New York im Kaleidoskop

von Joachim Werner

Lesezeit ca. 274 Minuten

Inhalt

Vorwort

Achtung, kein Reiseführer! Diese Warnung wollte ich meinen New York-Impressionen zunächst voranstellen, denn mein erster Eindruck vom big apple war nicht für einen motivierenden Cicerone für New York-Reisende geeignet. Zu widersprüchlich und verwirrend waren die Eindrücke, die mich überfluteten, einerseits die Bewunderung für das Weltstädtische und Einmalige der Metropole und andererseits das Erschrecken über die Gegensätze zwischen Arm und Reich und die schwierigen Lebensbedingungen für viele New Yorker. Während meiner zahlreichen folgenden Besuche wurde es nun zu meinem Hauptanliegen, die Stadt besser zu verstehen – durch beständiges Sammeln von Fakten und die Recherche von Hintergründen (Geschichte, Politik, Kunst und Architektur). Doch je mehr Erkenntnisse ich gewann, desto mehr neue Fragen taten sich auf und am Ende des Prozesses war die Ratlosigkeit größer als zuvor. Dazu kommt die Fülle von Gegensätzlichkeiten, auf die man stößt, je mehr man sich mit der Stadt beschäftigt. Ambivalenz scheint mir geradezu das Grundprinzip von New York zu sein: Während ich mich mit dem Phänomen Wolkenkratzer auseinandersetze, fahre ich durch herunter gekommene Straßen mit einstöckigen Häusern, denke ich über den stadtprägenden (geradezu obszönen) Reichtum nach, treffe ich auf bittere Armut in Gestalt von Obdachlosen, die ihren gesamten Besitz in einem geklauten Einkaufswagen durch die Straßen schieben und trete ich aus dem Metropolitan Museum of Art mit seinen einmaligen Kunstschätzen, stoße ich draußen allüberall auf wertlose Massenprodukte Made in China. Und dennoch komme ich nicht umhin die Eindrücke festzuhalten, die alljährlich hier auf mich einströmen – jedoch habe ich eine andere Darstellungsform als die eines Stadtführers gewählt. Anstatt wie in einem solchen systematisch und enzyklopädisch zusammenzutragen, was bedeutend ist oder dafür gehalten wird, habe ich mich mit wechselnden Blicken wie durch ein Kaleidoskop auf New York begnügt, das mir durch diese neue Sichtweise bessere als die zunächst gewonnenen Eindrücke beschert: Überraschendes, Kurioses, Vielfarbiges, Abwechselndes, Pointierendes und immer wieder völlig Neues. Durch die neue Perspektive habe ich endlich meinen positiven Zugang zu der Stadt gefunden, es sind die interessanten, überraschenden, aber auch schockierenden und abstoßenden Details, die den New York-Besucher immer wieder faszinieren und die Stadt besuchenswert machen. Es freut mich ungemein, dass die von mir gewählte Metapher Kaleidoskop auch von den Einwohnern New Yorks gebraucht wird um die Mannigfaltigkeit ihrer Stadt zu beschreiben. Allerdings wird die Ambivalenz New Yorks durch diese Betrachtungsweise nicht aufgehoben, man muss sie einfach akzeptieren, weil sie ein konstitutiver Bestandteil der Stadt ist.

1 Ankunft in New York

Per Schiff

Etwa 300 Jahre lang – von der Gründung der Stadt bis ins 20. Jh. – erreichten europäische Reisende New York einzig und allein auf dem Wasserweg. Die unvergleichliche Lage des Hafens mit der durch die Insel Staten Island vom offenen Meer abgetrennten Upper Bay, der Mündung des Hudson westlich und des East-River östlich von Manhattan begünstigte die Gründung der Stadt und war auch der Grund für ihren rasanten Aufstieg. Für die Abfertigung der vielen, in die Neue Welt strömenden Immigranten wurde Ende des 19. Jh. der beeindruckende Gebäudekomplex auf Ellis Island, direkt südlich von Manhattan errichtet, kurz davor hatte man die Freiheitsstatue als Symbol für den hier herrschenden Geist aufgestellt und allmählich erwuchsen die Wolkenkratzer zur Skyline von Manhattan. Diese imposante Kulisse begrüßte den Reisenden für nahezu 150 Jahre. Doch wer kommt heute noch – im Zeitalter der Düsenjets – mit dem Schiff aus Übersee an? Um mir die Illusion einer solch spektakulären Ankunft in New York zu verschaffen, vergesse ich einfach meine gestrige Landung auf dem Flughafen JFK und begebe mich am Morgen meines ersten New York Tages mit der Subway-Linie 1 nach South Ferry in Manhattan. An der Oberfläche dieses U-Bahnhofs befindet sich das Terminal der Staten Island Ferry und da diese Schiffsverbindung essentiell für die Verbindung der beiden boroughs ist, braucht man für ihre Benutzung nichts zu bezahlen. Auf der Überfahrt lese ich ein wenig im Reiseführer und begebe mich nach der Ankunft auf der Insel sofort wieder auf die Rückfahrt, bei der ich mich am vorderen Ausgang des Fährschiffs positioniere. Und von dem, was ich dort zu sehen bekomme, bin ich dann ebenso überwältigt, wie unzählige Ankömmlinge in den Jahrzehnten vor mir: Über die ganze Weite der Upper Bay schweift der Blick von links nach rechts von den neuen Hafenanlagen in Newark über die bereits genannten Landmarken bis zur Brooklyn Bridge. Man kann sich gar nicht satt sehen an der Zusammenballung der gläsernen modernen Türme, aber auch der mit Art-Deco-Elementen übersäten älteren Wolkenkratzer. Sie alle werden überragt vom bläulich schimmernden Turm des One World Trade Center, der nach der Katastrophe von 9/11 anstelle der zerstörten Twin Towers errichtet wurde. Auf der rechten Seite passieren wir gerade die imposante Verrazano Bridge, eine 1,3 km lange Hängebrücke, die zur Zeit ihrer Erbauung 1964 die längste der Welt war. Sie verbindet Staten Island mit Brooklyn und ist nach dem italienischen Entdecker Giovanni da Verrazzano benannt, der zwar 1524 als erster Europäer hier landete, aber danach völlig in Vergessenheit geriet. Als man die Brücke nach vielem Hin und Her (wegen seiner Unbekanntheit und des zu langen Namens) endlich doch noch nach ihm benannte, vergaß man das zweite z in seinem Nachnamen! Bei dieser Gelegenheit ist ein kleiner Exkurs über die Personen angebracht, die als erste hier in New York ankamen und seinen Weg zur Weltmetropole vorbereiteten.

