New York im Kaleidoskop

Inhalt

27 The Bronx

Von Bronck‘s Land zum Melting Pot

New Yorks nördlichster Borough, The Bronx, ist der einzige Teil der Stadt, der vollständig auf amerikanischem Festland liegt. Umgeben vom Hudson im Westen, East River im Osten und Harlem River im Süden, grenzt er nördlich an den Bundesstaat New York, in dem er als Bronx County firmiert. Von der Einwohnerschaft (ca. 1,4 Mio) und der Fläche her (ca. 110 km2) liegt er an vierter Stelle der New Yorker Stadtteile.

Der Name geht auf Jonas Bronck (ca. 1600 – 1648) zurück, einen über Holland eingewanderten Schweden, der als einer der Pioniere von Nieuw Nederland eine Farm nördlich von Nieuw Amsterdam betrieb. Als die Engländer die Kolonie von den Niederländern übernommen hatten, bürgerte sich die geographische Bezeichnung „Bronck‘s Land“ für das Land jenseits von Manhattan ein, aus dem im Laufe der Jahre „The Bronx“ wurde. Lange Zeit landwirtschaftlich genutzt, wurde es Mitte des 18. Jh. von der expandierenden Stadt eingeholt und von Deutschen, Iren, Italienern und osteuropäischen Juden besiedelt, 1878 wurde es als vierter Borough nach NYC eingemeindet. Anfangs war die Bronx ein Wohngebiet für alle Bevölkerungsschichten mit 25% Grünflächen (zu denen allerdings auch Friedhöfe gezählt werden) und einer Prachtstraße (Grand Concourse) nach dem Vorbild der Champs Elysées mit vielen Gebäuden (wie dem Bronx County Court House) im Stil des Art Deco. Dazu kamen New Yorks größter Zoo und Botanischer Garten und das Yankee Stadium für New Yorks Baseball Team. Bis in die 30er Jahre blieb die Bronx ein beliebtes Wohnviertel, zumal sie von der überhitzten Baukonjunktur Manhattans verschont blieb.

Doch änderten sich diese Verhältnisse durch die Great Migration, die sich beständig von 1910 bis in die 70er Jahre hinzog. Millionen Afroamerikaner verließen die Südstaaten der USA und zogen in den industrialisierten Norden, viele von ihnen ließen sich auch in der Bronx nieder und dominierten bald den Bezirk. Daraufhin zogen große Teile der weißen Bevölkerung weg, was sinkende Kaufkraft, Vernachlässigung der Bausubstanz und den allgemeinen Niedergang des Viertels bewirkte. Dieser Prozess verstärkte sich in den 30er Jahren durch den Börsenkrach und die Great Depression. Der Mittelstand schrumpfte weiter und immer mehr Unterprivilegierte rückten nach. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kamen massenhaft Einwanderer aus Puerto Rico und Lateinamerika, die in abgeschiedenen Barrios lebend, an ihrer Sprache und Kultur festhielten. Heute stellen die Hispanics mit einem Anteil von 52 Prozent die Bevölkerungsmehrheit in der Bronx. (Davon sind 23 % Puerto-Ricaner als insgesamt größte Herkunftsgruppe, 16 % Dominikaner und 5 Prozent Mexikaner). 42% der Einwohner sind nicht in den USA geboren. Afroamerikaner, Einwanderer aus der Karibik und aus Afrika bilden mit 31 Prozent die zweitgrößte Gruppe, der jetzt nur noch 12% (nicht hispanische) Weiße folgen.

Brennende Bronx

Zwischen den 1950er und 70er Jahren hatte die Stadtverwaltung im Zuge der „Slum Clearings“ in Manhattan viele mittellose Puerto-Ricaner und Afroamerikaner zwangsweise in die Bronx umgesiedelt. Der dadurch beschleunigte Niedergang des Viertels führte in der 80ern zu den Verhältnissen, die als „brennende Bronx“ Eingang in Nachrichten, Literatur und viele Spielfilme fanden und sich gleichsam ins kollektive Gedächtnis einbrannten. Hausbesitzer mit sinkenden Einnahmen ließen ihre Häuser verwahrlosen, Mieter zahlten keine Mieten mehr, die Gegend verkam durch die Gleichgültigkeit der Bewohner. Irgendwann brannten die Häuser, teilweise angezündet von den Eigentümern um die Versicherungssumme zu kassieren, teils von den Mietern, die auf eine neue Sozialwohnung spekulierten. Gewalt, Drogen und Chaos grassierten insbesondere in der South Bronx, die zur absoluten No-Go-Area herunterkam. Man stieg nur noch bewaffnet in die Subway, was sicherlich ebenfalls zum unglaublichen Anstieg der Mordrate beitrug. Als meine Frau 1992 zu einem Treffen mit Wissenschaftlerinnen der Einstein University mit der Subway in die Bronx anreiste, schüttelten viele Bekannte in Manhattan ob solch „riskanten“ Verhaltens nur den Kopf.

