New York im Kaleidoskop

von Joachim Werner

Vorwort

Achtung, kein Reiseführer! Diese Warnung wollte ich meinen New York-Impressionen zunächst voranstellen, denn mein erster Eindruck vom big apple war nicht für einen motivierenden Cicerone für New York-Reisende geeignet. Zu widersprüchlich und verwirrend waren die Eindrücke, die mich überfluteten, einerseits die Bewunderung für das Weltstädtische und Einmalige der Metropole und andererseits das Erschrecken über die Gegensätze zwischen Arm und Reich und die schwierigen Lebensbedingungen für viele New Yorker. Während meiner zahlreichen folgenden Besuche wurde es nun zu meinem Hauptanliegen, die Stadt besser zu verstehen – durch beständiges Sammeln von Fakten und die Recherche von Hintergründen (Geschichte, Politik, Kunst und Architektur). Doch je mehr Erkenntnisse ich gewann, desto mehr neue Fragen taten sich auf und am Ende des Prozesses war die Ratlosigkeit größer als zuvor. Dazu kommt die Fülle von Gegensätzlichkeiten, auf die man stößt, je mehr man sich mit der Stadt beschäftigt. Ambivalenz scheint mir geradezu das Grundprinzip von New York zu sein: Während ich mich mit dem Phänomen Wolkenkratzer auseinandersetze, fahre ich durch herunter gekommene Straßen mit einstöckigen Häusern, denke ich über den stadtprägenden (geradezu obszönen) Reichtum nach, treffe ich auf bittere Armut in Gestalt von Obdachlosen, die ihren gesamten Besitz in einem geklauten Einkaufswagen durch die Straßen schieben und trete ich aus dem Metropolitan Museum of Art mit seinen einmaligen Kunstschätzen, stoße ich draußen allüberall auf wertlose Massenprodukte Made in China. Und dennoch komme ich nicht umhin die Eindrücke festzuhalten, die alljährlich hier auf mich einströmen – jedoch habe ich eine andere Darstellungsform als die eines Stadtführers gewählt. Anstatt wie in einem solchen systematisch und enzyklopädisch zusammenzutragen, was bedeutend ist oder dafür gehalten wird, habe ich mich mit wechselnden Blicken wie durch ein Kaleidoskop auf New York begnügt, das mir durch diese neue Sichtweise bessere als die zunächst gewonnenen Eindrücke beschert: Überraschendes, Kurioses, Vielfarbiges, Abwechselndes, Pointierendes und immer wieder völlig Neues. Durch die neue Perspektive habe ich endlich meinen positiven Zugang zu der Stadt gefunden, es sind die interessanten, überraschenden, aber auch schockierenden und abstoßenden Details, die den New York-Besucher immer wieder faszinieren und die Stadt besuchenswert machen. Es freut mich ungemein, dass die von mir gewählte Metapher Kaleidoskop auch von den Einwohnern New Yorks gebraucht wird um die Mannigfaltigkeit ihrer Stadt zu beschreiben. Allerdings wird die Ambivalenz New Yorks durch diese Betrachtungsweise nicht aufgehoben, man muss sie einfach akzeptieren, weil sie ein konstitutiver Bestandteil der Stadt ist.

1 Ankunft in New York

Per Schiff

Etwa 300 Jahre lang – von der Gründung der Stadt bis ins 20. Jh. – erreichten europäische Reisende New York einzig und allein auf dem Wasserweg. Die unvergleichliche Lage des Hafens mit der durch die Insel Staten Island vom offenen Meer abgetrennten Upper Bay, der Mündung des Hudson westlich und des East-River östlich von Manhattan begünstigte die Gründung der Stadt und war auch der Grund für ihren rasanten Aufstieg. Für die Abfertigung der vielen, in die Neue Welt strömenden Immigranten wurde Ende des 19. Jh. der beeindruckende Gebäudekomplex auf Ellis Island, direkt südlich von Manhattan errichtet, kurz davor hatte man die Freiheitsstatue als Symbol für den hier herrschenden Geist aufgestellt und allmählich erwuchsen die Wolkenkratzer zur Skyline von Manhattan. Diese imposante Kulisse begrüßte den Reisenden für nahezu 150 Jahre. Doch wer kommt heute noch – im Zeitalter der Düsenjets – mit dem Schiff aus Übersee an? Um mir die Illusion einer solch spektakulären Ankunft in New York zu verschaffen, vergesse ich einfach meine gestrige Landung auf dem Flughafen JFK und begebe mich am Morgen meines ersten New York Tages mit der Subway-Linie 1 nach South Ferry in Manhattan. An der Oberfläche dieses U-Bahnhofs befindet sich das Terminal der Staten Island Ferry und da diese Schiffsverbindung essentiell für die Verbindung der beiden boroughs ist, braucht man für ihre Benutzung nichts zu bezahlen. Auf der Überfahrt lese ich ein wenig im Reiseführer und begebe mich nach der Ankunft auf der Insel sofort wieder auf die Rückfahrt, bei der ich mich am vorderen Ausgang des Fährschiffs positioniere. Und von dem, was ich dort zu sehen bekomme, bin ich dann ebenso überwältigt, wie unzählige Ankömmlinge in den Jahrzehnten vor mir: Über die ganze Weite der Upper Bay schweift der Blick von links nach rechts von den neuen Hafenanlagen in Newark über die bereits genannten Landmarken bis zur Brooklyn Bridge. Man kann sich gar nicht satt sehen an der Zusammenballung der gläsernen modernen Türme, aber auch der mit Art-Deco-Elementen übersäten älteren Wolkenkratzer. Sie alle werden überragt vom bläulich schimmernden Turm des One World Trade Center, der nach der Katastrophe von 9/11 anstelle der zerstörten Twin Towers errichtet wurde. Auf der rechten Seite passieren wir gerade die imposante Verrazano Bridge, eine 1,3 km lange Hängebrücke, die zur Zeit ihrer Erbauung 1964 die längste der Welt war. Sie verbindet Staten Island mit Brooklyn und ist nach dem italienischen Entdecker Giovanni da Verrazzano benannt, der zwar 1524 als erster Europäer hier landete, aber danach völlig in Vergessenheit geriet. Als man die Brücke nach vielem Hin und Her (wegen seiner Unbekanntheit und des zu langen Namens) endlich doch noch nach ihm benannte, vergaß man das zweite z in seinem Nachnamen! Bei dieser Gelegenheit ist ein kleiner Exkurs über die Personen angebracht, die als erste hier in New York ankamen und seinen Weg zur Weltmetropole vorbereiteten.

Entdecker in fremdem Auftrag

Das Zeitalter der Entdeckungen fiel in die Epoche der Renaissance, die von Italien ausging und in der die bahnbrechenden Ideen der Neuzeit entwickelt wurden. Kein Wunder, dass unter den führenden Entdeckern der Neuen Welt auch so viele Italiener waren: Cristoforo Colombo, Amerigo Vespucci (dessen Vornamen ein deutscher Kartograph sogar zur Benennung des neuen Kontinents erkor) und Giovanni da Verrazzano.

Caboto

Ein anderer Italiener, Giovanni Caboto aus Venedig (die Städte Chioggia und Gaeta erheben allerdings ebenfalls den Anspruch, Cabotos Geburtsort zu sein), war bereits 1494 in englischen Diensten an der Ostküste Nordamerikas entlang gesegelt und hatte erkannt, dass eine große Landmasse als Barriere den Seeweg nach Indien und China versperrte. Auf der Suche nach einer Nord-West-Passage nach China, die diese Landmasse umging, geriet er immer weiter nach Norden, ins Gebiet des heutigen Kanada. Dort feiert man ihn seitdem als Entdecker des nordamerikanischen Kontinents und sein anglisierter Name John Cabot sowie die Tatsache, dass er im Auftrage des englischen Königs handelte, hielt für Großbritannien als Begründung für den Anspruch auf ganz Nordamerika her. Gewissermaßen als Gegenentwurf zur Entdeckung und Eroberung von Mittel- und Südamerika durch die Spanier wurde dekretiert, dass alles neu entdeckte „herrenlose“ und „ungenutzte“ Land im Norden in den Besitz der englischen Krone fiel. Caboto hatte in Felle gekleidete und rohes Fleisch essende „Wilde“ mit nach England gebracht, durch deren Zurschaustellung man klarstellte, dass in der freien Natur lebende „Primitive“ keinesfalls Besitzer eines so großen Landes sein konnten, zumal sie weder einen organisierten Staat, den christlichen Glauben noch einen König hatten. Cabotos Schicksal verliert sich nach seiner letzten Expedition im Ungewissen; wie ja alle diese Pioniere die Gemeinsamkeit vereint, bis zu ihrem zumeist ruhmlosen Ende rastlos von Entdeckung zu Entdeckung geeilt zu sein und nichts von den großartigen Entwicklungsmöglichkeiten wahrgenommen zu haben, die die Entdeckung eines neue Kontinents ihnen bot.

Cartier und Champlain

Der englische Anspruch auf ganz Nordamerika blieb in Europa nicht unwidersprochen, denn auf der Suche nach der Nordwest-Passage war auch der im Auftrag des französischen Königs segelnde Jacques Cartier 1534 nach Neufundland gekommen und hatte den St. Lorenz-Strom erkundet, aber keine Passage gefunden. Sein Nachfolger Champlain gründete für die Franzosen die Kolonie Neufrankreich, er war auch der erste, der sich mit den Ureinwohnern kriegerisch auseinandersetzte. Der gemeinsame Anspruch Englands und Frankreichs auf den Kontinent führte später noch zu mehreren Kolonialkriegen.

