20 Queens
Von Manhattan kommend, erreicht man Queens zu Fuß oder mit dem Auto via Roosevelt Island auf der Queensboro Bridge. Diese Stahlfachwerkbrücke ist, wie alles in Queens, nicht von ausgesprochener Monumentalität, aber parallel zu ihr verläuft eine interessante Seilbahn, in der der Fußgänger spektakulär über dem East River schwebt und auf Roosevelt Island aussteigen kann. Früher befanden sich auf der schmalen, 3,5 km langen Insel Straf- und Krankenanstalten sowie die berüchtigte, von Charles Dickens beschriebene Irrenanstalt New York City Lunatic Asylum. Anfang der 1970er Jahre musste das alles der Umgestaltung der Insel in ein weitgehend autofreies, reines Wohngebiet weichen, welches besonders im Norden sehr luxuriös ausgefallen ist. Vom Lunatic Asylum blieb nur das Octagon, sein achteckiges Zentralgebäude, das in ein besonders schickes Apartmenthouse umgebaut wurde.
Die Gentrifizierung, die überall in der Stadt um sich greift, existiert auch auf der anderen Seite des East River, in Queens, obwohl gerade dieses Viertel als Heimat der „durchschnittlichen“ New Yorker gilt, nämlich derjenigen, die nicht so viel verdienen, die einen Migrationshintergrund haben und die in Sozialwohnungen bzw. relativ preiswerten Behausungen leben. Doch geht man an der waterfront von Long Island City spazieren, der Neighborhood nördlich von Brooklyn und südlich der Queensboro Bridge, bekommt man einen Eindruck, in welche Richtung sich auch Queens entwickeln wird, insbesondere in den Partien am Wasser. Direkt gegenüber dem UN Headquarters bildet sich jetzt auch auf dem Ostufer des East River eine Skyline heraus, die im Gegensatz zu Manhattan nur aus Wohngebäuden mit Luxusstandard besteht. Seit 2001 wird hier ehemaliges Industriegelände in ein schickes Wohnviertel verwandelt, 41 neue Hochhäuser entstanden allein zwischen 2010 und 2017. Wie überall ging die Aufnobelung des Viertels mit der Anlage von Uferparks und der Eröffnung von Kunstgalerien, Museen und Studios einher. An der Stelle eines alten Hafengeländes und einer Pepsi-Cola-Abfüllanlage entstand der 16 ha große Gantry Plaza State Park, in den mehrere alte Portalkrane des Hafens integriert wurden. Innerhalb des Parks befinden sich zahlreiche Sitzgelegenheiten, alte Piers und eine Promenade am Wasser. Das 37 m lange und 18 m hohe Pepsi-Werbeschild der Abfüllanlage, das sich früher auf dem Dach befunden hatte, wurde im Park wieder aufgestellt und ist heute sein Wahrzeichen.
Aschenputtel Queens
Ich möchte mich aber lieber „unserem“ Queens widmen, dem Viertel, in dem wir wohnen, wenn wir im Big Apple zu Besuch sind – dem flächenmäßig größten Stadtviertel von New York. Es kommt mir ein wenig vor wie das Aschenputtel unter den boroughs der Metropole, denn es besitzt keine spektakulären Sehenswürdigkeiten und liegt auch von seiner Bedeutung her im Schatten von Manhattan und Brooklyn. Ausnahmen mögen die beiden Flughäfen JFK und La Guardia sein, über die der Reisende in der Regel New York erreicht und für Sportfreunde das Turnier von Flushing Meadows, bei dem jedes Jahr die Weltelite des Tennis zu Gast ist. Architektonisch hat Queens wenig zu bieten, keine imposante Skyline und keine prachtvollen Beaux Arts Gebäude wie in Manhattan, weder monumentale Platzanlagen noch bedeutende Einzelgebäude. Zwei Straßenzüge, die das ganze Viertel durchqueren, spiegeln für mich den Charakter von Queens am besten. Zum einen Northern Boulevard, eine breite Magistrale, die den Verkehr von der Queensboro Bridge quer durch das Viertel nach Norden aus New York heraus auf Long Island führt. Alles andere als ein „Boulevard“, gesäumt von schäbiger, zumeist zweistöckiger Randbebauung mit banalen, billigen Gebäuden, zieht er sich schier endlos durch den Bezirk. Und zum anderen Roosevelt Avenue, auf deren Mitte die verwahrloste Hochbahntrasse der Linie 7 nach Flushing verläuft. Die Wohnhäuser stehen so dicht an der Bahn, dass die Züge gleichsam durchs Schlafzimmer donnern. Hier wird deutlich, warum Fiorello LaGuardia in den 1940er Jahren den Abbau der elevated lines in Manhattan durchsetzte, denn sie sind gesunden Wohnverhältnissen absolut abträglich: Fährt ein Zug, ist es so laut, dass man sein eigenes Wort nicht versteht, die breite Trasse verdunkelt die ganze Straße und unter ihr tobt unablässig der stinkende Autoverkehr. Beide Straßenzüge sind von einer ununterbrochenen Reihe kleiner Geschäfte gesäumt, in Roosevelt Avenue die von lateinamerikanischen Ladenbesitzern mit immer dem gleichen Angebot. In den 1960er und 70er Jahren, als durch gelockerte Nachzugs-Regelungen eine Welle von Latinos in das Viertel hinein schwappte, spielte sich über sie der Drogenhandel ab, aber womit diese Läden in den Zeiten von zero tolerance ihren Gewinn erwirtschaften, bleibt unerfindlich.
