New York im Kaleidoskop

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23 New Yorks Kehrseiten

Klima

Zur Zeit unserer Anwesenheit, Anfang Mai, ist es mit 32 Grad gerade sommerlich heiß. Aber die Temperaturschwankungen von 10 bis 20 Grad, unter denen wir in der letzten Woche gelitten haben, gelten hier als ganz normal. Die Gebirgsketten des amerikanischen Kontinents verlaufen alle in nord/südlicher Richtung, was bewirkt, dass bei entsprechenden Winden kalte Luft aus dem Norden ebenso wie warme Luft aus dem Süden sehr schnell überallhin transportiert wird. Eine Klimabarriere etwa wie die Alpen oder die Pyrenäen in Europa gibt es hier nicht und deshalb können Orangen in Florida ebenso schnell abfrieren wie in New York Anfang März Schnee und Eis durch einen Wärmeeinbruch wegschmelzen. Bei Nordwind kann es im Winter in New York extrem kalt werden und jeder kennt die Fotos mit den Dampfsäulen über den Gullys und Subwayeingängen. Bei großer Luftfeuchtigkeit im Winter gibt es Schneefälle, die das städtische Leben zum Erliegen bringen und die gleiche Feuchte sorgt im Sommer für unerträgliche Schwüle. Hurricanes und Blizzards begleiten die Zeiten der Wetterumstellung und uns allen sind die katastrophalen Folgen von Hurricane „Sandy“ im Jahre 2012 noch in Erinnerung. Das Wetter ist einer von vielen Faktoren, die das Leben in NY anstrengender machen, als es anderswo ist.

Stress

Ein anderer ist die in der Stadt herrschende Hektik, denn wie überall in den Megastädten der Welt sind die Menschen darauf eingestellt, dass es in ihnen schneller zugehen muss als anderswo. Das erfährt in New York noch eine Steigerung, denn die Stadt mit ihren 8,5 Mio Einwohnern befindet sich innerhalb eines Ballungsraumes von 22 Mio Menschen. Die Kommunikationsmittel sind für solch eine Ansammlung entweder gar nicht ausgelegt oder am Rande ihrer Kapazität. Deshalb entstehen immer wieder Verzögerungen, Staus und Pannen, die man durch gesteigerte Geschwindigkeit wieder aufholen will. Alle in Jobs mit Publikumsverkehr Beschäftigten reden sehr schnell und vor allem laut, um sich keinesfalls wiederholen zu müssen. Die Leute als auch die Fahrzeuge auf der Straße bewegen sich schneller als auf dem Lande und im Berufsleben haben langsame Arbeiter nur schlechte Chancen.

Lärm

Ein weiterer Faktor – und keinesfalls der unwichtigste – ist der Lärm, von dem man den ganzen Tag eingehüllt ist. Wo immer man sich aufhält, wird man von einer Vielzahl von Geräuschen auf einmal heimgesucht und ich versuche einmal, diese allein durch lautmalende Substantive auszudrücken:

In den Verkehrsmitteln: Rattern der Hochbahnen, Rumpeln der Subway, Zischen der Subwaytüren, Gedröhn der Lautsprecheransage, Stimmengewirr in allen Sprachen, Gekreisch von Teenagern, Gebrüll von Evangelikalen, Gedudel von Musikern, Rattern der Klimaanlage, etc.

Auf der Straße: Gehupe der Autos, Knattern der Motorräder, Rumpeln der Busse, Donnern der trucks, Zischen der Bremsen, Piepen beim Rangieren, Heulen der Ambulanzen, Jaulen von Streifenwagen, Gebimmel des Eiswagens bei gutem Wetter, Rauschen der Klimaanlagen, Stimmengewirr in allen Sprachen, Pfeifen der Flugzeuge nach La Guardia, etc.

Zu Hause: Stimmengewirr in Englisch, Russisch, Deutsch, lautstarke Diskussionen, Übertönen des anderen im Streit, Geklapper von Geschirr, Ächzen der Spülmaschine, Straßenlärm von draußen, Knarren des Türsummers, Scheppern des Aufzuggitters, Klingeln und Piepsen der Smartphones, etc. In unserem Fall sind die Geräusche zu Hause eindeutig die am wenigsten stressenden von allen genannten, aber wie mag das in einem weniger intakten Viertel sein, wo sich die Bewohner mangels Rücksichtnahme gegenseitig die Lebensqualität rauben.