Mit einem „Zero Tolerance“ Programm versuchte der republikanische Bürgermeister Giuliani zusammen mit seinem Polizeichef Bratton ab 1995 dem Übel beizukommen. Tragende Säulen des Konzepts waren folgende Maßnahmenpakete:

  • Personelle Aufstockung der Polizei, Erhöhung von deren sichtbarer Präsenz.
  • Rigorose Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten wie Straßenhandel, Hütchenspielen, Umherfahren mit Ghettoblastern, Schwarzfahren, Betteln und Schulschwänzen.
    Kontrolle auffälliger Personen, Einziehung der Gewinne und der Fahrzeuge von Kleindealern, Erteilung von Hausverboten, schnelle Inhaftierung auch bei Kleindelikten.
  • Sofortige Beseitigung von Graffiti an Häusern und auf öffentlichen Verkehrsmitteln, Aufräumen und Reinigung verwahrloster und verschmutzter Örtlichkeiten. Heranziehung für die Reinigungsarbeiten von Personen, die zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt worden waren (sie sollten dabei Westen mit dem Namen des Gerichts tragen, das sie verurteilt hatte).
  • Einführung eines computergestützten Informationssystems der Polizei.
  • Bessere Zusammenarbeit mit Bürgern und Organisation von Bürgerwachen für informelle Kontrollaufgaben.

Wundersamer Weise griff dieses Konzept: Die Bronx brennt nicht mehr und Parks und Subway sind mittlerweile sicher. Armut, mangelnde Bildung, Rassismus und hohe Arbeitslosigkeit in den unteren Schichten existieren jedoch nach wie vor! Und die Kriminalitätsrate sank auch in Städten, die keine „Zero Tolerance“ betrieben.

Polizeichef Bratton hatte damals seine ganz eigene Theorie: „Ich glaube wir lagen 25 Jahre lang falsch, weil wir gedacht haben, gesellschaftliche Probleme schaffen Kriminalität. In New York war’s umgekehrt. Kriminalität schuf gesellschaftliche Probleme.“ Bratton ist aktuell wieder Polizeichef von NY und gibt sich mit den z. Zt. wirksamen Polizeistrategien gegen die Kriminalität zufrieden, ungeachtet der Tatsache, dass die sozialen Übel von kontinuierlicher Armut und Ungleichheit fortbestehen! Mit dem Projekt der Co-op City im Norden der Bronx hat man dagegen wenigstens einen Versuch unternommen, durch gezielte Stadtgestaltung und bezahlbare Wohnungen dem Problem beizukommen.

Co-op City

Verlässt man die Bronx nördlich in Richtung New Haven, passiert man ein nicht zu übersehendes Ensemble aus 35 Hochhäusern und zahllosen dreistöckigen Townhouses. Das ist Co-op City, das größte zusammenhängende genossenschaftliche Wohnungsbauprojekt der Welt. Das Co-op Prinzip habe ich im Kapitel Queens unter Jackson Heights schon beschrieben. Hier tritt es aber in modifizierter Form auf: Die vom Staat geförderte Kooperative UHF (United Housing Foundation, eine gemeinnützige Stiftung) nimmt nur Mitglieder innerhalb bestimmter Einkommensgrenzen auf. Der Beitrittsbetrag ist nach Wohnungsgröße gestaffelt und liegt in einem auch für weniger Verdienende erschwinglichen Rahmen, genauso wie die Miete bzw. das Wohngeld, woraus die laufenden Kosten für die Wohnanlage bestritten werden. Die Wohnungen haben ein, zwei oder drei Schlafzimmer, was dem europäischen Standard von Zwei-, Drei- oder Vierzimmerwohnungen entspricht. Wer in Co-op City wohnen will, muss folgende Voraussetzungen erfüllen:

Der Antragsteller

  • darf weder Drogen- noch Sexualstraftaten verübt haben
  • muss kreditwürdig sein. Liegt keine Schufa-Auskunft vor, ist ein Nachweis von pünktlicher Zahlung aller Rechnungen vorzulegen.
  • darf keine Mietzuschüsse vom Sozialamt erhalten.
  • darf keinen weiteren ersten Wohnsitz haben.
  • wird während des Bewerbungsverfahrens zu Hause besucht.
  • muss seine Kinder ab fünf Jahren zur Schule schicken.