Queens liegt auf Long Island, sowohl nördlich von Brooklyn als auch östlich davon und reicht bis zu der im Süden der Insel gelegenen Halbinsel Rockaway. Von Brooklyn ist es durch den Newtown Creek getrennt, einen Meeresarm des East River, der in den letzten 200 Jahren so intensiv für Hafen- und Industriezwecke genutzt wurde, dass er heute zu den am meisten verschmutzten Gewässern der Stadt gehört. In der Zeit der niederländischen und englischen Besiedlung lagen auf dem jetzigen Stadtgebiet nur einzelne Dörfer wie Vlissingen = Flushing, Middenburg oder Newtown = Elmhurst, Yameco = Jamaica und Maspeth. Der Name von Queens County, benannt nach Queen Catherine of Braganza, der Ehefrau Karls II. von England, ging mit der Zeit auf das sich nur langsam entwickelnde Stadtgebiet über. Nach der Eingemeindung in Greater New York im Jahre 1898 und dem daran anschließenden Ausbau der Verkehrsverbindungen nach Manhattan begann endlich der Aufstieg des Borough zur Großstadt.
1909 errichtete man die Queensborough Bridge, die über Roosevelt Island nach Manhattan führt und 1910 wurde der Tunnel der Long Island Railroad (LIRR) unter dem East River eingeweiht. Daraus ergab sich eine solche Dynamik, dass Queens um 1930 bereits eine Million Einwohner hatte. Genau wie in Brooklyn entstand am East River ein Industrieviertel mit Hafenanlagen, Fabriken, Speichern, Kraftwerken, Öltanks und Kleingewerbe, während das Gebiet östlich davon zum Wohnen genutzt wurde. Ohne größere Planung (bis auf wenige Ausnahmen) schossen überall Wohnblocks in die Höhe, in welche Arbeiter aus Manhattan einzogen um den dortigen armseligen Lebensbedingungen zu entkommen. Dieser Prozess, der die weniger Bemittelten ständig dazu zwingt, sich neue Wohnorte zu suchen, hält immer noch an und ist die Ursache dafür, dass in New York jeden Tag Millionen von Menschen unterwegs sind – von der Wohnung zum weit entfernten Arbeitsplatz und wieder zurück. Die Gentrifizierung ganzer Neighborhoods verschärft die Situation noch, weil die Alteingesessenen wegen der unerschwinglich werdenden Preise fürs Wohnen wegziehen müssen.