Warum Verrazzano nicht aufgefressen wurde

Erst 30 Jahre nach Caboto kam es zur ersten Landung von Europäern auf dem Gebiet von New York, und zwar durch den bereits genannten Giovanni da Verrazzano, der aus der Toskana stammte. Auch er suchte in französischen Diensten nach der Nordwest-Passage, doch als er eine solche – sehr weit im Norden – gefunden zu haben glaubte, wandte er sich wieder nach Süden auf der Suche nach einer weiteren in besser schiffbaren Gewässern. Auf dieser Fahrt erkundete er den nordamerikanischen Küstenverlauf, ging häufig an Land und nahm auch Kontakte zu den Ureinwohnern auf. Seinen Aufzeichnungen zufolge fuhr er entlang der Küste des späteren New Jersey in die Lower New York Bay ein und ankerte in der später als The Narrows bezeichneten Durchfahrt zwischen Long Island und Staten Island, wo sich heute die nach ihm benannte Brücke befindet. Er entdeckte auch die Upper New York Bay südlich von Manhattan sowie den Fluss, der später nach Henry Hudson benannt wurde und kehrte dann via Neufundland nach Frankreich zurück.

Er unternahm noch weitere Reisen nach Amerika, zunächst eine nach Brasilien. Trotz meuternder Crew, die versuchte, ihn zur Rückkehr nach Frankreich zu zwingen, gelang es ihm dennoch, sein Ziel zu erreichen, weil die Mannschaft ohne seine Navigationskenntnisse hilflos war. Von dort brachte er Palisanderholz mit, das ihm und seinen Auftraggebern nach der Rückkehr einen beträchtlichen Gewinn bescherte. Von seiner dritten Reise kehrte er allerdings nicht mehr nach Hause zurück, die Ursachen seines Todes im Jahre 1528 sind umstritten: Die einen meinen, dass er bei den Kleinen Antillen – auf der Insel Guadeloupe – von kannibalischen Indianern getötet und vor den Augen seiner Besatzung verspeist wurde, anderen Quellen zufolge wurde er von den Spaniern gefangengenommen und in Cádiz als Pirat am Strang hingerichtet. Zum Mythos des Kannibalismus in der Karibik äußerte Alexander von Humboldt später die sehr einleuchtende These, dass ihn die Entdecker selbst in die Welt gesetzt hätten, um die Ureinwohner als Untermenschen zu diskreditieren, die man dann (sogar mit Genehmigung der katholischen Kirche!) ohne Skrupel versklaven konnte.

Hudsons tragisches Ende

Der für die Geschichte New Yorks bedeutendste Seefahrer war der Engländer Henry Hudson (1565 – 1611), berühmt durch seine vier Entdeckungsfahrten. Die beiden ersten widmeten sich erfolglos der Suche nach einer Nordwest- als auch einer Nordost-Passage nach China. Auch auf seiner bedeutendsten dritten Reise ging es zunächst um eine Nordwest-Passage (und zwar von Nordeuropa durchs Eismeer), doch nach einer Meuterei der Besatzung überquerte Hudson lieber den Atlantik, um weiter im Westen danach zu suchen. Zunächst im Dienst der holländischen Vereinigten Ostindischen Kompanie unterwegs, segelte er mit dem Schiff Halve Maen (Halbmond) an der nordamerikanischen Küste entlang und erreichte 1609 die Upper Bay des späteren New York. Vorbei an der Insel Manhattan fuhr er den später nach ihm benannten Hudson River hinauf, bis in die Gegend der heutigen Hauptstadt des Staates New York, Albany, etwa 240 Kilometer nördlich von New York City. Wie alle seine Vorgänger beließ es Hudson jedoch bei einer reinen Erkundungsfahrt und kehrte im selben Jahr nach Europa zurück.

Auf seiner letzten Reise im Auftrag einer neu gegründeten Gesellschaft englischer Geschäftsleute ging es im Frühjahr 1610 mit dem Schiff Discovery wieder auf die Suche nach einer Nordwestpassage. Nach der Atlantiküberquerung erreichte die Expedition die später so genannte Hudsonstraße im Nordwesten Kanadas und fuhr in die Hudson Bay ein, die der Seefahrer für den Pazifik hielt. Er verbrachte die drei folgenden Monate mit der Erforschung der östlichen Inseln und Küsten, bis sein Schiff im Herbst im Eis stecken blieb. Unter äußersten Entbehrungen und grimmiger Kälte überstand die Expedition den Winter. Auf dem Rückweg 1611 wurde auch noch die Verpflegung knapp und die Mannschaft meuterte. Sie setzte Hudson, seinen Sohn und sieben weitere Besatzungsmitglieder in einem kleinen Boot aus und überließ sie ihrem Schicksal.

Alle bisher genannten Entdecker hatten nichts mit der Gründung New Yorks zu tun, sie waren lediglich die Wegbereiter für die großen Handelskompanien, die in Übersee Stützpunkte anlegten und Anreize dafür schufen, dass sich auch Siedler niederließen. Trotz der Dominanz der Italiener, Franzosen und Briten bei der Erforschung Nordamerikas waren die ersten Bewohner New Yorks Niederländer: Die Westindische Compagnie gründete als erste 1624 die Kolonie Nieuw Nederland und legte 1626 die Handelsniederlassung Nieuw Amsterdam an, die die Engländer später New York nannten. Den ersten Siedlern und den wenigen Spuren, die sie im Stadtbild hinterließen, gehe ich nun im nächsten Kapitel nach.

2 New Yorks Ursprünge

Niederländische Gründer und englische Usurpatoren

Der niederländische Seefahrer Adriaen Block (*1567 †1627) unternahm von 1611 bis 1614 mehrere Erkundungsreisen auf den Spuren Henry Hudsons, bei denen er Manhattan und Long Island als Inseln identifizierte und die Gegend kartografierte. Zusammen mit Hendrick Christiansz und einer Gruppe von zwölf Kaufleuten beantragte er bei den Niederländischen Generalstaaten (dem Parlament der Republik der Vereinigten Niederlande) die Gründung einer Compagnie van Nieuwnederlant, der exklusive Rechte auf drei Jahre für den Handel zwischen dem 40. und 45. Breitengrad eingeräumt wurden. An der Südspitze Manhattans entwickelte sich daraufhin die Siedlung Nieuw Amsterdam, als Handelsstützpunkt und Sitz des Gouverneurs der neu gegründeten Kolonie. Die Gouverneure May, Verhulst, Minuit, Kieft und Stuyvesant regierten sie recht selbstherrlich, sehr zum Missvergnügen ihrer neuen Untertanen. Der dritte Gouverneur, Peter Minuit, beanspruchte das Verdienst für sich, den Lenape-Indianern – für Waren im Wert von 60 Gulden – die Insel Manna Hatta abgekauft zu haben. Dieser Landkauf erscheint heute recht fragwürdig, da den Einheimischen Grundbesitz und dessen Veräußerung unbekannt war, für sie dürfte es sich stattdessen um eine befristete und gemeinsame Nutzungsvereinbarung mit den Neuankömmlingen gehandelt haben. Aber dennoch betrachteten sich die Niederländer fortan als Eigentümer der Stadt und des umliegenden Landes, auf dem sie zur Selbstversorgung der Kolonie mit Lebensmitteln Bauernhöfe (holländisch: boerderij) anlegten, von denen sich heute noch der Straßenname Bowery herleitet. Durch den niederländischen Besitzanspruch wurden ständig Konflikte mit den Indianern provoziert – unter Willem Kieft brach z. B. der Pfirsich-Krieg aus, weil ein Siedler eine Indianerin tötete, die einen Pfirsich auf seiner Plantage gepflückt hatte.

1653 erhielt Neu Amsterdam das Stadtrecht – auf einer Karte von 1656 zeigt es sich als Ansammlung nur einer Handvoll Häuser, überragt von einer Windmühle, dem Fort Amsterdam, dem Handelshaus der Compagnie und dem Galgen. Das Fort hatte Peter Minuit zum Schutz von Kolonie und Stadt angelegt, aber dennoch konnte er nicht verhindern, dass sich die Briten (gemäß ihrem Anspruch auf ganz Nordamerika) die Stadt und die Kolonie einverleibten. Sie erließen die so genannte Navigationsakte (navigation act), die vorschrieb, außereuropäische Güter ausschließlich auf englischen Schiffen nach Großbritannien zu bringen. Da die Niederländer dagegen verstießen, nahm eine britische Expedition Nieuw Amsterdam kurzerhand ein. Unter dem letzten Gouverneur Peter Stuyvesant war den Bewohnern die niederländische Regierung bereits so verhasst geworden, dass sie seinen Aufruf zum Widerstand gegen die „Usurpatoren“ einfach ignorierten und sich widerstandslos ergaben. Die Engländer benannten die Stadt nach dem Duke of York (dem späteren König James II.) in New York um und die Einwohner galten fortan als englische Staatsbürger.

Trotz des Zuzuges weiterer Siedler blieb New York eine kleine Stadt, die nur den äußersten Süden der Insel Manhattan für sich beanspruchte. An der heutigen Canal Street verlief verlief eine Palisade, die die Siedlung nach Norden absicherte. Die Hauptstraße durch die Stadt und hinter der Palisade die Ausfallstraße durch Manhattan war der Broadway, ein Fixpunkt der Stadtgeschichte von den Anfängen bis heute. Fort Amsterdam (an der Stelle des heutigen Custom‘s House in der Wall Street gelegen) rissen die Briten ab und errichteten vor der Südwestspitze von Manhattan eine neue Verteidigungsanlage. Castle Clinton sollte denselben Zweck erfüllen, die Stadt gegen Angriffe von See her zu sichern, lag aber strategisch günstiger. Heute befindet es sich, seiner militärischen Aufgaben beraubt, landfest inmitten der angeschütteten Anlagen des Battery Park und man kann hier für die Überfahrt zur Freiheitsstatue und nach Ellis Island Schlange stehen. Im 19. Jh. benutzte man es zur Einreisekontrolle für Immigranten (als Vorgänger von Ellis Island), dann als Theater und schließlich als New Yorks erstes Aquarium.