Co-op City wurde 1973 eröffnet, es besteht aus 35 Hochhäusern von 24-33 Stockwerken, dazu kommen 236 dreistöckige Townhouses in 7 Agglomerationen. In 15.372 Wohnungen leben 43.752 Einwohner. (Das entspricht 18.000 Ew. pro km2, zum Vergleich Manhattan: 27.000). Die Bevölkerungszusammensetzung beläuft sich auf 60,5% Schwarze, 27,7% Hispanics, 8,5% Weiße, 1,2% Asiaten und 2,1% Sonstige.

Geplant wurde die Siedlung auf preiswertem Boden, einer ehemaligen Deponie, auf der durch Aufschüttung (landfill) sumpfiges Marschland zu Baugrund gemacht wurde. Die Fundamente der Gebäude stehen fest auf 50.000 Pfählen, die auf gewachsenem Fels ruhen. Das Land umher senkt sich jedoch, was zu Rissen in Bürgersteigen und Gebäudeeingängen führt. Anders, als bei einer Sozialsiedlung zu erwarten, ist Co-op City großzügig mit Grünflächen ausgestattet und liegt nahe am Meer.

Als „Stadt in der Stadt“ ist sie mit allen notwendigen Einrichtungen ausgestattet, zunächst dem über zehn Hektar großen „Bildungspark“ mit der Harry S. Truman High School, die über ein Planetarium, ein Kraftwerk, einen vierstöckigen Generator für die Klimaanlage und eine Feuerwehr verfügt. Darüber hinaus gibt es zwei Middle Schools, drei Grundschulen und sechs Kinderkrippen. Ein eigenes Polizeirevier, Arzt- und Anwältspraxen, über 40 Büros, 15 Sakralbauten sowie vier Basketballplätze und fünf Baseballfelder vervollständigen die soziale Infrastruktur. Im angrenzenden Bay Plaza Shopping Center befinden sich ein Multiplex-Theater mit 13 Kinos, Läden und einem Supermarkt, ferner gibt es acht Parkhäuser und drei weitere Shoppingcenter.

Heinrich Heine in der Bronx

Für mich gibt es in der Bronx nur zwei Punkte von Interesse, zu denen ich unbedingt hin muss. Einer davon ist der Lorelei-Brunnen im Joyce-Kilmer Park, ein New-York-typischer Ort, an dem sich ein skurriles Kapitel deutsch-amerikanischer Migrationsgeschichte mit folgendem Personal auftut: Ein Berliner Bildhauer, deutsche Antisemiten, die österreichische Kaiserin Sisi und Heinrich Heine. Und der Emigrant in dieser Geschichte ist erstaunlicher Weise keine Person – sondern der Brunnen!

Ausgangspunkt des Ganzen war der Wunsch fortschrittlicher Düsseldorfer Bürger, Heinrich Heine, dem großen Sohn der Stadt, zum hundertsten Geburtstag 1897 ein Denkmal zu setzen. Da Düsseldorf zu dieser Zeit Provinzialhauptstadt der preußischen Rheinlande war, wandte man sich an den Berliner Bildhauer Ernst Herter, einen ausgewiesenen Fachmann für die Ausführung patriotischer Denkmäler und betrieb gleichzeitig Fundraising um das Denkmal zu finanzieren. Ein Glücksfall war die Gewinnung der österreichischen Kaiserin Elisabeth, besser bekannt als Sisi, die als große Heine-Verehrerin 50.000 Reichsmark zur Realisierung des Monuments zusagte. Kaum dass es in die Verwirklichungsphase eingetreten war, erhob sich deutschlandweit ein großes Gezeter antisemitischer Kreise, die das Monument als „Schandsäule“ ansahen und den „jüdischen Nestbeschmutzer“ als nicht denkmalwürdig bezeichneten.

