New York im Kaleidoskop

30 Abreise

Der Abreisetag ist jedes Jahr der durchgeplanteste und strukturierteste unserer ganzen Zeit in New York. Da der Flug von JFK nach Berlin erst nach 17 Uhr startet, steht jedes Mal ein guter Dreivierteltag zur Verfügung, den es sinnvoll zu füllen gilt. Er soll stressfrei ablaufen, aber dennoch irgend etwas Schönes bringen. In den Vorjahren gönnte ich mir jeweils einen abschließenden Museumsbesuch um von meinem aktuellen Lieblingskunstwerk Abschied zu nehmen. Damit erntete ich aber kein Wohlwollen meiner Frau, die argwöhnte, ich könnte ausgerechnet am letzten Tag verschütt gehen und damit die Heimreise vermasseln. Deshalb fassen wir diesmal den Entschluss in Queens zu bleiben, von wo aus es nur ein Katzensprung zum Flughafen ist. Auch Verkehrsstaus schrecken da nicht, da von Jackson Heights die Metrolinie E bis Sutphin Boulevard fährt, dem Umsteigebahnhof zum JFK Air Train, mit dem man in Minutenschnelle jedes gewünschte Terminal des JFK Airports erreicht. Der neue super-entspannte Abreisetag beginnt mit einem ausgiebigem Frühstück und dem Abschiedsbesuch verschiedener Freunde und führt nach Kofferpacken, letzten Einkäufen und einem sehr leckeren Abschiedsmahl bei einem der in Queens besonders zahlreichen Chinesen zum endgültigen Entschluss zum Aufbruch. Es muss nur noch das Eintreffen der Enkelin von der Schule und der tränenreiche Abschied mit ihr abgewartet werden. Trotz Online-Check-In und der geschilderten einfachen Verbindung zum Flughafen wird einem jedes Jahr ein früheres Erscheinen auf dem Flughafen nahe gelegt. Heuer sind es drei Stunden, deshalb ist jetzt die sofortige Abfahrt mit dem E-Train auf der Station Jackson Heights/Roosevelt Avenue angesagt.

Nach wenigen Minuten haben wir den Umsteigebahnhof zum Air Train nach JFK erreicht. Dieser ist ein neuartiges, vollautomatisches Schienenverkehrsmittel mit Linearantrieb, bei dem der Zug über Magnete vorwärts gezogen oder gebremst wird. Anders als bei einer reinen Magnetbahn rollt der Zug noch auf Rädern, die aber nicht mehr angetrieben und gebremst werden müssen. Da der Air Train als Elevated Railway ausgelegt ist und die Züge dem New Yorker Klima voll ausgestzt sind, bietet diese innovative Technik mehr Sicherheit bei Eis und Schnee. Auch die Wegrationalisierung des Fahrpersonals hat man bei dieser „Innovation“ gleich mit durchgezogen, ein Umstand, der bei uns leichten Grusel auslöst. Aber wir genießen schließlich doch noch das angenehme Gefühl des ruckfreien, fast lautlosen Fahrens. Der Air Train hat zwei Anschlussbahnhöfe zum Zug- und Subwayverkehr und besteht ansonsten aus einer Ringlinie, die die sechs Passagierterminals miteinander verbindet. Jedes Terminal ist ein kompletter Flughafen mit Bahn- und Busanschluss, Parkhäusern, Check-In-Schaltern, Shops und Wartebereich. JFK ist gewissermaßen eine Zusammenballung von acht Flughäfen! (Zwei davon sind Frachtterminals ohne Haltestelle des Air Train). Die riesige Ausdehnung des Flughafenareals wird dadurch ermöglicht, dass es sich im unbewohnten, von Wasserläufen durchzogenen Marschland an der Jamaica Bay befindet.

Obwohl der hochnotpeinliche Immigration-Check bei der Ausreise entfällt, ist einem doch jedes Mal etwas bange, welche brandneue Prozedur der Sicherheitskontrolle aktuell gerade praktiziert wird. Stressig ist das Ganze sowieso, weil sich endlose Schlangen an den Gepäckbändern bilden und man immer mehr Plastikwannen mit Dingen füllen muss, die man nicht am Körper tragen darf. Da ist die Frage, ob man die Schuhe ausziehen muss, nur weil es vor jetzt fast 19 Jahren den verrückten „Schuhbomber“ Richard Reid gegeben hat, der nach seiner Verurteilung nun für den Rest seines Lebens im Knast in Colorado schmort und/oder muss man den Gürtel herausziehen und auf Socken und mit rutschender Hose unter Verlust der Menschenwürde am Kontrollpersonal vorbei defilieren? Wir profitierten dieses Mal von der Neuregelung, die über 70jährigen diese demütigende Prozedur erspart. Aber dann das hastige Wiederanziehen, bedrängt von beständig nachrückenden Mitreisenden und der Furcht Portemonnaie, Papiere, Laptop und Smartphone in der Wanne liegen zu lassen. Im Glücksgefühl alles wieder verstaut zu haben, vergesse ich meinen Koffer am Gepäckband, merke das aber gerade noch rechtzeitig, bevor der Alarm losheult und das herrenlose Gepäckstück gesprengt wird.

Nach alledem ist es geradezu erholsam im ungemütlichen Wartebereich, eingeklemmt vom voluminösen „Handgepäck“ der Mitreisenden, am Ipad ein wenig die Reise aufzuarbeiten – doch das free Wifi des Flughafens funktioniert nicht (Auf keiner unserer NY-Reisen hat es je funktioniert!). Aus dem Internet lade ich bei Boingo eine Stunde Internet für 5 $ herunter, nicht wissend, dass ich damit ein Abonnement abgeschlossen habe, was mir dummer Weise erst nach einigen Monaten regelmäßiger Abbuchung vom Konto auffällt. Nach dem problemlosen und raschen Einsteigen ins Flugzeug ist nun die letzte Hürde erreicht: Unsere Maschine muss inmitten von hunderten ebenfalls abfliegenden Flugzeugen eine Startposition ergattern, ohne die das Einfahren auf die Rollbahn unmöglich ist. In solch einer Warteposition haben wir oft schon Stunden zugebracht.

Dennoch muss ich sagen, dass für Menschen mit Flugangst, wie ich einer bin, durch die vielen New York Flüge ein Gewöhnungseffekt eingetreten ist, der mir nur noch Fernost- oder Australienflüge als gefährlich vorkommen lässt – aber da will ich sowieso nicht hin. Meine Frau bewältigt das Problem viel effizienter: Sie konsumiert acht Stunden lang das komplette Unterhaltungsprogramm von Delta Airlines und schläft dabei immer wieder ein. Nur ein tiefes Tal müssen wir noch gemeinsam durchschreiten, nämlich am nächsten Morgen das Rückflug-Frühstück mit gefrorenen Brötchen und allerlei in Plastik eingeschweißtem Zeug, gegen das sich vermutlich nur Amerikaner nicht wehren. Diesmal ist es definitiv die schlechteste Mahlzeit (obwohl bereits dieser Begriff völlig daneben liegt), die wir je an Bord eines Fliegers eingenommen haben.

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