Spuren der Vergangenheit auf dem Broadway

Das Areal des ältesten New York kann man auch heute noch auf derselben Straße durchqueren, wie zur Zeit der Gründung und das möchte ich jetzt tun. Von der Staten Island Ferry kommend überquere ich die Peter Minuit Plaza und stehe vor zwei altertümlich aussehenden Backsteingebäuden im Schatten riesiger Wolkenkratzer, der Church of the Holy Rosary und dem James Watson House. Mit ihren bescheidenen Abmessungen wirken sie in ihrer Umgebung wie aus der Zeit gefallen, aber nur auf das Watson House trifft das auch zu. Es ist ein ehemaliges Reederhaus von 1793 und gibt einen guten Eindruck vom Aussehen der Stadt in ihren Anfängen. Die Kirche stammt dagegen erst aus dem Jahre 1965, obwohl ihr Baustil ein viel höheres Alter suggeriert. Das ehemalige Reederhaus diente nämlich ab 1884 als Missionsstation für junge Immigrantinnen und als daneben endlich die lange geplante Pfarrkirche gebaut wurde, musste sie sich dessen Stil anpassen. Nach wenigen 100 m entlang weiterer Wolkenkratzer und dem Monumentalbau des National Museum of the American Indian beginnt der Broadway, der „breite Weg“, der Manhattan seit je her durchquert. Gleich an seinem Beginn weitet sich die Schlucht der Hochhäuser zu einem kleinen, mit einem schmiedeeisernen Zaun umgebenen Platz auf, dem Bowling Green. Als New Yorks älteste Grünanlage wurde er 1733 angelegt und – wie der Name besagt – diente er tatsächlich einmal dem Bowling-Spiel. Der ovale eiserne Zaun, der ein Areal mit Blumenrabatten, Parkbänken und Springbrunnen umschließt, soll noch aus der Erbauungszeit stammen.

An der Nordspitze des Bowling Green steht der Raging Bull, bezeichnenderweise das Symbol für den Finanzplatz New York. Der wild tobende bronzene Stier scheint auf nichts und niemanden Rücksicht zu nehmen. Er ist immer von Touristen umlagert und insbesondere Frauen streicheln ihm gern die Eier, die davon schon ganz blank poliert sind. Kürzlich hat man auf recht unglaubwürdige Weise versucht, die verheerende Botschaft des Kapitalbullen etwas abzumildern, indem man direkt vor ihm die Statue eines kleinen Mädchens aufstellte, das ihm Einhalt gebieten soll. Unweit davon liegt die Wall Street mit dem New York Stock Exchange, der berühmten Börse. Hier erst verstehe ich die Etikettierung von NY als Welthauptstadt, denn überall im financial district sind Schilder mit der Inschrift NY financial capital of the world angebracht. Ich würde den Begriff „Welthauptstadt“ allerdings treffender durch „Geldhauptstadt“ ersetzen und gern im Detail herausfinden, wessen Geld hier eingesetzt wird, wozu man es verwendet und wem es nützt bzw. schadet. Das Börsengebäude zeigt selbstbewusst seine wohlbekannte, mit einer riesigen US-Flagge bestückte Tempelfassade. Nur wenige Meter entfernt gibt es eine weitere solche klassizistische Fassade, die diesmal aber von der Entstehung der Demokratie in Amerika zeugt, das Federal Hall Memorial. Nach dem Unabhängigkeitskrieg wurde New York nämlich für ein Jahr Hauptstadt der USA und man widmete sein altes Rathaus um zur Federal Hall, quasi dem ersten Kapitol des neu entstandenen Staates. Hier fanden bedeutende geschichtliche Ereignisse der USA statt: Die Erhebung der Forderung „No taxation without representation„, der Amtseid von George Washington und die Verabschiedung der Bill of Rights. Die Federal Hall musste später dem Customs House weichen und dieses dann dem genannten Tempelbau des Federal Hall Memorial.

Der Broadway ist ab hier als „Canyon of Heroes“ gestaltet, ins Pflaster eingelegte Metallstreifen weisen auf alle celebrities hin, die je in NY geweilt haben (ein bisschen weiter oben finde ich später sogar den Streifen für „Willy Brandt, Mayor of West Berlin“). Unweit von der Wall Street stoße ich auf ein bedeutendes Stück Alt-New-York, die Trinity Church mit ihrem schönen alten Friedhof. Gegründet 1696 ist er ein Ruhepunkt in dieser hektischen Umgebung, ein von alten Bäumen beschattetes grünes Karree, an dem sich auf der Broadwayseite die Kirche erhebt. Beeindruckend sind die vielen altehrwürdigen Grabsteine, die an berühmte New York citizens erinnern, wie den Erfinder des Dampfschiffs, Fulton, nach dem hier auch eine Straße benannt ist. Die viel jüngere neugotische Kirche der Pfarrei besitzt einen Turm, der bei seiner Einweihung 1846 – kaum zu glauben – mal der höchste New Yorks war. Sie ist bereits das dritte Gebäude an dieser Stelle und war bei meinem Besuch wegen Renovierung geschlossen

Westlich vom Broadway, auf der Brachfläche, die durch die Ereignisse von nine eleven entstand, ist – neben dem bereits wieder aufgebauten World Trade Center – mittlerweile „The Oculus“ entstanden, ein 4 Milliarden-Projekt mit einem neuen Bahnhof (und einem Tunnel nach New Jersey) sowie einer – von Santiago Calatrava entworfenen – Shopping Mall in beeindruckender, moderner Architektur. Calatrava hat sowohl den Bahnhof als auch das Einkaufszentrum unter die Erde verlegt und der eigentliche Oculus ist nur die Lichtquelle, die dem ganzen den Eindruck verleiht, als wäre es oberirdisch. Er erhebt sich als rippengewölbter Lichtdom über dem Einkaufszentrum, seine äußere Gestaltung klingt an die erschütternden Bilder von 9/11 an, als nur noch bizarr verbogene Stahlteile aus dem Trümmerinferno herausragten. Im Innern ist alles vom Feinsten: Schneeweißer Marmor, wohin das Auge blickt, Calatravas elegant gebogene Stützen (gleichermaßen an Gaudì wie an Dalì erinnernd), Rolltreppen und gläserne Fahrstühle, Putzleute mit riesigen Besen, die auch den kleinsten Dreckkrümel sofort beseitigen und das Ganze angenehm klimatisiert. Doch genug des Lobes – Shopping Mall bleibt Shopping Mall mit den ewig gleichen Geschäften; man fragt sich, wie an solch teurer location überhaupt profitabel gewirtschaftet werden kann.

Ich glaube, dass die gigantischen Investitionen in die vielen Neubauten aus sehr unterschiedlichen Motiven getätigt wurden: Zuerst einmal (rein ideologisch) in dem Bestreben, die „Schande von 9/11″ auszulöschen, bei der es einer Handvoll Terroristen gelungen war, die USA als Ganzes anzugreifen, indem sie das WTC, das Pentagon und das Kapitol gleichzeitig attackierten. Davon gelang zwar nur der symbolische Anschlag auf den Kapitalismus „richtig“, während die beiden anderen auf das Militär und die Regierung überwiegend fehlschlugen, aber dennoch hat die Terrorattacke ein großes amerikanisches Trauma verursacht. Seit dem Unabhängigkeitskrieg hatte niemand mehr die USA auf ihrem eigenen Territorium angegriffen. Da aber ideologische Gründe allein noch keine Milliardeninvestition rechtfertigen, denke ich, dass die Verbesserung der Infrastruktur, die mit der Neuplanung einhergeht (wie z. B. der neue Bahnhof nach New Jersey), die Immobilie so stark aufwerten, dass sich die absurd hohen Kosten irgendwann für die Investoren doch „rechnen“ werden. Schließlich werden allein über den Bahnhof über eine Mio potentieller Kunden aus dem Staat New Jersey erschlossen. Allerdings bleibt es für mich rätselhaft, weshalb man eine Zugfahrt unter dem Hudson hindurch unternehmen sollte, nur um in Geschäften irgendwelcher Ketten einzukaufen, die es am Wohnort ebenfalls gibt.

Bedenklich auch, wie der Terroranschlag im hochpreisigen 9/11 Museum und durch teure guided tours über das Gelände geschäftlich ausgebeutet wird. Die eigentliche Gedenkstätte – schon seit einigen Jahren fertig – ist jedoch unkommerziell: Würdig gestaltet, mit freiem Eintritt und für jeden verständlich. Auf dem Grundriss der Twin Towers wurden zwei quadratische schwarze Wasserbecken angelegt, von deren Rand Wasser in die Tiefe stürzt und in einem schwarzen Schlund verschwindet, dessen Grund nicht einzusehen ist. Auf den bronzenen Rändern der Becken sind die fast 3000 Namen der Opfer für alle Ewigkeit (wie die Inschrift besagt) eingraviert.

Zurück am Broadway gehe ich noch 300m weiter nördlich zur St. Paul’s Chapel, dem ältesten erhaltenen Gebäude Manhattans von 1766. Sie ist im englischen georgian style erbaut, hat eine tempelförmige Fassade zum Broadway und einen mehrstöckigen barocken Glockenturm nach hinten und ist von einem ähnlich stimmungsvollen Kirchhof wie die Trinity Church umgeben. Nach dem Besuch der kühlen Einkaufswelt des Oculus ist es sehr angenehm, ein Weilchen in dieser Idylle zu sitzen, die inmitten der Wolkenkratzer und des Broadway wie aus der Zeit gefallen wirkt. Wegen der Nähe zum ground zero dienen Kirche und Friedhof dem Gedenken an die unfassbaren Ereignisse von 2001 und gerade hier kann man sich in würdigem Ambiente noch einmal die Leistungen und das Leid der Feuerwehr- und Rettungsleute an diesem Tag ins Gedächtnis rufen. Im immerhin 250 Jahre alten klassizistischen Innenraum der Kirche probt gerade ein Laienorchester ein sehr fetziges Cello-Konzert, wahrscheinlich amerikanischer Herkunft, da es mir völlig unbekannt ist.