Die Obstruktionsinstrumente der Gegner waren reichhaltig, eine Beschwerde bei Bismarck in Berlin, Diskussionen über den Standort und den künstlerischen Entwurf sowie der grundsätzliche Beschluss der Stadtverordneten über die Errichtung eines Heine-Denkmals. Der Bildhauer legte einen ersten Entwurf für eine Statue unter einem Baldachin vor, der – wie zu erwarten – erst einmal abgelehnt wurde. Darauf kam er mit dem Vorschlag einer allegorischen Loreley-Gruppe, die auf Heines berühmtestes Gedicht und seine Kunst Bezug nahm. Das als Brunnen konzipierte Denkmal gefiel nun aber der Kaiserin nicht, die ein Standbild erwartet hatte, wohingegen der Dichter hier lediglich auf einem seitlich angebrachten Medaillon vorkam – die Stadt dagegen favorisierte dieses Konzept. Nur aufstellen konnte sie die Gruppe leider nicht, weil auf dem vorgesehenen Standort inzwischen ein Kriegerdenkmal für die Helden des deutsch-französischen (!) Krieges von 1870/71 platziert worden war. Sisi war von den Querelen dermaßen bedient, dass sie ihre großzügige Finanzierungszusage zurückzog und beschloss, auf ihrem Sommerschloss Achilleon auf Korfu eine private Heine-Gedenkstätte einzurichten, für die sie – bei einem Dänen und nicht bei Herter – eine eigene Statue bestellte. Auch diesem Kunstwerk war übrigens ein merkwürdiges Geschick beschieden: Nach dem Verkauf des Achilleons aufgrund von Sisis Ermordung (und des anschließenden Erwerbs durch Kaiser Wilhelm II.) landete es auf verschlungenen Wegen in Toulon, wo die dänische Statue des deutschen Dichters im Botanischen Garten Frédéric Mistral auch heute noch steht und auf den französischen Kriegshafen (!) blickt.

Mit weiterem antisemitisch-nationalistischem Getöse war das Denkmalprojekt in Düsseldorf schließlich zu Fall gebracht worden und andere Orte begannen sich dafür zu interessieren. Ja, sogar über den großen Teich gelangte die Kunde vom Gezerre um die Ehrung des Dichters. Der deutsche Gesangsverein „Arion“ in New York nahm Kontakt mit dem Bildhauer auf (der hoch entzückt war, sein Werk doch noch aufstellen zu können) und trieb die Errichtung eines Heine-Denkmals im Central Park oder zumindest an dessen Eingang voran. Wie im Kapitel Central Park bereits angesprochen, lagen die verschiedenen Migrantengruppen ob ihrer Bedeutung in der Neuen Welt miteinander in Konkurrenz und versuchten ihre Position durch die Aufstellung von Standbildern ihrer Nationalheroen und -dichter zu untermauern, vorzugsweise im größten und schönsten Park der Stadt. Die deutsche Community hatte aber um die Jahrhundertwende bereits einen großen Teil ihres einstigen Gewichts verloren und deshalb fiel es dem NYC Council leicht, unter Berufung auf mangelnde künstlerische Qualität des Herterschen Entwurfs das Eindringen der Deutschen in den Central Park zu verhindern.

Eine mittlerweile gegründete Kunstkommission verfügte die Aufstellung des in drei unterschiedlichen Schreibweisen vorkommenden Brunnens (Loreley, Lorelei, Lorelai, – Heine schrieb Lore-Ley) in der Bronx, im Cedar Park. In Anwesenheit des emigrierten 1848er Revolutionärs und Ex-US Außenministers Carl Schurz, des Gesangsvereins Arion und des Berliner Bildhauers Herter wurde das Kunstwerk 1899 feierlich eingeweiht. Laut Herters Tagebuch war die Enthüllung „eine imposante Kundgebung des Deutschtums in Amerika, mit Fahnen, Paraden und Musikkapellen“. Aber kurz darauf begann auch schon der Niedergang: Der Christliche Abstinenzverein verdammte die allegorischen Nixen unterhalb der Loreley-Figur als „pornographisches Spektakel“, der Allegorie der Lyrik wurde der Kopf abgeschlagen, der Brunnen sprudelte nicht mehr und nur die Loreley hoch oben blieb wegen ihrer schwierigen Erreichbarkeit relativ unbeschädigt.