Eine wichtige Rolle im Management des Wohnproblems spielt die 1934 von Fiorello LaGuardia gegründete New York Housing Authority (NYCHA). Sie besitzt in der ganzen Stadt 2.500 Gebäude mit 180.000 Apartments für etwa 400.000 Menschen, fast fünf Prozent aller New Yorker. Anspruch auf eine Wohnung haben nur Einwohner mit Einkünften unterhalb einer bestimmten Grenze. Als Miete zahlen sie höchstens 30 % ihres Einkommens und kommen so auf eine monatliche Durchschnittsmiete von 397 $ (2009), gegenüber 2.700 $ im Durchschnitt für ganz New York. In Queens sind die von der NYCHA betriebenen Queensbridge Houses die grösste zusammenhängende Sozialsiedlung der Vereinigten Staaten mit mehr als 3000 Wohnungen in 96 Gebäuden. Stellt schon allein die Zusammenballung von ca. 10.000 Sozialhilfeempfängern auf so engem Raum ein erhebliches Problem dar, so wurde dieses durch das verfehlte NYCHA Management noch verschärft. Die strikte Auslegung der Bestimmung, dass berechtigte Bewohner nur maximal 3.000 $ im Jahr verdienen dürfen, führte zur Umsiedelung derjenigen, die knapp darüber lagen, in Wohnprojekte für Bezieher von mittleren Einkommen. Die wegziehenden waren überwiegend Weiße, für die Schwarze und Latinos nachrückten, wodurch Queensbridge Houses zu einem sozialen Brennpunkt mit Rassentrennung, Armut, Kriminalität und Drogenmissbrauch herabsank. Andererseits entwickelte sich aber auch die Alternativkultur von Rap, Hip Hop und Breakdance gerade in solchen Vierteln.
Geflüchtete und Weggezogene fanden zu allen Zeiten Aufnahme in Queens, das deswegen der multikulturellste Stadtteil nicht nur New Yorks, sondern vermutlich der ganzen Welt geworden ist. Ungefähr die Hälfte der 2,4 Millionen Einwohner sind nicht in den USA geboren und weit weniger als die Hälfte spricht zu Hause Englisch. Die Mehrheit der Einwohner sind Lateinamerikaner, darunter mehrheitlich Portorikaner, Mexikaner, Dominikaner, Salvadorianer, Ecuadorianer und Kolumbianer. Aber auch die Asiaten sind stark vertreten, 40% aller Chinesen New Yorks leben hier, daneben noch Inder, Koreaner, Filipinos, Bangladeshi und Pakistani. Russische Juden stellen die drittgrößte Bevölkerungsgruppe, während die einstmals klassische Einwanderung aus Europa fast zum Erliegen gekommen ist. Der Prozentsatz von deren Nachfahren aus Italien, Irland, Deutschland, Polen, Russland und Griechenland nimmt im Vergleich mit den vorher genannten Nationen beständig ab. Die WASP-Bevölkerung (White-Anglo-Saxon-Protestant) ist in Queens mit 17 % in der Minderheit, was nicht unproblematisch ist, denn Rassismus, Trumpismus und Fremdenfeindlichkeit finden in dieser Klientel ihre Anhänger.
Der positive Nebeneffekt des Aschenputtel-Daseins von Queens liegt darin, dass es (noch) nicht als hip gilt und viele Künstler jenseits des Mainstreams es genießen, sich hier eher unauffällig zu entfalten. Nicht von ungefähr hatte der Punk mit The Ramones in diesem Borough seine Wurzeln wie auch aktuell viele Musiker der Techno-Szene und des Hip Hop hier heimisch sind. Auch früher schon bevorzugten berühmte Künstler diesen Wohnort wie die Jazzer Louis Armstrong, Charlie Parker und Ella Fitzgerald, der Fotograf Robert Mapplethorpe und der Regisseur Francis Ford Coppola. In Astoria befinden sich die gut ausgelasteten New Yorker Filmstudios, um die aber bedeutend weniger Wind gemacht wird als um Hollywood. Und solange das Queens abseits der Waterfront nicht hochgehypt wird, wie es in Brooklyn gerade geschieht, kann es weiterhin den Geringverdienern als willkommenes Refugium dienen, egal ob sie in der Off-Szene tätig sind, zu den weniger bekannten Musikern und Künstlern gehören, Angehörige der LGBTQ-Community sind oder schlicht zu den „Normalbürgern“ zählen.