Jetzt sind es nur noch ein paar Schritte bis zur Old Town Hall, wo ich meinen Old-New-York-Walk beenden möchte. Das Gebäude wurde 1803 geplant und 1812 eingeweiht und ist das älteste aller amerikanischen Rathäuser. Es hatte zwei Vorgänger, eines an der Pearl Street aus der Zeit der Niederländer und eines an der Wall Street, wo sich heute das Federal Hall Memorial befindet. Als die Hauptstadt des Staates New York 1797 nach Albany verlegt wurde, beschlossen die New Yorker, in einer Grünanlage am Rande der Stadt ein repräsentatives neues Rathaus zu errichten, das sich von außen in französischer Neo-Renaissance und im Innern im britischen georgian style zeigt. Die Grünanlage wurde Mitte des 19. Jh. zum City Hall Park umgestaltet. Die City Hall ist auch heute noch Sitz des Bürgermeisters von New York (aktuell Eric Adams) und des City Council. Die Verwaltung für die seit dieser Zeit enorm gewachsene Stadt befindet sich allerdings im unweit gelegenen Municipal Building, einem unübersehbaren, riesigen schneeweißen Wolkenkratzer. Die historische Stadt erstreckte sich noch ein paar Straßen weiter nördlich bis zur Canal Street, der Grenze von Alt-New York.

Wie schon gesagt, endet der Broadway hier jedoch nicht, sondern durchquert (als ehemalige Ausfallstraße) ganz Manhattan schräg zum Straßenraster des 19. Jh. Dieser gitterförmige Stadtgrundriss – bereits erfunden in der Antike von Hippodamus von Milet – beginnt jenseits der Canal Street, von wo aus man im 19. Jh. das neue New York planmäßig errichtete. Mit Ausnahme des Central Park wurde ganz Manhattan von einem Netz sich kreuzender Streets und Avenues durchzogen, die keine Namen erhielten, sondern durchnummeriert wurden, nämlich 190 west-östliche Streets (beginnend im Süden) und elf nord-südliche Avenues (beginnend im Osten). Zur noch besseren Orientierung gab man den Streets zusätzlich ein E (für East) und W (für West) bei, so dass man der Adresse 7th Avenue / 47th Street W entnehmen kann, dass sie in Midtown leicht westlich gelegen ist – es ist der von den New Yorkern als Mittelpunkt der Stadt empfundene Times Square. Verglichen mit dem mittelalterlichen Grundriss europäischer Städte mit ihrem engen und krummen Straßengewirr ist das ein übersichtliches, logisches System, in dem sich der Fremde gut zurechtfindet. Er muss nur bedenken, dass auch die anderen vier boroughs genau so unterteilt sind und da es in allen fünf jeweils einen Broadway gibt, existiert auch dieselbe Adresse fünfmal. Deshalb empfiehlt es sich, bei Verabredungen wie Broadway / 42nd Street zusätzlich noch den borough anzugeben, sonst wartet der eine in Manhattan und der andere in Queens, wie es uns einmal passiert ist.

3 Boroughs, Community Districts, Neighborhoods

Wie New York verwaltet und regiert wird

Ich finde, zum besseren Verständnis einer großen Stadt gehört auf jeden Fall die Kenntnis ihres Regierungs- und Verwaltungssystems; viele ihrer Besonderheiten (und das trifft speziell auf New York zu) erklären sich überhaupt erst daraus. Allerdings ist das System wegen seiner Komplexität ziemlich schwer zu verstehen, denn es erwuchs aus einer sehr langen demokratischen Tradition und verkomplizierte sich immer weiter: Schon zu Zeiten von Nieuw Amsterdam wählte die Bevölkerung einen Stadtrat, der das Budgetrecht hatte und den von den Niederlanden eingesetzten Gouverneur beraten und kontrollieren sollte. Dieser Legislative stand eine starke Exekutive in Person des Gouverneurs gegenüber. Genauso ist das Kräfteverhältnis auch heute noch, mit dem New York City Council als Legislative und dem Mayor of New York als vergleichbar starker Exekutive, nur dass dieser nicht wie damals von der Staatsregierung eingesetzt, sondern von der Einwohnerschaft auf 4 Jahre gewählt wird (z.Zt. ist eine einmalige Wiederwahl zulässig).

Legislative

Das New York City Council (NYCC) stellt die Legislative dar, es verabschiedet die Gesetze der Stadt, kontrolliert den Bürgermeister und dessen Verwaltung und wirkt bei der Ernennung von städtischen Beamten mit. Es besteht aus 51 Mitgliedern, die als Mehrheitskandidaten in ebenso vielen Wahlkreisen für eine vierjährige Amtszeit gewählt werden. Traditionell wählt New York demokratisch, aktuell (2021) besteht der Rat aus 46 Demokraten und 5 Republikanern. Den Ratsvorsitz übernimmt der von der Mehrheit bestimmte Speaker. Im Council werden ständige Ausschüsse und Unterausschüsse gebildet (z. Zt. 35), die sich mit Sozialem, Infrastruktur und Regierungsangelegenheiten befassen sowie zukünftige Themen vorschlagen. Um Themen und Anliegen bestimmter Bevölkerungsgruppen einzubringen und in deren Sinne gesetzgeberisch tätig zu sein, können sich die Ratsmitglieder zu parlamentarischen Interessengruppen (caucus) zusammenschließen. So gibt es den Black, Latino and Asian (BLA) Caucus, den Progressive Caucus, den Women’s Caucus, den Jewish Caucus, den LGBT (lesbian, gay, bi, transgender) Caucus und den Irish Caucus, deren Namen gleichzeitig eine aufschlussreiche Themenliste der Probleme von New York darstellen. Die Ratsmitglieder sind Berufspolitiker mit Bezügen von ca. 150.000 Dollar im Jahr. Das NYCC tagt in der New York City Hall in Manhattan, dem schönen Gebäude von 1812, das wir auf dem Spaziergang durch Alt New York gesehen haben.

Exekutive

Der Mayor of New York ist der Chef der Verwaltung, ihm unterstehen mehr als 50 Departments oder City Agencies, deren Leiter von ihm ernannt werden. Außerdem ernennt er mehrere Deputy Mayors, die die Leitung besonders wichtiger Departments übernehmen, die gewissermaßen die Fachressorts darstellen, vergleichbar den Senatsverwaltungen in Berlin und Hamburg, aber ohne die Entscheidungsgewalt eines Senators, da diese komplett beim Mayor of New York liegt. Während der Bürgermeister seinen Amtssitz in der City Hall hat, sind die City Agencies im Municipal Building, jenem gigantischen weißen Gebäudekomplex nördlich des Rathauses untergebracht. Trotz der traditionell demokratisch eingestellten Wählerschaft New Yorks gab es auch republikanische Bürgermeister, da dieser in direkter Wahl ermittelt wird. Der bekannteste Republikaner der letzten Jahre war Rudy Giuliani, auf den ich im Zusammenhang mit bekannten New Yorker Politikern noch zu sprechen komme.

Boroughs

Die Verwaltungsgliederung von New York City existiert auf zwei Ebenen, zur oben beschriebenen politischen Ebene kommt noch eine geographisch/plebiszitäre hinzu. Allerdings ist diese zweite Ebene keine Konkurrenz zum Mayor und dem City Council, sondern dient in erster Linie der verbesserten Mitsprache der Bürger. Als sich 1898 Manhattan und die umliegenden Städte zu einem „Greater New York“ zusammenschlossen, wurde dieses geographisch in fünf Boroughs („Stadtbezirke“) unterteilt, die gleichzeitig fünf Countys („Landkreisen“) des Bundesstaates New York entsprechen:

Manhattan (New York County), Brooklyn (Kings County), Queens (Queens County), The Bronx (Bronx County) und Staten Island (Richmond County). Das neu geschaffene Gesamtgebilde firmiert seitdem unter dem Namen New York City.

Jeder Borough hat einen Borough President, der in Brooklyn, Queens und Staten Island in einer Borough Hall residiert, während der von Manhattan im Municipal Building und der von The Bronx im Bronx County Court House angesiedelt ist. Borough Presidents und Borough Halls dürfen nicht mit Bürgermeistern und Rathäusern in Europa gleichgesetzt werden, weil sie kaum exekutive und legislative Funktionen besitzen.

Die Namen der einzelnen Boroughs haben eine interessante Etymologie: Manhattan leitet sich, wie im vorigen Kapitel geschildert, vom Namen der Lenape-Indianer für die Insel im Hudson River her: Manna Hatta, was „hügeliges Land“ bedeutet. Brooklyn bewahrt seinen Namen aus der Zeit der ersten niederländischen Siedler, die aus Breukelen in der Provinz Utrecht kamen und ihrer Neugründung denselben Namen gaben. Queens (und auch der County Name für Brooklyn = King’s County) stammt aus der Zeit, als die Engländer die Niederländer ablösten und alles Land als Besitz der englischen Krone ansahen. The Bronx kommt vom Familiennamen Bronck, eines dänischen oder schwedischen Siedlers, der nördlich von Manhattan ein landwirtschaftliches Gut betrieb, Bronck’s Farm. Staten Island trägt jetzt wieder seinen alten Namen, der einst aussagte, dass die Insel im Besitz der staaten generaal, des niederländischen Parlaments, war. Unter den Engländern benannte man sie stattdessen in Richmond um, nach dem Duke of Richmond, einem (illegitimen) Sohn König Karls II.

Community Districts

Die Boroughs gliedern sich in insgesamt 59 Community Districts (CD), rein verwaltungstechnische Einheiten, die in jedem Borough durchnummeriert sind und für ihre Bewohner keine Identität bieten, da sie sich nur über die in ihnen befindlichen Neighborhoods (s.u.) definieren. In jedem CD gibt es ein Community Board mit bis zu 50 ernannten Mitgliedern, die Bewohner des CD sein müssen und als erste Anlaufstelle für Bürgerbeschwerden und zur Mitsprache bei Planungsvorhaben dienen. Um das Ganze noch komplizierter zu machen, werden die Grenzen der Community Districts oft von den Zuständigkeitsbereichen anderer städtischer Behörden, wie z. B. den Amtsbezirken von Feuerwehr und Polizei (precincts) und den Schulbezirken (school districts) überlappt.