Durch pausenlose Umbenennungen konnte auch der Park keine eigene Identität entwickeln, zunächst hieß er Franz Sigel Park, nach einem deutschstämmigen, im Sezessionskrieg grandios erfolglosen Militär, dann wurde der nördliche Teil, in dem der Brunnen stand, zur Concourse Plaza und später, nach Umgestaltung und Verlegung der Denkmäler nach Norden, zum Joyce Kilmer Park. Dieser ist zwar prominent gelegen am Grand Concourse, zwischen Yankee Stadium und Bronx County Court House, macht aber weder als Park, noch vom Namensgeber viel her. Der Park, weil er bloß eine baumlose rechteckige Aussparung aus den umliegenden Häuserblocks ist, Joyce Kilmer, ein im Ersten Weltkrieg jung gefallener Dichter, weil er weitgehend vergessen ist. (Sein einziges überlebendes Werk, das alle Schulkinder auswendig lernen müssen, heißt bezeichnender Weise „trees“).

Die vorletzte Episode der Geschichte ist die traurigste. Der oben geschilderte Niedergang der Bronx erfasste auch dessen Zentrum und den Joyce Kilmer Park, wie der Schriftsteller Tom Wolfe in seinem Bestseller „Fegefeuer der Eitelkeiten“ beschrieb. Einer der Protagonisten des Werks arbeitet nebenan im Bronx County Court House und traut sich nicht einmal in der Mittagspause zum Essen aus dem Gebäude. Der pure Vandalismus der lokalen Jugend machte die Lorelei, wie das Denkmal (unter Weglassung des Dichternamens) mittlerweile hieß, zum verkommensten in New York. Der Marmor wurde immer wieder mit Graffiti beschmiert, den Figuren die Köpfe und Arme abgeschlagen. Ein Düsseldorfer Zahnarzt wurde als „Heine-Schrubber“ dafür bekannt, dass er das Denkmal in seinem Urlaub regelmäßig von den Schmierereien befreite. „Der weiße Marmor ist so verfallen, dass er aussieht wie ein dreckiger Schwamm“, schrieb 1997 die New York Times, „Die trockenen Wasserbecken enthalten nur noch leere Limonadenflaschen.“ Danach kam endlich etwas in Bewegung, doch erst als ein Gemeinschaftsfonds von 1,2 Mio $ zur Renovierung des Heine-Denkmals aufgelegt war, konnte das Heine-Denkmal zu Restaurierungsarbeiten nach Kanada gebracht werden. Gleichzeitig begann man mit der Neugestaltung der Südseite des Joyce-Kilmer-Parks, wo der Loreley-Brunnen seit Oktober 1999 seinen neuen Standort bekam.

Nach all diesen deprimierenden Geschichten bin ich ganz froh, den letzten Teil aus eigenem Augenschein als Erfolgsstory erzählen zu können. Auf dem Weg mit der Subway Linie 4 nach Norden bekomme ich zwar mit, dass die Anzahl der Afroamerikaner unter den Passagieren steigt, je näher ich der gewünschten Station Yankee Stadium komme, jedoch liegt in dieser Tatsache nichts Bedrohliches mehr, weil im Wagen eine entspannte, freundliche Atmosphäre herrscht. Draußen sieht es so aus, wie überall in New York (außer in Manhattan) – nicht unbedingt schön, aber auch nicht verkommen oder Angst einflößend. Dennoch frage ich nicht nach, wo sich das Heine- Denkmal befindet, weil die einzige Aussprache seines Namens, die für Amerikaner verständlich ist (Hinee), im British English für „gay“ steht. Der Joyce Kilmer Park ist sowieso nur zwei Blocks entfernt, er ist nach wie vor baumlos, so dass ich das mitgebrachte Joyce Kilmer Gedicht entfalte und schmunzelnd laut rezitiere. Im neu angelegten südlichen Parkteil schimmert schon von weitem das restaurierte, weiße Heine-Denkmal, das jetzt wieder an seinem originalen Aufstellungsort steht.