Als Besucher hat man es ja noch gut, denn ist man vom Wetter, der Hektik und dem Lärm angefressen, kann man ohne Weiteres einen ruhigen Tag zu Hause einlegen, was dem berufstätigen Einheimischen gar nicht vergönnt ist. Die Urlaubszeit ist kürzer als in Europa, es gibt weniger Feiertage und die liberalisierten Ladenöffnungszeiten verhindern für die dort Beschäftigten eine gemeinsame Freizeitplanung mit ihren Angehörigen. Hinzu kommen die weiten Wege zum Arbeitsplatz, denn die wenigsten der in Manhattan Arbeitenden verdienen genug um dort auch zu wohnen. So kommen zur Arbeitszeit noch lange Anfahrtwege und der tägliche Kollaps des Verkehrssystems erzeugt neuen Stress bei den Beteiligten.

Soziale Segregation

Aber auch die Freizeitgestaltung bringt Stress, denn nur die wenigsten Attraktionen sind kostenlos wie der Central Park und die Highline. Überall zahlt man gepfefferte Preise und wenn man mit der Familie nur etwas trinken oder Eis essen geht, sind ganz schnell 50 $ weg. Will man ins Umland, zahlt man erst mal eine Mautgebühr an den strategisch wichtigen Brücken und Tunnels und bei Sehenswürdigkeiten, Museen, Theatern, Konzerten, ja selbst im Kino sind die Eintrittsgelder viel höher als bei uns. Schließlich gewöhnt man sich einfach daran, dass alles etwas kostet, sofern man ein geregeltes und nicht zu knappes Einkommen hat.

Allerdings haben viele ein solches nicht und wenn man mit den Unterprivilegierten konfrontiert ist, wie beispielsweise mit den Latinos, die auf der Suche nach 5-Cent- Pfandflaschen gigantische Plastiktüten durch die Straßen ziehen, den Bettlern und Musikanten in Bahnhöfen und Zügen und den homeless mit ihrer gesamten Habe in einem geklauten Einkaufswagen, wird einem schon klar, dass die Spaltung der Gesellschaft in Amerika viel weiter fortgeschritten ist als in Europa. Zwar existiert auch in NY staatliche Unterstützung durch Sozialhilfe und Sozialwohnungen, aber insbesonders die Ballung von letzteren in bestimmten Neighborhoods sorgt für eine räumliche Segregation zwischen arm und reich, die es in diesem Ausmaß bei uns noch nicht gibt.

Ständiger Umbruch

Alle Wohngebiete befinden sich in einem ständigen Umbruch, in einer Pendelbewegung zwischen Gentrifizierung und Verslumung. Erstere vertreibt Bezieher mittlerer Einkommen aus ihrem gewohnten Umfeld in ein sozial prekäres und letztere sorgt durch wachsende Kriminalität, Verdreckung, Lärm und Rücksichtslosigkeit dafür, dass sich die Bewohner das Leben gegenseitig zur Hölle machen und solche Problemviertel letztlich abgerissen werden. In Europa ist solch ein Teufelskreis vom Neubau eines Wohngebiets, Abstieg durch permanent zuziehende Unterprivilegierte, Vernachlässigung der Substanz, Verfall, Abriss und anschließendem Neubau noch nicht so ausgeprägt wie in Amerika; das Recycling ganzer Stadtviertel fand bei uns bestenfalls nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs statt. Mir erscheint die Abrissmentalität, der in gar nicht schöner Regelmäßigkeit immer wieder bedeutende Gebäude zum Opfer fallen, als typisch amerikanisch: Der Stellenwert des Profits, der Glaube an den ständigen Fortschritt und die Sucht nach immer wieder Neuem hat in Europa nur wenig Vergleichbares. Erst in allerletzter Zeit begründen sich Initiativen, die sich gegen den Abrisswahn wenden, Gentrifikation als soziales Übel bekämpfen und ein Miteinander aller Gesellschaftsschichten im selben Stadtviertel anstreben. So hat gerade die Einweihung der Hudson Yards, eines aberwitzig teuren Luxusprojekts am Anfang des Highline Park große Proteste ausgelöst.

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