Neighborhoods

Die Community Districts wiederum bestehen aus unzähligen Neighborhoods, die keine offiziellen Verwaltungseinheiten sind, sondern sich im Verlauf der Geschichte als Wohnviertel mit eigener Identität entwickelt haben. Diese ist geprägt durch eine bestimmte ethnische Zusammensetzung oder einen relativ einheitlichen architektonischen Stil des Viertels, manche gehen auf historische Ortschaften zurück, wie z.B. das heutige Bushwick auf das 1661 von holländischen Siedlern gegründete Boswijck, andere auf Gründungen von Immobilienspekulanten, wie Brownsville auf Charles S. Brown, der um 1885 dort 250 Häuser errichtete. Wieder andere beziehen sich auf historische Einwanderergruppen, wie z. B. Little Italy und Chinatown. Einige kuriose Namen sind Erfindungen der Immobilienbranche zur besseren Vermarktung einer Gegend, wie SoHo/NoHo (South/North of Houston Street), Nolita (North of Little Italy), Tribeca (Triangle below Canal Street) oder das dusselige Dumbo (Down under Manhattan Bridge Overpass), bei dem der „Overpass“ nur eingefügt wurde, damit das gentrifizierte Viertel nicht Dumb (dumm) heißt. Diese Kürzel sollten ursprünglich die Lokalisierung der zum Verkauf stehenden Immobilien erleichtern, wurden aber ganz schnell allgemein akzeptiert und sind jetzt als quasi offizielle Namen in die Stadtpläne aufgenommen. Am besten kann man die Neighborhoods mit den Kiezen in Berlin vergleichen. Die New Yorker sehen sich gern als „City of Neighborhoods“, was der gängigen Vorstellung von ihrer Stadt als Moloch entgegenwirken soll, dem Götzen, dem in dieser unüberschaubaren Zusammenballung von Menschen beständig Opfer gebracht werden.

4 Politik in New York

Es lohnt sich, noch ein wenig bei der Politik zu verweilen und das speziell Amerikanische des Politiksystems, der Parteien, das Amt des Mayor of New York und einige prominente Amtsinhaber der Vergangenheit genauer in Augenschein zu nehmen. Im Vergleich zu Europa ist die Wahlbeteiligung in den Vereinigten Staaten traditionell niedrig, Michael Bloomberg, der vorletzte Mayor of New York erzielte bei seiner (ausnahmsweise möglichen) dritten Wahl eine Beteiligung von gerade einmal 25%. Solche Zahlen legen nahe, die Mobilisierung der Anhänger sowie die Gewinnung neuer Wähler zum Hauptziel des Wahlkampfs zu machen. Das war in New York schon immer so, deshalb gründeten sich bereits im 18. Jh. in allen Parteien Hilfsorganisationen, sogenannte political machines, deren Aufgabe es war, Gelder für den Wahlkampf einzusammeln und neue Wählerschichten für ihren Kandidaten zu erschließen. Das war im Prinzip nichts Ehrenrühriges, nur brachte dieses System viele Nachteile mit sich, wenn nach jedem Wahlsieg die Helfer und Neuwähler „belohnt“ werden mussten, um sie langfristig an die Partei zu binden. Am einfachsten funktionierte das, indem in der Stadtverwaltung neue Stellen geschaffen und an die Anhänger vergeben wurden, was eine sich ständig aufblähende Bürokratie zur Folge hatte.

Tammany Hall

Zur Unterstützung der Demokraten wurde 1786 die Tammany Society gegründet, eine Organisation, die sich in erster Linie an die bereits in New York Ansässigen wandte. Obwohl sie mit Indianern überhaupt nichts am Hut hatte, gab sie sich den (verballhornten) Namen des Lenape-Häuptlings Tamanend, nannte den Vorsitzenden Sachet (Häuptling) und den Tagungsort Wigwam. Erst 50 Jahre nach der Gründung realisierte man, dass gerade bei den bislang verachteten neuen Einwanderern ein großes Potential für den Gewinn von Neuwählern lag und so wandte man sich ab 1850 insbesondere den Iren zu, die wegen der Hungersnot in ihrem Lande massenhaft in die USA strömten. Obendrein stellten diese proletarischen, teilweise analphabetischen Neuankömmlinge eine bequeme, unkritische Klientel dar, die leicht zu manipulieren war. Der gerade in dieser Phase neu erbaute Sitz der Organisation wurde statt Wigwam nun Tammany Hall genannt und mit zunehmendem Erfolg der Lobbyarbeit ging der Name des Tagungsortes alsbald auf die Institution über. „Tammany Hall“ stand seitdem für Ämterpatronage, Klientelpolitik und Korruption in der Demokratischen Partei, bzw. in der Politik überhaupt. Die Parteienszene unterschied sich damals erheblich von der heutigen. Die Demokraten waren konservativer als die Republikaner und nahmen deren heutige Positionen ein; in der Zeit von der Gründung bis heute haben beide Parteien ihr Profil quasi getauscht.

Die mehr als 130.000 bitterarmen irischen Einwanderer stellten um 1855 34% der Wahlberechtigten New Yorks und Tammany Hall versorgte sie mit Unterkunft, Beschäftigung und Hilfe bei der Einbürgerung. Im Verlauf eines einzigen Tages half ein Tammany-Mitglied den Opfern eines Häuserbrands, sorgte für die Freilassung von sechs Betrunkenen durch ein Gespräch mit dem Richter, zahlte einer vom Rauswurf bedrohten Familie die Miete und gab ihr zusätzlich Geld für den Lebensunterhalt, verschaffte vier Personen Arbeit, nahm an den Begräbnisfeiern eines Italieners und eines Juden teil, besuchte eine Bar Mitzvah und ging auf die Hochzeit eines jüdischen Brautpaars in seinem Stimmbezirk. Ein solches System sorgte für Abhängigkeit und gegenseitige Verpflichtung und sobald sie sich aus dem Elend herausgearbeitet hatten, engagierten sich viele der einst Unterstützten selbst bei Tammany Hall. Auf diese Art und Weise wurde die Organisation zunehmend irisch unterwandert. Durch das Prinzip des wechselseitigen Gebens und Nehmens entstand ein mafiöses Geflecht von Beziehungen, das 80 Jahre lang die Politik von New York bestimmte. Es begann 1854 mit der von Tammany Hall betriebenen Wahl von Fernando Wood zum New Yorker Bürgermeister und endete erst 1934 nach dem Amtsantritt des legendären Fiorello La Guardia.

Der korrupte Häuptling

Ein erschreckender Höhepunkt der Korruption in diesen Jahren wurde unter William Tweed (1823 – 1878) erreicht, der von 1863 bis 1874 Grand Sachem der Tammany Hall und gleichzeitig Vorsitzender der Demokraten in New York war. Seine Vorfahren waren emigrierte schottische Protestanten, er selbst verließ die Schule mit 11, um in der Werkstatt seines Vaters zu arbeiten. Als Big Bill (den Spitznamen erhielt er wegen seines Leibesumfangs) war er Anführer einer Jugendgang und ging später zur Feuerwehr, wo er schnell Karriere machte. Gefördert von Tammany Hall entschloss er sich im Alter von 29 Jahren für eine Politiklaufbahn in der Demokratischen Partei, für die er 1853 als Abgeordneter im US Repräsentantenhaus einzog. Sein weiterer Aufstieg vollzog sich gleichermaßen in der Tammany Society wie in der Partei; 1863 stand er in beiden an der Spitze und erhielt den Spitznamen „Boss Tweed“; 1868 wurde er auch noch Senator des Staates New York. Er bekannte sich offen dazu, bestechlich zu sein und nutzte seine Stellung schamlos zur persönlichen Bereicherung sowie zur Begünstigung von Tammany Hall aus. So raffte er ein persönliches Vermögen in Höhe eines zweistelligen Millionenbetrags zusammen und ließ der Tammany Society 200 Millionen Dollar aus öffentlichen Kassen zukommen. Seine „Einnahmen“ erzielte er durch krumme Geschäfte, indem er z. B. Parkbänke für 5 $ pro Stück kaufte und sie an die Stadt für 600 $ weiterverkaufte oder durch die Verteuerung öffentlicher Bauvorhaben zu seinen Gunsten. Beim Bau des von ihm organisierten City Hall Park stiegen die ursprünglich auf 350.000 $ geschätzten Kosten auf 13.000.000 $ bei Fertigstellung. Er installierte ein ausgefeiltes Korruptionsystem zur weiteren Sicherung seiner Macht: Immigranten erhielten das Bleiberecht nur gegen Bestechungsgelder, Beamte mit Entscheidungsbefugnis wurden eingeschüchtert oder ihrerseits bestochen und die Presse wurde durch Vergabe von gut dotierten Inserataufträgen der Kommune oder von Mitgliedern der Society gefügig gemacht. Auch vor Wahlfälschungen in New York schreckte Tweed nicht zurück. Auf seinem Höhepunkt war er der drittgrößte Grundstücksbesitzer der Stadt, Direktor der Erie Railway, Direktor der Tenth National Bank und der New York Printing Company, Besitzer des Metropolitan Hotel und Präsident des Americus Club. Er besaß ein Haus auf der Fifth Avenue und ein Landhaus in Greenwich, zwei Yachten und Hemdknöpfe aus Diamanten, die über 300.000 $ in heutiger Währung wert waren. Ungeachtet all dessen legte er jedoch allergrößten Wert auf sein Image als Freund der Armen und Einwanderer.

Der damals sehr bekannte Karikaturist Thomas Nast prangerte mit seinen Zeichnungen in der Zeitschrift Harper’s Weekly das System von Tweeds Korruption und politischer Willkür scharf an. Tweed waren Presseartikel über ihn ziemlich egal, da, wie er meinte, seine Klientel ohnehin nicht lesen könne, er fürchtete aber Nasts bissige Karikaturen, die auch von Analphabeten leicht verstanden wurden. Der Versuch, die Herausgeber des Blattes unter Druck zu setzen, indem er ihnen städtische Aufträge entzog und die geplante Bestechung des Künstlers mit 500.000 $ scheiterten jedoch kläglich. Ohnehin war Tweeds Stern (und der von Tammany Hall) im Sinken und mit dem Wechsel der Präsidentschaft auf die Republikaner wendete sich das Blatt. 1871 fand ein Untersuchungsausschuss heraus, dass in den Haushaltsbüchern des Staates New York Thermometer für 7.500 $ und Besen für 41.190 $ pro Stück abgerechnet wurden, alles zugunsten von mit Tweed verbandelten Personen. Ein Zimmermann hatte 360.747 $ für die Arbeit von einem Monat eingestrichen, und ein Einrichtungshaus 5.691.144 $ für Möbel und Teppiche berechnet. Ein Sheriff von New York versorgte den Ausschuss aus Enttäuschung über zu wenig Schmiergeld mit weiteren belastenden Dokumenten. 1874 wurde Tweed endlich angeklagt und zu zwölf Jahren Haft verurteilt, 1876 starb er im Gefängnis. Die Tammany Society wurde reformiert, ihre Mitglieder waren aber bald wieder in den alten Machtpositionen und konnten weiterhin die Bürgermeisterwahl von New York City beeinflussen.