Entdecker in fremdem Auftrag

Das Zeitalter der Entdeckungen fiel in die Epoche der Renaissance, die von Italien ausging und in der die bahnbrechenden Ideen der Neuzeit entwickelt wurden. Kein Wunder, dass unter den führenden Entdeckern der Neuen Welt auch so viele Italiener waren: Cristoforo Colombo, Amerigo Vespucci (dessen Vornamen ein deutscher Kartograph sogar zur Benennung des neuen Kontinents erkor) und Giovanni da Verrazzano.

Caboto

Ein anderer Italiener, Giovanni Caboto aus Venedig (die Städte Chioggia und Gaeta erheben allerdings ebenfalls den Anspruch, Cabotos Geburtsort zu sein), war bereits 1494 in englischen Diensten an der Ostküste Nordamerikas entlang gesegelt und hatte erkannt, dass eine große Landmasse als Barriere den Seeweg nach Indien und China versperrte. Auf der Suche nach einer Nord-West-Passage nach China, die diese Landmasse umging, geriet er immer weiter nach Norden, ins Gebiet des heutigen Kanada. Dort feiert man ihn seitdem als Entdecker des nordamerikanischen Kontinents und sein anglisierter Name John Cabot sowie die Tatsache, dass er im Auftrage des englischen Königs handelte, hielt für Großbritannien als Begründung für den Anspruch auf ganz Nordamerika her. Gewissermaßen als Gegenentwurf zur Entdeckung und Eroberung von Mittel- und Südamerika durch die Spanier wurde dekretiert, dass alles neu entdeckte „herrenlose“ und „ungenutzte“ Land im Norden in den Besitz der englischen Krone fiel. Caboto hatte in Felle gekleidete und rohes Fleisch essende „Wilde“ mit nach England gebracht, durch deren Zurschaustellung man klarstellte, dass in der freien Natur lebende „Primitive“ keinesfalls Besitzer eines so großen Landes sein konnten, zumal sie weder einen organisierten Staat, den christlichen Glauben noch einen König hatten. Cabotos Schicksal verliert sich nach seiner letzten Expedition im Ungewissen; wie ja alle diese Pioniere die Gemeinsamkeit vereint, bis zu ihrem zumeist ruhmlosen Ende rastlos von Entdeckung zu Entdeckung geeilt zu sein und nichts von den großartigen Entwicklungsmöglichkeiten wahrgenommen zu haben, die die Entdeckung eines neue Kontinents ihnen bot.

Cartier und Champlain

Der englische Anspruch auf ganz Nordamerika blieb in Europa nicht unwidersprochen, denn auf der Suche nach der Nordwest-Passage war auch der im Auftrag des französischen Königs segelnde Jacques Cartier 1534 nach Neufundland gekommen und hatte den St. Lorenz-Strom erkundet, aber keine Passage gefunden. Sein Nachfolger Champlain gründete für die Franzosen die Kolonie Neufrankreich, er war auch der erste, der sich mit den Ureinwohnern kriegerisch auseinandersetzte. Der gemeinsame Anspruch Englands und Frankreichs auf den Kontinent führte später noch zu mehreren Kolonialkriegen.