Flushing
Im Stadtteil Flushing, dessen Name von Vlissingen abgeleitet ist (dem Herkunftsort der ersten niederländischen Siedler), konzentrieren sich die wenigen „Sehenswürdigkeiten“ von Queens: Das Ausstellungsgelände, der Park und die Sportanlagen. 1939/40 sollte es zum ersten Mal eine Weltausstellung in New York geben, wobei aus Platzgründen von vornherein klar war, dass sie außerhalb Manhattans stattfinden würde. Die Flushing Meadows, sumpfige Wiesen im Norden der Neighborhood, die jahrzehntelang als Asche- und Mülldeponie die Einwohner belästigt hatten, boten nach der Sanierung ausreichenden Baugrund für die Ausstellung und auch noch Platz für das Projekt eines großen Landschaftsparks. Die Weltausstellung war für eine Rekord-Besucherzahl ausgelegt, litt aber stark unter dem Beginn des Zweiten Weltkrieges und der Nichtteilnahme von China (weil im Krieg mit Japan befindlich) und Deutschland (Boykott der „jüdischen“ Ausstellung) und endete mit einem erheblichen Defizit. Wegen fehlender Investitionen kam eine anschließende Nachnutzung des Ausstellungsgeländes auch nicht in Gang und es begann der allmähliche Verfall. Immerhin diente wenigstens noch eine Halle von 1946 – 50 als Versammlungsort der neu gegründeten United Nations. Nach dem Auszug der UN bezog das Queens Museum dieses eine Gebäude und präsentiert hier das riesige Stadtmodell von New York, während die anderen weder genutzt noch unterhalten wurden und außerdem das Parkprojekt unverwirklicht vor sich hin dümpelte.
Diese unerfreuliche Situation nahm man zum Anlass, 1964 erneut eine Weltausstellung zu veranstalten und bei ihrer Verwirklichung die Fehler der ersten zu korrigieren. So wurde die geplante Parkanlage nun tatsächlich realisiert, aber nicht – wie großmäulig versprochen – als „Central Park des 20. Jh.“ von ganz New York, sondern als kommunales Projekt. Flushing Meadows Corona Park mit seinen zwei künstlichen Seen liegt eingeklemmt zwischen zwei Highways; westlich und östlich davon befinden sich als kleinere Anlagen der Zoo und der Botanische Garten, nördlich das Ausstellungsgelände und die Sportstätten. Die neuen Ausstellungsgebäude wurden von Anfang an als temporäre Bauten konzipiert, die nach dem Ende wieder demontiert werden sollten. Als Wahrzeichen der neuen Expo entwarf ihr Architekt Gilmore David Clarke die “Unisphere”, einen riesigen Globus aus 350 Tonnen Stahl, Symbol für das Motto der Ausstellung: „Peace Through Understanding“. Jedesmal auf unserem Weg vom und zum JFK Airport kommen wir an dieser Skulptur vorbei und konnten neulich, nach dem Besuch des Central Parks, am Columbus Circle feststellen, dass dort noch eine Unisphere steht – allerdings viel kleiner. Von der Straße am Park aus sieht man verwahrloste Gebäude aus dem Gelände herausragen. Lediglich zwei Hallen und drei dazugehörige Türme blieben nach der Expo stehen, teilten aber sehr bald das Schicksal ihrer Vorgänger aus der ersten Weltausstellung, weil man sie ebenfalls vernachlässigte und selbst noch den Abriss für zu teuer hielt. Angebliche Sicherungsmaßnahmen richteten weitere Schäden an und als sich Obdachlose in den Ruinen breit machten und zudem eine spektakuläre Gewalttat verübt wurde, riss man kurzerhand eine der Hallen ab. Derzeit wird über die Zukunft des letzten verbliebenen Originals – des NY State Pavilion – diskutiert, eines von stählernen Stützen umgebenen Rundbaus, über dem ein spektakuläres Dach aus Plexiglasplatten an Stahlseilen aufgehängt war. Das futuristische Ensemble von Philip Johnson, zu dem auch die drei ruinösen, jetzt nicht mehr begehbaren Aussichtstürme gehören, ist nur noch ein Fragment, nachdem das marode Dach abgetragen wurde. Trotz der Beschädigungen steht das Ganze seit 2010 unter Denkmalschutz, was wegen der brüchigen und rostigen Bausubstanz hoch problematisch ist und Baustoffe (wie Asbest, Bleifarbe und sonstige giftige Lacke) verarbeitet sind, die als außerordentlich gesundheitsschädlich gelten.