1886 kandidierte Theodore Roosevelt, der spätere US Präsident, für das Amt des Bürgermeisters. In der unter Kontrolle von Tammany Hall stehenden und von Fälschungsvorwürfen überschatteten Wahl erzielte er nur 27 Prozent der Stimmen und verlor deutlich. Allerdings wurde er neun Jahre später für zwei Jahre zum Leiter des New York Police Department (NYPD) ernannt und reformierte dabei die als korrupteste Behörde Amerikas geltende New Yorker Polizei radikal. Jedoch blieb der Einfluss von Tammany noch 30 weitere Jahre bestehen, bis es Fiorello LaGuardia nach seiner Wahl zum Mayor of New York glückte, die Macht dieser Bedrohung der Demokratie ein für alle Mal zu brechen. Im Folgenden möchte ich exemplarisch vier der für mich einflussreichsten und/oder charismatischsten New Yorker Bürgermeister vorstellen.

Bürgermeister: Fiorello LaGuardia

LaGuardia (1882-1947) wurde als Kind italienischer Eltern in New York geboren, wuchs aber in Arizona auf. Als sein Vater dort 1898 seinen Job als Leiter einer Militärkapelle verlor, zog die Familie nach Triest, der (damals habsburgischen) Heimatstadt seiner italienisch-jüdischen Mutter. LaGuardia arbeitete nach seinem Schulabschluss in den US-Konsulaten in Budapest und Fiume (heute: Rijeka) und kehrte nach 6 Jahren mit exzellenten Sprachkenntnisse (Englisch, Italienisch, Deutsch, Kroatisch und Jiddisch) nach New York zurück um dort Jura zu studieren. Sein Studium finanzierte er durch die Tätigkeit als Übersetzer auf Ellis Island, was ihn schon früh mit den Problemen der Migranten in den USA konfrontierte. Nach dem Juraexamen wurde er zum stellvertretenden Staatsanwalt (attorney general) des Staates New York berufen, entschloss sich aber bald, für die Republikaner als Kandidat für das US-Repräsentantenhaus anzutreten. Im Wahlkampf erlebte er die bekannten Praktiken der Tammany Hall und widmete von nun an sein ganzes politisches Leben dem Kampf gegen die Korruption. Bei seiner ersten Wahl bestand er darauf, die Stimmenauszählung persönlich mit zu kontrollieren, was ihm einen hauchdünnen Sieg gegen den von Tammany unterstützten demokratischen Kandidaten einbrachte und zwar in einem Bezirk, in dem diese für gewöhnlich einen Vorsprung im Verhältnis von 5:1 erzielten. Nach seinem Rücktritt als Abgeordneter 1919 war er kurz Präsident des City Council (Stadtrats) von New York, ehe er 1923 für 10 Jahre in den Kongress zurückkehrte, nicht nur für die Republikaner sondern auch für die kurzlebige, aus der Gewerkschaftsbewegung hervorgegangene American Labor Party. 1929 hatte er – noch als Kongressmitglied – für die Republikaner bei der New Yorker Bürgermeisterwahl kandidiert, diesmal aber die immer noch existierende Macht von Tammany Hall mit voller Wucht zu spüren bekommen. Er kassierte die höchste Niederlage in der New Yorker Geschichte überhaupt und das gegen einen durch und durch korrupten Tammany-Hall-Kandidaten. LaGuardia kehrte dennoch aus Washington nach New York zurück und machte sich dort als Gegner von Kinderarbeit und Prohibition sowie als Befürworter der Gleichberechtigung von Frauen einen Namen. Auch wandelte sich das politische Klima nach dem Börsenkrach zu seinen Gunsten. Gouverneur F. D. Roosevelt hatte inzwischen einen Untersuchungsrichter ernannt (um der Korruption bei Tammany und im Bürgermeisteramt nachzugehen), der Erstaunliches zutage förderte: Ein Sheriff besaß bei einem Einkommen von 8.000 $ ein Barvermögen von 400.000 $, von dem er behauptete, es in einer zu Hause bewahrten Blechbüchse zusammengespart zu haben. Allmählich begann der Kampf gegen die Korruption zu greifen und die Macht der Tammany Society schwand, bis bei der 1934 stattfindenden Bürgermeisterwahl LaGuardia auf über 2 Mio Stimmen kam und mit großer Mehrheit zum Mayor of New York gewählt wurde – der erste ohne Unterstützung von Tammany seit 80 Jahren. Die Society verlor weiterhin an Bedeutung und löste sich später (1967) sogar auf. Kaum im Amt, bestimmte der neue Bürgermeister einen Sonderankläger, um die Macht der organisierten Kriminalität zu brechen. Dieser wandte sich zuerst gegen das illegale Glücksspiel, das bereits geschäftliche Grundlage der klassischen New Yorker Banden geworden war und vor allem von Dutch Schultz, einem Freund des mächtigsten Mafioso der Stadt, Lucky Luciano, betrieben wurde. Schultz wurde wegen Steuerhinterziehung angeklagt, Luciano 1936 zu 30 bis 50 Jahren Haft verurteilt.

Als Verwaltungsexperte sorgte LaGuardia dafür, dass in der Stadtverwaltung nur noch qualifiziertes Personal eingestellt wurde und brachte sie damit auf Vordermann. Auch die katastrophale Finanzlage, die sein Vorgänger hinterlassen hatte, wurde bereinigt. Im Zuge der Haushaltseinsparungen kürzte er sein eigenes Gehalt von 40.000 auf 22.500 Dollar. Wegen der Wohnungsnot kümmerte er sich um öffentlichen Wohnungsbau, eine seiner ersten Amtshandlungen war die Gründung der New York City Housing Authority (NYCHA). Das Stadtbild von Manhattan änderte sich in seiner Amtszeit erheblich. Als Gegner von oberirdischen Schienenfahrzeugen wie Straßenbahn und Elevated Railway setzte er durch, dass diese unter die Erde verlegt und das Hochbahnsystem in Manhattan eingestellt und abgerissen wurde. LaGuardia trat 1945 nach drei Amtszeiten ab und starb 1947 im Alter von 64 Jahren. Seiner Frau hinterließ er nur 8.000 $ und ein Häuschen in der Bronx. Ganz New York trauerte um „The Little Flower“, wie er in Übersetzung seines Vornamens Fiorello und in Anspielung auf seine geringe Körpergröße genannt wurde.

Ed Koch

Es dauerte 30 Jahre, bis wieder ein ähnlich charismatischer Typ wie LaGuardia das Bürgermeisteramt einnahm. Ed Koch (1924–2013) wurde als Sohn polnisch-jüdischer Eltern in der Bronx geboren und studierte nach seiner Militärzeit im 2. Weltkrieg, die er zuletzt als Besatzungssoldat in Bayern verbrachte, Jura. Über die politische Tätigkeit als Staatsanwalt kam er für die Demokratische Partei in die New Yorker Stadtpolitik und anschließend ins Repräsentantenhaus und kandidierte 1977 gegen den Bürgermeister Abraham Beame, der ebenfalls den Demokraten angehörte, für das Amt des Mayor of New York. Als Koch 1978 zum Bürgermeister gewählt wurde, steckte New York in einer tiefen Finanzkrise, hervorgerufen durch einen aufgeblähten öffentlichen Dienst und ein strukturelles Haushaltsdefizit. In den Jahren 1975 und 1976 stand New York kurz vor dem Bankrott, nachdem sich die Bundesregierung unter Präsident Gerald Ford zunächst geweigert hatte, Bürgschaften für die Stadt zu übernehmen. In dieser Zeit, als die Stadt sich außerstande sah, ihre öffentlichen Bediensteten zu bezahlen, trat Koch sein Amt an und sorgte von Anfang an dafür, dass der städtische Haushalt nur noch nach den Regeln der US GAAP (Generally Accepted Accounting Principles) aufgestellt wurde. Das bedeutete, dass die Regeln für staatliche Haushaltsführung denen der Geschäftswelt entsprechen mussten. Damit gingen eine Reihe schmerzlicher Einschnitte im Budget einher, wie die Reduzierung der städtischen Beschäftigten und der Zahl der Krankenhausbetten sowie die Einführung von Studiengebühren für die City University, alles Maßnahmen, mit denen sich sein Amtsvorgänger bereits unbeliebt gemacht hatte. Aber Koch ging noch darüber hinaus. Die Beseitigung der Diskriminierung auf dem Arbeitsplatz aufgrund der sexuellen Orientierung von Mitarbeitern war ihm ein großes Anliegen und mündete, da ihm die Bundespolitik nicht folgte, in einem kommunalen Antidiskriminierungsgesetz. Da er selbst ehelos lebte, trug ihm das den Verdacht ein, ebenfalls homosexuell zu sein, aber er wusste sich dieser und anderer Anwürfe stets durch seinen Humor, seine Scharfzüngigkeit und seine Glaubwürdigkeit zu erwehren. Legendär sind seine lakonischen Bemerkungen wie “Wenn Sie mit mir in 9 von 12 Punkten übereinstimmen, wählen Sie mich! Wenn Sie in 12 von 12 Punkten übereinstimmen, gehen Sie zum Psychiater!“ oder „Ich bin nicht der Typ, der Magengeschwüre bekommt, sondern der welche verursacht.“ Seine Politik wurde von der Bevölkerung sehr gut angenommen, unter anderem, weil er den städtischen Wohnungsbau hochhielt und vernachlässigte Häuser massenweise renovieren ließ. Koch benutzte auf dem Weg ins Büro die öffentlichen Verkehrsmittel und grüßte die Mitfahrer mit „“Hi! How am I doing?”, worauf er sich selbst sofort antwortete “Terrific!”, bevor es jemand anderes tat. Nach seiner ersten Wiederwahl bewarb er sich erfolglos um den Gouverneursposten für New York, was aber seiner Popularität keinen Abbruch tat, denn er wurde später auch noch für eine dritte Amtszeit als Bürgermeister gewählt. Allerdings rückte er in seiner politischen Einstellung im Laufe der Jahre immer weiter nach rechts, so dass er schließlich gleichermaßen auf der Liste der Demokraten wie auch der Republikaner stand. Besonders stolz war er darauf, dass es ihm gelungen war, den Streik der New Yorker Verkehrsbetriebe, der das öffentliche Leben in der Stadt lahmgelegt hatte, zu brechen. In seinen Wahlkämpfen versuchte er, den Wähler stets als Individuum anzusprechen und nicht als Anhänger seiner Partei. Dennoch ging seine Beliebtheit allmählich zurück, vor allem durch einige Korruptionsvorfälle in seiner Verwaltung, so dass er für eine vierte Amtszeit nicht mehr nominiert wurde. Er kommentierte das trocken mit „Das Volk hat gesprochen – und dafür sollte es bestraft werden“. Nach seinem Abtreten 1989 setzte er sich nicht zur Ruhe, sondern wurde wieder als Jurist tätig, arbeitete an diversen Hochschulen als Gastprofessor, schrieb ein Kinderbuch, drehte Filme und leitete eine Radio-Talkshow. Zusammen mit dem ehemaligen republikanischen Verteidigungsminister Colin Powell arbeitete er an der KSZE-Konferenz von 2004 mit, was er im selben Jahr auch auf der Europäischen Konferenz gegen Antisemitismus in Berlin tat. Aufsehen erregte die Empfehlung für Rudolph Giuliani als seinen Nachfolger, wie er sowieso gerne parteiübergreifende Unterstützung von Politikern kundtat, von den Demokraten Hillary Clinton und Barack Obama bis zum Republikaner George W. Bush. Sein Nachfolger wurde jedoch noch nicht Giuliani, sondern der erste – und bis 2022 einzige – Afro-Amerikaner auf dem New Yorker Bürgermeistersessel, der Demokrat David Dinkins.

