aber durch den Protest der Anwohner verhindert wurde. Ein ungewollt positiver Nebeneffekt seiner Verkehrsprojekte war, dass sich an ihnen erstmalig Kritik an der „autogerechten Stadt“ entzündete.
Bleibenden Verdienst hat sich Moses aber mit seinen Seebädern erworben. Überzeugt von dem Gedanken, dass es die ärmeren Schichten dringend nötig hatten, ihren Elendsquartieren zu entkommen und die Freizeit auch in Licht, Luft und Sonne am Strand zu verbringen, setzte er sich mit aller Kraft für die Verwirklichung der Projekte Jones Beach Park, Coney Island und Rockaway Beach ein. Allerdings sollte sich die Anzahl der Benutzer dieser Anlagen stets in Grenzen halten, denn die überfüllte Enge von Slums war ihm ein Gräuel. Deshalb setzte er gleich nach seiner Berufung zum Parkbeauftragten eine Benutzungsordnung durch, die das Miteinander so vieler Erholungssuchender regelte. Am Strand war es jetzt verboten, menschliche Pyramiden zu bauen, Reden zu halten und Plattenspieler, Zeitungen und Badelaken mitzubringen. Er sorgte für die Einstellung von Rettungsschwimmern, vergrößerte die Strände durch Sandanschüttungen und erneuerte den viel besungenen Boardwalk in Coney Island, eine auf Pfählen stehende Strandpromenade, mit Millionenaufwand. Der Boardwalk war gesäumt von Papierkörben, Trinkbrunnen und Erste Hilfe Stationen. Allerdings zeichnet Moses auch verantwortlich für die überdimensionierte Anzahl von Sozialbauten, die aus Coney Island ein problematisches Viertel machten. Seine Pensionierung zögerte er heraus, bis er über 80 war und musste noch erleben, das Gouverneur Rockefeller eine seiner vielen Rücktrittsdrohungen, mit denen er so manches Projekt durchgedrückt hatte, einfach annahm. Er verstarb 1981 mit 93 Jahren.
Rockaway Beach
Die zu Queens gehörige Halbinsel Rockaway (der Name hat nichts mit irgendwelchen Felsen zu tun, sondern stammt aus dem Indianischen) ist der einzige Teil New Yorks, der sich direkt dem offenen Atlantik zuwendet. Nirgendwo ist man so weit weg von Manhattan wie hier und auch mit der zentralen und schnellen Subway Linie A braucht man anderthalb Stunden von Harlem bis auf die 17 Kilometer lange Halbinsel. Unser Zug fährt, nachdem er den JFK Airport passiert hat, das letzte Stück mitten durch die Vogelschutzgebiete der Jamaica Bay, bevor sich auf Rockaway die Linie A teilt und alternierend die Wohngebiete und Strände der Weißen im Süden oder der Schwarzen im Norden erreicht. Auch an diesem Strand existierte einst ein Vergnügungsviertel wie auf Coney Island, es gab eines der größten Hotels der Welt, Villen für Magnaten und Reihenhäuser für die Mittelschicht. Doch seitdem haben Hurricanes, Großbrände und vor allem die radikalen Stadtbaureformen von Robert Moses ganze Neighborhoods ausgelöscht. Sie mussten anonymen Neubauten mit DDR-Tristesse weichen und deren Bewohner haben das nördliche Rockaway mittlerweile zu einer No Go Area gemacht. In den südlichen Gebieten von Belle Harbor und Breezy Point scheint die Welt noch in Ordnung zu sein und auch Spuren des alten Charme finden sich noch überall – verwitterte Strandhütten und bröckelnde Belle-Époque-Häuser – direkt neben banalen Mietskasernen. Das Strandleben auf Rockaway funktioniert im Sommer noch wie in alten Zeiten, die Handschrift von Moses erkennt man aber an den überdimensionierten Parkplätzen für Besucher mit Platz für über 40.000 Fahrzeuge. Doch schon nach dem Labor Day am ersten September-Wochenende räumen die Bademeister ihre Hochsitze und da das Schwimmen ohne ihre Aufsicht nicht erlaubt ist, bedeutet es das Ende der Saison. Ganz in der Nähe, vor der Kulisse trister, braun und beige gestreifter Sozialwohnungen kämpfen Surfer im Herbst gegen die mächtigen Wellen an, die zu dieser Jahreszeit von Stürmen aus tropischen Regionen aufgetürmt werden. Auf dem knappen Stück Atlantikküste in der Nähe der 81st Street, direkt vor dem genannten größten städtebaulichen Fiasko der letzten fünfzig Jahre, gibt es die nach Malibu in Kalifornien höchsten Brandungswellen Amerikas.