Es besteht aus einer Brunnenschale aus schneeweißem Marmor mit einem hohen Sockel in der Mitte, auf dem eine weibliche Figur in wallendem Gewand sitzt, von deren Haupt strähnige – aber nicht goldene – Locken herunterfallen, die sie mit der einen Hand festhält und mit der anderen mit einem – auch nicht goldenen – Kamm kräftig bearbeitet. Entgegen dem Wortlaut des Gedichts: „Sie kämmt es mit goldenem Kamme, Und singt ein Lied dabei;“ singt sie hier nicht, sondern schaut versonnen nach unten, wo sich eine Fülle von Muscheln, wasserspeiende Delphinköpfe, drei barbusige Frauengestalten und sonstiges Kleingetier tummeln.

Die drei freizügigen Damen, die damals den Skandal auslösten, sind Allegorien auf Lyrik, Satire und Melancholie. Hinter den drei Figuren gliedern drei Voluten den Sockel, unter denen drei Delphinköpfe Wasser in Muschelschalen speien. Zwischen den Voluten des Sockels befinden sich drei Reliefs: Ein Heine-Porträt, ein nackter Junge mit Narrenkappe, der mit seiner Feder auf einen Drachen zielend den Humor symbolisiert und eine Sphinx, die einen nackten jungen Mann im Todeskuss umarmt, vielleicht ein Hinweis auf den vergeblichen Drang Heines zur Lösung des Welträtsels. Auf der linken Seite steht die Künstlersignatur „Professor / E. Herter, Berlin / fecit / 1897 · Marmorwerke Laas, Tirol“, auf der rechten Seite die Widmung „IHREM GROSSEN DICHTER DIE DEUTSCHEN IN AMERIKA“. Das Ganze ist jetzt kein Kunstwerk vom Rang eines Bernini, aber dennoch anschauenswert und hätte auch damals schon den Standards des Central Parks entsprochen.

Der Joyce-Kilmer-Park ist mittlerweile eine ansprechende, saubere und friedliche Grünanlage geworden, wie man sie überall in der Stadt findet: Menschen ruhen sich auf Bänken aus und picknicken (food to go in Plastikbehältern!), führen ihre Hunde an der Leine und haben „das Sackerl fürs Kackerl“ dabei, Kinder toben auf dem Spielplatz. Nur Grillen ist verboten, wie ein Schild am Zaun des Denkmals deutlich macht – aber auch das ist überall in NY genau so!

Edgar Allan Poes Landsitz

Mein zweites must see in der Bronx ist das Edgar Allan Poe Cottage in Fordham, das vom Yankee Stadium nur acht Haltestellen entfernt ist. Beide Objekte liegen am Grand Concourse, der Magistrale, die sich 8 km lang nordsüdlich durch die Bronx zieht. Um zu Poe zu gelangen, wendet man sich weiterhin nach Norden, diesmal aber auf der B-Line, bis Kingsbridge Road. Nie hätte ich vermutet, dass Mark Twain und Edgar Allan Poe, die beiden amerikanischen Schriftsteller, die ich am meisten schätze, mit der Bronx konnotiert sind – selbst unter der Berücksichtigung, dass der Borough im 19. Jh. ganz anders aussah als heute. (Mark Twains Residenz Wave Hill in Riverdale, ein nobles Mietobjekt, das später auch noch andere prominente Bewohner wie die Roosevelt Familie und Arturo Toscanini beherbergte, hat das Aussehen jener Zeit bewahrt, hoch über dem Hudson River in einem denkmalgeschützten Park gelegen). Poes Lebensumstände waren jedoch mit denen von Twain überhaupt nicht zu vergleichen: Während der Autor von „Huckleberry Finn“ mehrere Male in seinem Leben ein Vermögen anhäufte und es sich leistete, dieses auch sofort wieder zu verjuckeln, lebte Poe sein gesamtes Erwachsenenleben in prekären Verhältnissen. Sein bescheidenes Cottage in der Bronx ist für mich der geeignete Ort, das kurze und ruhelose Leben dieses bedeutenden und wirklich einflussreichen Schriftstellers zu rekapitulieren. Es waren ja nicht nur die jedem bekannten und viel kopierten Schauergeschichten sowie das Vorbild für alle Detektivgeschichten „The Murders in the Rue Morgue“ sondern auch scharfsinnige Essays und vor allem seine innovative Lyrik, die sich weltweit verbreiteten und zur Weltliteratur wurden. Nur – Poe hatte in seinem Leben nichts davon.