Wegbereiter des Trumpismus: Rudolph Giuliani

1994, vier Jahre nach der Wahl von Dinkins gelang es Giuliani, geboren 1944 in New York, dann doch noch, Bürgermeister von New York zu werden. Er steht für einen gravierenden Wechsel des amerikanischen Politikstils zum Negativen, der Auswirkungen bis auf die Präsidentschaft von Donald Trump hat, nur deshalb habe ich ihn in diese Auflistung aufgenommen. Er begann sein politisches Wirken zunächst als Demokrat und ließ sich später als Unabhängiger registrieren; seit 1976 gehört er den Republikanern an. „Rudy“ Giuliani entstammt einer Familie italienischer Migranten der zweiten Generation. Sein Vater Harold Angelo Giuliani wurde 1938 straffällig, saß 1 1/2 Jahre in Sing-Sing und verkehrte danach in Kreisen der italienischen Mafia. Sein Sohn setzte sich davon entschieden ab und strebte nach dem Abschluss der Law School eine Karriere als Staatsanwalt an, die ihn bis ins Amt des Bundesstaatsanwalts führte. In dieser Funktion führte er spektakuläre Prozesse, so einen gegen Asylbewerber aus Haiti zur Zeit des Diktators „Baby Doc“ Duvalier, in dem Giuliani die These vertrat, es gebe in Haiti keine oder nur vernachlässigbare politische Repression, aus diesem Grunde könne auch kein Asyl gewährt werden. Großes Aufsehen erregte der „Monsterprozess“ gegen die italienische Drogenhändlerszene – die nach einem italienischen Mafiafilm so genannte „Pizza Connection“ – in dem die Täter zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Giuliani erwarb sich hierbei das Ansehen als „harter Hund“, das ihm später bei seiner politischen Karriere sehr nützlich sein sollte. Kritiker führten dagegen an, dass er gerne öffentlichkeitswirksame Verhaftungen arrangiere, die, weil vorschnell und unvorbereitet, oft in Freilassungen aus Mangel an Beweisen endeten. Schon im Wahlkampf gegen Dinkins wurde der erwähnte neue Politikstil deutlich, eine polarisierende Kampagne, die die WASP-Klientel (White, Anglo, Saxon, Protestant) gegenüber den Migranten bevorzugte und völlig neue Töne in Bezug auf eine strikte Law-and-Order-Politik anschlug. Der neue Chef des NYPD (New York Police Department), William Bratton, führte eine offensive und erfolgreiche Polizeistrategie ein, die unter den Slogans broken windows theory und zero tolerance zu einem deutlichen Rückgang der Kriminalitätsquote führte. Der erstere Slogan besagte, dass Vernachlässigung und Untätigkeit in einem Stadtviertel zu weiterem Niedergang führe, weshalb augenblicklich darauf reagiert werden müsse, während letzterer dazu aufforderte, jedwede Ordnungswidrigkeit von der Bagatelle bis hin zum Verbrechen streng zu ahnden. Das so positiv gewandelte Bild New Yorks in den Augen der Bürger führte 1998 zu Giulianis Wiederwahl. In seine zweite Amtszeit fiel der Terroranschlag von 9/11, der dem Bürgermeister die Chance bot, Führungseigenschaften in einer nationalen Katastrophe zu zeigen. Nach dem Einsturz der Twin Towers des World Trade Centers am 11. 09. 2001 koordinierte er die Hilfsmaßnahmen der Stadtverwaltung, spendete Trost für die Hinterbliebenen der Opfer und erklärte die umgekommenen New Yorker Feuerwehrleute zu Helden. Seine Kritiker sahen seine Erfolge dagegen in einem ganz anderen Licht. Die Kriminalitätsrate sei in den 1990er Jahren bundesweit zurückgegangen, auch in Städten ohne broken windows und zero tolerance. Die mit letzterem einhergehende brutale Polizeigewalt, die zur Tötung auch unschuldiger und in den meisten Fällen schwarzer Mitbürger führte, löste Unruhen und gewaltsame Ausschreitungen aus. Sein Engagement bei 9/11 sahen viele als übertrieben an und äußerten den Verdacht, dass es dem Bürgermeisteramt nur eine positive Publicity verschaffen sollte. Viel bedenklicher als diese Kritikpunkte aber war Giulianis Umgehen mit der Wahrheit in der politischen Auseinandersetzung. Lange vor der bewussten Lüge als politischer Waffe und der Instrumentalisierung von fake news durch Donald Trump bediente sich bereits Giuliani dieser Mittel. So wies er jede Nachfrage über die kriminelle Karriere seines Vaters brüsk zurück („He was an honest man!“), bis ihn ein Enthüllungsjournalist in seinem Buch mit den Fakten konfrontierte und er zugab, doch davon gewusst zu haben. Im Wahlkampf gegen Hillary Clinton um den Senatssitz für New York behauptete er, diese sei eine herzlose Frau, die es nicht einmal für nötig befunden habe, den Toten von 9/11 die Reverenz zu erweisen – dabei existierten Fernsehaufnahmen, die ihn selbst und Hillary bei der Kranzniederlegung auf Ground Zero zeigten. Nach Ablauf seiner zweiten Amtszeit startete er eine Kampagne, um als Präsidentschaftskandidat nominiert zu werden. Darin griff er Barack Obama mit dem Vorwurf an, erst unter dessen Präsidentschaft hätte es islamistische Anschläge auf amerikanischem Boden gegeben (9/11 schien er dabei bereits vergessen zu haben!). Nach dem Scheitern seiner eigenen Präsidentschaftsambitionen diente er sich Donald Trump als Rechtsberater an und unterstützte ihn bei der Praktizierung des von ihm selbst kreierten neuen Politikstils (fake news, alternative facts). Aktuell ist Giuliani einer der fanatischsten Verfechter der Mär von der „stolen election„, konnte aber vor Gericht keinerlei Nachweise für Unregelmäßigkeiten bei der Wahl Joe Bidens erbringen. In New York und Washington D.C. hat er deswegen seine Zulassung als Rechtsanwalt verloren.

Die alternative Karriere: Bill de Blasio

Die Leistungen des letzten Bürgermeisters von New York, Bill de Blasio, werden zwar nicht überschwänglich beurteilt, trotz eines überzeugenden Ergebnisses bei seiner Wiederwahl. Aber in Zeiten des Rechtsrucks, des Populismus und der Spaltung der Nation unter Donald Trump ist es für liberal denkende Menschen dennoch wohltuend, eine politische Karriere wie die seine zu betrachten. Das positive Bild vom „Kaleidoskop New York“ wird von solchen Biographien geprägt und dass de Blasio in diesen reaktionären Zeiten mit einem Wahlprogramm, das darauf abzielte, Ungleichheiten zu beseitigen und Benachteiligten ein würdiges Leben in New York zu ermöglichen, einen erdrutschartigen Sieg erzielte, stärkt nicht nur meinen Glauben an unsere westliche Demokratie.

Als Warren Wilhelm, Jr. wurde er 1961 in New York als Sohn von Maria, geborene De Blasio und Warren Wilhelm geboren. Sein Vater stammte von deutschen Einwanderern des 19. Jh. ab, seine Großeltern mütterlicherseits kamen aus Süditalien. Nach einem brillanten Examen in Yale zog der Vater in den Zweiten Weltkrieg und kämpfte in Japan in der verlustreichen Schlacht um Okinawa. Nach der Rückkehr ging er in den Staatsdienst, verließ ihn aber 1953 wieder, weil in der sogenannten McCarthy Ära das FBI Untersuchungen gegen ehemalige Yale-Studenten wegen kommunistischer Umtriebe führte. Dadurch wurde er beruflich aus dem Gleis geworfen und auch aufgrund seines nie verarbeiteten Kriegstraumas (er hatte ein Bein verloren) rutschte er in den Alkoholismus ab. Nach der Geburt seines jüngsten Sohnes, des späteren Bürgermeisters, verschlimmerte sich sein Zustand, so dass sich seine Frau von ihm trennte und mit den Kindern nach Maryland umzog. Als er auch noch an einem inoperablen Lungenkrebs erkrankte, beging er 1979 Suizid.