Warum Verrazzano nicht aufgefressen wurde

Erst 30 Jahre nach Caboto kam es zur ersten Landung von Europäern auf dem Gebiet von New York, und zwar durch den bereits genannten Giovanni da Verrazzano, der aus der Toskana stammte. Auch er suchte in französischen Diensten nach der Nordwest-Passage, doch als er eine solche – sehr weit im Norden – gefunden zu haben glaubte, wandte er sich wieder nach Süden auf der Suche nach einer weiteren in besser schiffbaren Gewässern. Auf dieser Fahrt erkundete er den nordamerikanischen Küstenverlauf, ging häufig an Land und nahm auch Kontakte zu den Ureinwohnern auf. Seinen Aufzeichnungen zufolge fuhr er entlang der Küste des späteren New Jersey in die Lower New York Bay ein und ankerte in der später als The Narrows bezeichneten Durchfahrt zwischen Long Island und Staten Island, wo sich heute die nach ihm benannte Brücke befindet. Er entdeckte auch die Upper New York Bay südlich von Manhattan sowie den Fluss, der später nach Henry Hudson benannt wurde und kehrte dann via Neufundland nach Frankreich zurück.

Er unternahm noch weitere Reisen nach Amerika, zunächst eine nach Brasilien. Trotz meuternder Crew, die versuchte, ihn zur Rückkehr nach Frankreich zu zwingen, gelang es ihm dennoch, sein Ziel zu erreichen, weil die Mannschaft ohne seine Navigationskenntnisse hilflos war. Von dort brachte er Palisanderholz mit, das ihm und seinen Auftraggebern nach der Rückkehr einen beträchtlichen Gewinn bescherte. Von seiner dritten Reise kehrte er allerdings nicht mehr nach Hause zurück, die Ursachen seines Todes im Jahre 1528 sind umstritten: Die einen meinen, dass er bei den Kleinen Antillen – auf der Insel Guadeloupe – von kannibalischen Indianern getötet und vor den Augen seiner Besatzung verspeist wurde, anderen Quellen zufolge wurde er von den Spaniern gefangengenommen und in Cádiz als Pirat am Strang hingerichtet. Zum Mythos des Kannibalismus in der Karibik äußerte Alexander von Humboldt später die sehr einleuchtende These, dass ihn die Entdecker selbst in die Welt gesetzt hätten, um die Ureinwohner als Untermenschen zu diskreditieren, die man dann (sogar mit Genehmigung der katholischen Kirche!) ohne Skrupel versklaven konnte.

Hudsons tragisches Ende

Der für die Geschichte New Yorks bedeutendste Seefahrer war der Engländer Henry Hudson (1565 – 1611), berühmt durch seine vier Entdeckungsfahrten. Die beiden ersten widmeten sich erfolglos der Suche nach einer Nordwest- als auch einer Nordost-Passage nach China. Auch auf seiner bedeutendsten dritten Reise ging es zunächst um eine Nordwest-Passage (und zwar von Nordeuropa durchs Eismeer), doch nach einer Meuterei der Besatzung überquerte Hudson lieber den Atlantik, um weiter im Westen danach zu suchen. Zunächst im Dienst der holländischen Vereinigten Ostindischen Kompanie unterwegs, segelte er mit dem Schiff Halve Maen (Halbmond) an der nordamerikanischen Küste entlang und erreichte 1609 die Upper Bay des späteren New York. Vorbei an der Insel Manhattan fuhr er den später nach ihm benannten Hudson River hinauf, bis in die Gegend der heutigen Hauptstadt des Staates New York, Albany, etwa 240 Kilometer nördlich von New York City. Wie alle seine Vorgänger beließ es Hudson jedoch bei einer reinen Erkundungsfahrt und kehrte im selben Jahr nach Europa zurück.

Auf seiner letzten Reise im Auftrag einer neu gegründeten Gesellschaft englischer Geschäftsleute ging es im Frühjahr 1610 mit dem Schiff Discovery wieder auf die Suche nach einer Nordwestpassage. Nach der Atlantiküberquerung erreichte die Expedition die später so genannte Hudsonstraße im Nordwesten Kanadas und fuhr in die Hudson Bay ein, die der Seefahrer für den Pazifik hielt. Er verbrachte die drei folgenden Monate mit der Erforschung der östlichen Inseln und Küsten, bis sein Schiff im Herbst im Eis stecken blieb. Unter äußersten Entbehrungen und grimmiger Kälte überstand die Expedition den Winter. Auf dem Rückweg 1611 wurde auch noch die Verpflegung knapp und die Mannschaft meuterte. Sie setzte Hudson, seinen Sohn und sieben weitere Besatzungsmitglieder in einem kleinen Boot aus und überließ sie ihrem Schicksal.

Alle bisher genannten Entdecker hatten nichts mit der Gründung New Yorks zu tun, sie waren lediglich die Wegbereiter für die großen Handelskompanien, die in Übersee Stützpunkte anlegten und Anreize dafür schufen, dass sich auch Siedler niederließen. Trotz der Dominanz der Italiener, Franzosen und Briten bei der Erforschung Nordamerikas waren die ersten Bewohner New Yorks Niederländer: Die Westindische Compagnie gründete als erste 1624 die Kolonie Nieuw Nederland und legte 1626 die Handelsniederlassung Nieuw Amsterdam an, die die Engländer später New York nannten. Den ersten Siedlern und den wenigen Spuren, die sie im Stadtbild hinterließen, gehe ich nun im nächsten Kapitel nach.

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