Geboren 1809, spielte sich sein amerikanisches Leben an der Ostküste ab – zwischen dem Geburtsort Boston und den Städten Richmond, Baltimore, Charleston, New York und Philadelphia. Schon früh wurde er Waise und wuchs im Hause von John Allan, einem wohlhabenden Geschäftsmanne auf, dessen Namen er als middle name trug, ohne dass dieser ihn je adoptiert hätte. Mit seiner Pflegefamilie ging er 1815 für fünf Jahre nach Großbritannien, besuchte dort diverse Privatschulen und wurde ganz gewiss hier mit den Eindrücken von Old Europe geprägt, die später in seinem Werk immer wieder auftauchen. Nach der Rückkehr, während Poes Schulzeit in Richmond, lebte die Familie Allan aufgrund der Wirtschaftskrise etwas bescheidener, aber eine unverhoffte Erbschaft verbesserte ihre Lage wieder. Poe wurde deshalb 1826 auf die renommierte Virginia-Universität in Charlottesville geschickt, die er allerdings ein Jahr später schon wieder verließ, weil er sich ob seines lockeren Lebenswandels mit John Allan überworfen hatte.

Er verließ die Familie, ging nach Boston und trat zur Sicherung seines Lebensunterhalts für fünf Jahre in die Armee ein. Zur gleichen Zeit hatte er begonnen Gedichte zu schreiben und bereits einen Band veröffentlicht. An seinem Standort Charleston stieg er schnell auf den höchsten Rang der einfachen Soldatenlaufbahn auf, was in ihm den Wunsch auf eine Offizierskarriere weckte. Dafür war ein Studium an einer Militärakademie erforderlich, aber dem stand seine mehrjährige Dienstverpflichtung entgegen, aus der er sich nicht so leicht lösen konnte. Ein letztes Mal half ihm Allan, indem er ihn aus dem Kontrakt mit der Armee herauskaufte und ihm einen Platz in West Point besorgte. Während der Wartezeit auf die Akademie lebte Poe in Baltimore bei seiner Tante Maria Clemm und ihrer siebenjährigen Tochter Virginia. Nach gutem Beginn in West Point ging alles schief, was schief gehen konnte: Der endgültige Bruch mit John Allan, Alkoholeskapaden und schließlich die Zitierung vor das Kriegsgericht und die Verweisung von der Militärakademie 1831.

Von nun an war Poe in Baltimore auf das Einkommen aus der Schriftstellerei angewiesen, ein mühseliges Unterfangen, denn er musste seine Gedichte und Erzählungen einzeln an Magazine und Verleger verkaufen und die Honorare akzeptieren, die ihm angeboten wurden. Der einzige Fixpunkt in seinem rastlosen und durch Alkoholabstürze geprägten Leben blieben seine Tante und seine Cousine Virginia. Zu beiden unterhielt er eine merkwürdige Beziehung, so nannte er Maria Clemm „Mutti“ und Virginia „Schwesterchen“, gleichzeitig kam er der dreizehn Jahre Jüngeren emotional immer näher. Ein erstes festes Engagement bei der Literaturzeitschrift „Messenger“, in der er den „Arthur Gordon Pym“ als Fortsetzungsroman veröffentlichte, ließ ihn nach Richmond umziehen. Doch schon 1835 kam er nach Baltimore zurück, weil er befürchtete, Virginia zu verlieren. Er verlobte sich mit der erst 13-jährigen und ging mit ihr und ihrer Mutter zusammen wieder nach Richmond. Hier heiratete er die Cousine im Jahr darauf, wobei das Alter der noch nicht 14 Jahre alten Braut mit 21 angegeben wurde und ein Trauzeuge das mit einem Meineid beschwor.

Obwohl immer noch wenig verdienend, hatte sich Poe bereits einen Ruf als Lyriker, Schreiber von Kurzgeschichten und Literaturkritiker erworben, so dass er es 1837 wagte sein Glück in New York zu suchen, was aber von wenig Erfolg gekrönt war. Da kam ihm 1839 ein Engagement als Redakteur in Philadelphia gerade recht. Hier hatte er in den nächsten vier Jahren seine schaffensreichste Phase, aber auch Rückfälle in den Alkoholismus und den Schock durch die Erkrankung seiner Frau an Tuberkulose, was sich durch einen Blutsturz beim Singen offenbarte. Zur Sicherung seiner Lebensverhältnisse strebte er einen Job als Zollbeamter an, jedoch vergeblich.