Der dritte Tragpfeiler der Anlagen in Flushing Meadows sind die Sportstätten, die von Anfang an Teil der Planungen waren. Da gibt es das 45.000 Zuschauer fassende Citifield, ein 2009 erneuertes Stadion für New Yorks Baseball Team, die New York Mets, ferner das Arthur Ashe Stadion mit einer Kapazität von 22.500 Zuschauern, das größte Tennisstadion der Welt, in dem jährlich die Endspiele der US Open ausgetragen werden. Da sich in den Zeiten des Verfalls die New Yorker Skaterszene auf dem Gelände bereits illegal breit gemacht hatte, sorgte die Stadtverwaltung nun für einen offiziellen Scate Park, in dem jedermann diesem Hobby nachgehen kann. Und nicht zuletzt steht in der Nordostecke des Ausstellungsparks ein Schwimmstadion, in dem auch unsere Enkelin als Teenager bei Wettkämpfen gestartet ist; ihre finanziell höchst erfolgreichen Schwimmstunden gab sie dagegen in einem Schwimmbad in Brooklyn. Im Winter kann man in der selben Anlage in Queens auch Schlittschuh laufen.
Jackson Heights
In der Neighborhood Jackson Heights, die von der Roosevelt Avenue im Süden und dem Astoria Boulevard im Norden begrenzt wird, wohnt unsere Familie. Südlich des Northern Boulevard, der das Viertel in der Mitte durchschneidet, plante die Queensboro Corporation Anfang der 1920er Jahre eine Muster-Wohnsiedlung in der Absicht, Angehörige der gut situierten Mittelschicht aus Manhattan nach Queens zu locken. Seit dem Bau der Subway-Linien zwischen den beiden Boroughs betrug die Fahrzeit ins Zentrum zwar nur noch wenige Minuten, aber trotz dieser Verbesserung bedurfte es einiger zusätzlicher Anreize, Pensionäre, gut verdienende Angestellte oder grundsätzlich Angehörige des Mittelstands zum Umzug nach Queens zu bewegen. Northern Boulevard, die Ausfallstraße aus Manhattan, hieß damals noch Jackson Avenue und der Name „Jackson Heights“ sollte signalisieren, dass die neue Siedlung draußen, in bevorzugter Lage auf einer Anhöhe läge. Es gibt zwar in der ganzen Neighborhood keine einzige Erhebung, aber das fiel damals den wenigsten auf. Als Klientel war grundsätzlich nur die WASP-Gemeinschaft erwünscht: Schwarze, Latinos und Juden (und sogar Griechen und Italiener) sollten außen vor bleiben. Bei der Bauplanung orientierten sich die Bauherren an zwei europäischen Prinzipien: Der Gartenstadt-Idee von Ebenezer Howard aus England und dem deutschen Genossenschaftsbau. Vor Baubeginn unternahm eine Kommission der Queensboro Corporation deshalb sogar eine Europareise und besichtigte in Berlin einige Siedlungen, die das Architektenbüro Mebes und Emmerich für den Beamten-Wohnungs-Verein errichtet hatte.
In Jackson Heights führten die Erkenntnisse dieser Reise zum Bau einer vorbildlichen Wohnanlage mit 5 bis 6-geschossigen, klinkerverblendeten Wohnblocks, die als Randbebauung jeweils eine ganze Insel zwischen zwei Avenues und Streets einnahmen und in der Mitte Platz für einen gemeinschaftlich genutzten Garten ließen. Zuvor hatte die Gesellschaft das Land parzelliert, Straßen und Bürgersteige angelegt und sogar für die Versorgungsleitungen für Wasser, Abwasser und Elektrizität gesorgt. Der größte Teil von Jackson Heights ist heute von solchen Blocks geprägt, die die Queensboro Corporation mit unterschiedlich großen Häusern bebaute. Im Falle unserer Familie mit 20 Wohnungen pro Gebäude, die zum größten Teil nach dem co-op Modell betrieben werden. Die potenziellen Bewohner mussten damals – wenn sie den oben genannten Kriterien genügten und von der Genossenschaft akzeptiert worden waren – einen höheren (aber dennoch bezahlbaren) Betrag in die Kooperative einzahlen, der das Anrecht auf eine Wohnung sicherte. Dieser Anspruch (nicht aber die Wohnung, die im Besitz der Kooperative verblieb) konnte unter der Voraussetzung weiter verkauft werden, dass die Wohnungsbaugesellschaft auch den neuen Käufer akzeptierte. Bei großer Nachfrage stieg der Verkaufspreis der Anrechte, im entgegengesetzten Fall konnte er auf ein so niedriges Niveau sinken, dass das Projekt plötzlich auch für eine andere als die anvisierte Klientel erschwinglich wurde. Es gibt in New York noch ein anderes Betreibermodell, das Condominion, welches eher den europäischen Eigentumswohnanlagen gleicht. Hier ist der Bewohner Eigentümer seiner Wohnung, die er frei verkaufen oder vermieten kann, obwohl auch hier Einschränkungen durch die Eigentümerversammlung möglich sind.