Jones Beach Park
1928 startete Robert Moses seine Karriere als Landschaftsplaner mit dem Projekt von Jones Beach Park auf einer der vielen, Long Island vorgelagerten, Sandbänke. Als großer Befürworter der Auto-Mobilität hatte er gerade damit begonnen, Long Island mit drei Parkways auszustatten (Northern, Central und Southern State Parkway). Das waren Autobahnen frei von Schwerlastverkehr, die den Großstädtern die schnelle Verbindung ins Umland sichern sollten. Um das überfüllte Coney Island zu entlasten, lag es nahe, mithilfe dieser Schnellstraßen weitere sea side resorts für die Großstädter zu erschließen und Jones Beach ist ein besonders gelungenes Beispiel dafür, weil hier die Natur im Vordergrund steht und auf Wohnbebauung und Vergnügungsparks verzichtet wurde. Die wenigen bereits existierenden Wohnhäuser wurden umgesetzt und der Park lediglich mit zwei Schwimmbädern plus Badehäusern, einem Freilichttheater, einer Konzertmuschel, dem berühmten Wasserturm im venezianischen Stil, ein paar Restaurants und diversen Parkplätzen bebaut.
Der Besuch von Jones Beach ist für uns jedesmal ein must do, weil im Frühjahr der Wechsel von der überfüllten, lauten und stinkigen Großstadt in die menschenleere Weite des Parks am offenen Meer besonders eindrucksvoll ist. Schon die Anfahrt ist schön – zuerst die gewohnte, vom Northern Boulevard an den Resten der Expo in Flushing vorbei zum JFK – dann auf dem Belt Parkway und dem Sunrise Highway westwärts bis Freeport, wo der Meadowbrook State Parkway nach Süden abzweigt und man bald die reizvolle Küstenzone erreicht. Sie besteht, wie überall auf Long Island, aus Sandbänken im Meer, hinter denen sich, von unzähligen Vogelarten bevölkert, eine idyllische Lagunenlandschaft ausbreitet, die der allgegenwärtigen Zersiedlung standhält, weil der sumpfige Untergrund schwer zu bebauen ist. Auf einem Damm überquert man etliche in der Lagune liegende Inseln, passiert das – jetzt im Winterschlaf liegende – Mauthäuschen (der Park ist aber trotzdem eintrittspflichtig) und kann anschließend auswählen, auf welchem der zehn riesigen, in dieser Jahreszeit völlig verlassenen Parkplätze man das Auto abstellt. Die Zufahrt führt zu einem großen Rondell, auf dem der genannte Wasserturm steht, der seine Verwandtschaft mit dem Campanile von San Marco nicht verleugnen kann. Unweit davon befindet sich die Parkverwaltung, bei der sich unser Sohn das Jahresticket zum Preis von 70 $ für ein Auto mit allen Insassen abholt.
Unser Parkplatz ist jedes Mal Westend 2, am Westrand des eigentlichen Parks, der hier viel naturbelassener wirkt, als das übrige Gelände. Durch die Beschäftigung mit dem Werk von Robert Moses weiß ich jedoch, dass alle Natur hier das Werk von Menschenhand ist: Damit der geplante Park nicht sofort wieder vom Meer verschlungen würde, ließ Moses Unmengen von Sand auf Jones Beach anschütten; der allerdings wurde von den ständig blasenden Winden sofort wieder weggeweht. Ein Botaniker empfahl dem Architekten daraufhin die Anpflanzung einer besonders resistenten Sorte von Dünengras, das durch seine Wurzeln den Boden befestigen sollte. Vom Parkplatz kommend, durchqueren wir solch eine unter Naturschutz stehende Strandgraszone, in der in dieser Jahreszeit Salzwassertümpel stehen. Am Wasser hat man rechts und links von sich endlose Sandstrände und vor sich den erst in Europa endenden Atlantik. Angesichts der sehr frischen Temperaturen ist man erstaunt, sich hier auf demselben Breitengrad zu befinden wie Neapel.
Ich entfliehe dem scharfen Wind am Meer, indem ich mich mit der Enkelin ins Auto zurückziehe. Für ihre Führerscheinprüfung benötigt sie noch ein wenig Übung und ich bin glücklich, als Lehrer trotz Pensionierung noch gebraucht zu werden. Der völlig verlassene, weiträumige Parkplatz ist sehr gut geeignet für Vollbremsungen und Beschleunigungungsversuche und auf den Parkstreifen und an einer Bordsteinkante kann ich sie weidlich mit Rückwärtseinparken und seitlichem Heranfahren quälen. Die anderen laufen derweil den Strand ab bis zur Mole am Westend, von der man einen schönen Blick auf Long Beach hat, die Sandbank zwischen Rockaway und Jones Beach.