Deshalb zog er 1844 mit der Familie nach New York, in der Hoffnung auf dem dortigen Zeitschriftenmarkt bessere Chancen zu haben. Im Dörfchen Fordham vor den Toren der Stadt – heute mitten in der Bronx – mietete er ein winziges Cottage für 100$ im Jahr, in dem einige seiner bedeutendsten Werke entstanden, darunter Ulalume, ein Meilenstein in der Entwicklung der Lyrik zur Lautpoesie. In diesem Landhaus starb 1847 Virginia an Tbc, nur 24 Jahre alt. Poe versuchte den Verlust durch Kontaktaufnahme zu verschiedenen Frauen zu kompensieren, was stets misslang und ihn in beständig neue Alkoholabstürze trieb. 1849 traf er in Richmond seine mittlerweile verwitwete Jugendliebe Elvira Royster wieder und die beiden verlobten sich. Auf dem Heimweg nach New York unterbrach er die Schiffsreise in Baltimore und verstarb dort bei einem erneuten Alkoholexzess unter ungeklärten Umständen. Die Anzahl der Gerüchte über die Ursache seines Todes sind Legion.

Das Poe-Cottage befindet sich heute nicht mehr am originalen Standort, aber der ist nur wenige 100 m entfernt. Die Einrichtung einer Gedenkstätte war dort nicht möglich, weil die Eigentümer des Grundstücks die Öffentlichkeit vom Besuch des Häuschens ausschlossen und auf der weiteren Nutzung als Mietobjekt bestanden. Deshalb kaufte das NYC Council nur das verfallene Gebäude und beschloss es auf ein öffentlich zugängliches Gelände umzusetzen. Die wesentlich schlechtere Alternative zu dieser Translozierung wäre der völlige Abriss oder Verkauf und Wiederaufbau in einem Literaturmuseum in Boston, Baltimore oder Richmond gewesen. So stellte man das Häuschen einfach auf Räder, rollte es an seinen jetzigen Standort und umgab es mit dem Edgar Allan Poe Park, in dessen Norden es nun steht. Ein Museum für einen Dichter in dieser kulturfernen Gegend war ein ziemliches Wagnis, deshalb vermietete man das Erdgeschoss als Studentenwohnung um es durch einen ständigen Bewohner gegen Vandalismus zu sichern.

Auf der Fahrt in den Norden der Bronx lese ich „Landor’s Cottage“, Poes letzte Erzählung, in der unter Verzicht auf irgendeine Handlung lediglich ein kleines Landhaus außerhalb der großen Stadt akribisch beschrieben wird. Poes Erzählkunst gelingt es mühelos mich in seine Zeit hinein zu ziehen, was beim Verlassen der Subway in Kingsbridge Road für ein Gefühl der Verstörung sorgt: Dicht gedrängt stehende Achtgeschosser allüberall, ein vielspuriger Autotunnel, in dem die Magistrale der Bronx verschwindet und direkt daneben der Edgar Allan Poe Park. Nur wenige Meter entfernt vom tosenden Autoverkehr des Grand Concourse erscheint Poes Cottage in diesem Ambiente besonders unscheinbar und winzig.

Es ist ein anspruchsloses hölzernes Landhaus von 1797 mit äußerst einfachem Grundriss, ein Wohnzimmer und die Küche im Erdgeschoss, ein Schlafzimmer und Poes Arbeitszimmer im ungeheizten Obergeschoss, umgeben von 8000 m2 Garten. Es ist nicht identisch mit „Landor‘s Cottage“ aber die Erzählung trifft exakt den Charakter einer solchen Behausung mit der überdachten Veranda (porch) vor der Haustür. Hier standen die Käfige mit Singvögeln und hier saß die Familie (Edgar und Virginia Poe, sowie Maria Clemm, die Schwiegermutter) an lauen Sommerabenden. Und in diesem Haus kämpfte Virginia ihren aussichtslosen Kampf gegen die Tuberkulose. Ich gehe die enge Treppe hinauf ins Schlafzimmer und stehe bewegt vor dem Bett, in dem sie am 30. Januar 1847 starb. Maria Clemm hütete das Haus während der rastlosen 2 1/2 Jahre, die Poe noch verblieben und bekam die Nachricht von seinem Tod erst als die Bestattung schon erfolgt war.

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