Die Gebäude von Jackson Heights sind ansprechend gestaltet, mit historischen Architektur-Zitaten geschmückt (bevorzugt im englischen Tudor-Stil) und von gepflegten Grünanlagen umgeben; der Garten im Innenhof ist nur den hier Wohnenden zugänglich. Die Treppenhäuser sind mit Travertin ausgekleidet und besaßen von Anfang an Fahrstühle. In den Apartments finden sich Parkettfußböden, helle Räume, ein Kamin und Badezimmer mit eingebauten Badewannen. Neben den Wohnblocks blieb hinreichend freier Platz für Sportanlagen, wie Tennisplätzen und sogar einem Golfplatz sowie Parkgaragen, was später allerdings ebenfalls der Bebauung anheim fiel, als die Baugesellschaft in finanzielle Schwierigkeiten geriet. Ihr Gewinn-Konzept ging nämlich niemals auf, da längst nicht alle Wohnungen an den Mann gebracht werden konnten. Aus diesem Grunde senkte man die Preise, bebaute das Areal dichter und lockerte die Vergabebedingungen, was einen Teufelskreis zur Folge hatte. Einströmende Migranten und die damit einhergehende soziale Degradierung der Neighborhood bewirkten, dass die Preise für die Anrechtscheine weiterhin fielen und noch mehr, im Betreiberkonzept nicht vorgesehene, Bevölkerungsgruppen in das vorher gutbürgerliche Viertel einsickerten. Seither bestimmen die in den 1970er Jahren nach Queens eingewanderten Latinos das Image von Jackson Heights. Für unsere Familie hatte dieser „Niedergang“ des Viertels den Vorteil, dass sie an eine Wohnung herankamen, die sie sich sonst nie hätten leisten können. Heute, nachdem man die Vorteile der menschenfreundlichen Bauweise der 20er Jahre wieder allgemein schätzt, ist sie ein mehrfaches des damals eingezahlten Betrages wert. Die luxuriöseren der Queensboro Apartments wie „The Château“ und „The Towers“ mit doorman, großen, luftigen Wohnungen und von den anderen abgehobener Architektur (französische Renaissance) strahlen heute wieder gediegenen Wohlstand aus. Dazu passen die baumbestandenen Straßen und die gute Infrastruktur, die aus Jackson Heights wieder eine ansprechende Neighborhood machen. Meine Lieblingsorte sind die 37th Avenue mit ihren multikulturellen Läden und dem unter Denkmalschutz stehenden Postgebäude sowie das niedliche, zweistöckige Einkaufszentrum aus der Entstehungszeit der Siedlung im Stile des Historismus, welches an der Hochbahnstation Jackson Heights / 82nd Street liegt.
Anstelle der fehlenden Monumentalbauten bietet Queens eine Fülle kleiner, sympathischer Details. Als erstes ist die kulinarische Szene zu nennen, denn jede der unzähligen Ethnien des Stadtteils betreibt hier eigene Restaurants. Charakteristisch für Queens sind sie einfach und preiswert – so wie die an einer Straßenkreuzung von Elmhurst, wo unterschiedlichste ostasiatische Restaurants Tür an Tür liegen. Ein mehrgängiges Mahl bekommen wir hier für einen Spottpreis; in Manhattan hätte man für dieses Geld überhaupt nichts bekommen! Zweitens gibt es hier PS1, die Außenstelle des MoMA, die in einer stillgelegten öffentlichen Schule (Public School One) untergebracht ist. Es ist kein protziger Museumsbau wie in Manhattan, sondern nichts anderes als ein etwas heruntergekommenes, jetzt leer gezogenes Schulgebäude. Die Ausstellungen präsentieren keine weltberühmten, schon etablierten Künstler, sondern solche, die Neues entwickeln, was wiederum ganz typisch für diesen Stadtteil ist. Im Falle von Queens bedeutet „typisch“ immer, dass alles ganz normal und unprätentiös daherkommt und einem nichts einfällt, was es ausschließlich hier gibt. Zutreffende Adjektive wären: Multikulturell, architekturlos, bunt, rumplig, laut, ungeordnet, ärmlich, jung, voll, …