Maria de Blasio, eine Werbemanagerin, zog die Kinder allein auf und Warren Jr. änderte seinen Namen zunächst in Warren de Blasio-Wilhelm und 2002 in Bill de Blasio, wohl auch, um die Verbindung zu seiner Mutter und seinem italienischen Erbteil zu betonen, schließlich war er zweisprachig aufgewachsen. (Den Rufnamen Bill, die amerikanische Kurzform von Wilhelm bzw. William – obwohl der sich auf seinen Nachnamen bezog – erhielt er schon als Kind). In seiner Studentenzeit in New York engagierte er sich von Anfang an für Studentenrechte und gegen die Weiterverbreitung von Atomwaffen. Nach seinem Master of International Affairs an der Columbia University besuchte er als Teilnehmer eines freiwilligen Sozialdienstes 10 Tage Nicaragua, um Lebensmittel und Medizin während der Revolution zu verteilen. Den damaligen Ideen des Sandinismus stand er sehr nahe und bezeichnete sich selbst als „demokratischen Sozialisten“. Nach der Rückkehr zog er nach New York und arbeitete für eine nonprofit organization, deren Ziel die Verbesserung der Gesundheitsversorgung in Mittelamerika war.

In die Politik kam er als freiwilliger Koordinator der Wahlkampagne von David Dinkins für das Bürgermeisteramt (dem ersten schwarzen Bewerber für dieses Amt), dem eine feste Anstellung als Wahlkampfmanager für einen Abgeordneten des Repräsentantenhauses folgte. 1997, während der Ära von Bill Clinton, arbeitete er als Regionaldirektor für New York und New Jersey im Bundesressort Wohnungsbau und Stadtentwicklung und erhöhte dort die Bundeszuschüsse für Sozial- und Seniorenwohnungen. Anschließend leitete er Hillary Clintons erfolgreiche Kampagne für den Senatssitz des Staates New York. 2001 zog er für den 39. District (einen Teil von Brooklyn) ins New York Council ein und wurde 2003 und 2005 mit 72% und 83% der Stimmen wiedergewählt. In diesem Amt sorgte er für Mieterschutz-Gesetze, die die Rechte von Mietern mit Wohnberechtigungsscheinen, von HIV-Infizierten und der LGBT-Community (lesbian, gay, bisexual and transgender) gegenüber den Vermietern stärkten. Einwanderer ohne Englischkenntnisse sollten bei der Antragstellung sprachlich unterstützt werden. Als Mitglied des Council wirkte de Blasio auch in den Ausschüssen für Allgemeine Fürsorge (Vorsitz), Erziehung, Umweltschutz, Finanzen, und Technologie in der Regierungsarbeit des Bürgermeisters mit.

2010 wurde er in das Amt des New York City Public Advocate gewählt, der sich um Sorgen und Beschwerden der Bürger kümmert und Vorschläge für die Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen unterbreitet (bei uns etwa vergleichbar einem Vorsitzenden des Petitionsausschusses). Dadurch war er zwar nur noch beratendes Mitglied des City Council, konnte aber viel öffentlichkeitswirksamer und bürgernaher Einfluss auf die Kommunalpolitik nehmen. Von Anfang an kritisierte er die Bildungs-, Familien- und Sozialpolitik von Bürgermeister Michael Bloomberg, z.B. wegen der Abschaffung freier U-Bahn-Tickets für Schüler, der Budgetkürzung bei der Kinderbetreuung und des Co-Location-Streits um die (für die öffentlichen Schulen schädliche) Unterbringung von staatlich geförderten charter schools und öffentlichen Regelschulen im selben Gebäude. Gegen Bloombergs Pläne, den städtischen Haushalt durch Entlassung von 4.600 Lehrern zu reduzieren, organisierte er allgemeinen Widerstand und erreichte, dass die Einsparungen anderswo erfolgten. Die Reduzierung der Anzahl von Wohnberechtigungsscheinen für Bürger mit niedrigem Einkommen durch die New Yorker Wohnungsbehörde (New York City Housing Authority) musste auf de Blasios Initiative rückgängig gemacht werden. Er regte auch die Veröffentlichung der „NYC’s Worst Landlords Watchlist“ an, die solche Vermieter anprangerte, welche sich weigerten, Gefahrenstellen in Häusern und Wohnungen zu beheben.

Als Michael Bloomberg zur Wiederwahl nicht mehr antreten durfte, kandidierte de Blasio 2013 endlich für das Amt des Mayor of New York. In seinem Wahlprogramm kündigte er Steuererhöhungen für Bürger mit einem Einkommen von mehr als 500.000 Dollar an; die Mehreinnahmen sollten zur Finanzierung vorschulischer und schulischer Programme dienen. Außerdem sollten jährlich 150 Millionen Dollar in die City University of New York investiert werden, um die Studiengebühren zu senken und die Studienabschlüsse zu verbessern. Gegenüber Charter-Schulen und deren Finanzierung kündigte er eine kritische Haltung an und machte seine Präferenz für die traditionellen öffentlichen Schulen deutlich. Es war das Anti-Programm zu seinem Vorgänger Michael Bloomberg, der die Stadt zwölf Jahre lang angeführt und eine boomende Wirtschaft, gestiegene Lebensqualität und eine sinkende Kriminalitätsrate hinterlassen hatte. Jedoch gab es zu viele Verlierer: die Mittelschicht, die sich die guten Gegenden der Stadt nicht mehr leisten konnte, die Armen, die an den Rand gedrängt wurden und Minderheiten, besonders Farbige, die sich von der Polizei drangsaliert fühlten. Von Demokratischen Clubs, der größten Gewerkschaft von New York City, Stars wie Alec Baldwin, Susan Sarandon und Harry Belafonte erfuhr de Blasio große Unterstützung in seiner Kampagne. Eine Protestdemonstration gegen die Schließung des Long Island College Hospitals, bei der er und andere prominente Demokraten wegen Ruhestörung vorübergehend festgenommen wurden, erbrachte zusätzliche Publicity.

Mit einem der deutlichsten Ergebnisse der vergangenen Jahrzehnte gewann de Blasio schließlich die Wahl in der größten Stadt der USA. Der linke Demokrat kam bis auf 73 % der Stimmen, während sein republikanischer Kontrahent nur rund 24 % erreichte. Erstmals seit 20 Jahren stellt die Demokratische Partei nun wieder einen Bürgermeister von New York. Als sein Hauptanliegen bezeichnete er die wachsende Ungleichheit in der Stadt und als eine seiner ersten Maßnahmen schuf er die municipal identification card (Personalausweis) für alle Bewohner der Stadt ungeachtet ihres Immigrationsstatus, die ihnen die Inanspruchnahme städtischer Leistungen sicherte. Die Reform des von Rudy Giuliani eingeführten stop-and-frisk program, das verdachtsunabhängige Personenkontrollen möglich machte und vorwiegend Angehörige der Unterschicht und der Minderheiten betraf, brachte ihm auch Gegenwind. Ging es unter seinen Vorgängern um Vorfälle ungerechtfertigter Polizeigewalt gegen Minderheiten, wurden jetzt zwei Polizisten in einer Weise getötet, die einer Exekution gleichkam. Als de Blasio das Krankenhaus aufsuchte, wohin man die Leichen gebracht hatte, drehten ihm die anwesenden Polizisten demonstrativ den Rücken zu. Dennoch errang er bei seiner Wiederwahl 2017 mit 65 % der Stimmen erneut eine deutliche Bestätigung seiner Politik. Als Positivum seiner Ära kann gewertet werden, dass nach dem Ende seiner Amtszeit bei der Bürgermeisterwahl 2021 die Populisten keine Chancen hatten und mit dem siegreiche Kandidaten Eric Adams als zweiter Schwarzer in diesem Amt (und mit seiner zwanzigjährigen erfolgreichen Karriere im Polizeidienst) wieder ein positives Beispiel für das Kaleidoscope New York gegeben wird.

5 Immigration

New York, das Traumziel

Ein rauschendes Fest inmitten unserer russisch-jüdischen Verwandtschaft (aus Anlass des 21. Geburtstags unserer Enkelin sowie ihrer Bachelor-Verleihung) bringt mich dazu, ein wenig über Immigration nachzudenken, die Tatsache, die New York am meisten geprägt hat und es auch immer noch tut.

Aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte war die Stadt stets auf Zuwanderung angelegt. Der indigenen Bevölkerung war das urbane Leben fremd, deshalb gehörte sie von Anfang an nicht zur Einwohnerschaft und mit der Ausbreitung der Stadt wurde sie zunehmend verdrängt und später sogar ausgerottet. Das sehr erwünschte Wachstum konnte nur mit Einwanderern erreicht werden und zu den wenige hundert niederländischen Einwohnern gesellte sich schon bald eine viel größere Anzahl von Briten, nachdem die Krone die Kolonie usurpiert hatte. Die Ferne vom Monarchen, das Fehlen des Feudalsystems in der Neuen Welt und die Glaubensfreiheit bewog viele Briten, die Unterdrückung in der Heimat gegen das zwar unsichere und karge, aber freie Leben in Übersee einzutauschen. Doch erst mit der amerikanischen Unabhängigkeit wurde die Neue Welt zum bevorzugten Migrationsziel aller Europäer, die Hungersnot, Armut, Leibeigenschaft, Religionskriegen und der Rekrutierung zur Armee entkommen wollten. Die ersten Emigrationswellen kamen aus den Armutsgebieten Europas wie Norwegen, Irland und Italien, mit der Restauration nach dem Sturz Napoleons kamen Deutsche und Polen dazu, die der Unfreiheit entflohen, bis schließlich die Neue Welt generell zum Ziele aller wurde, die sich durch Auswanderung eine bessere Zukunft erhofften. Die chinesische Migration setzte erst relativ spät ein, wie ich noch im Kapitel Chinatown ausführen werde.

Russen

Nach der Oktoberrevolution kamen erstmals Russen nach Amerika, die vor Kommunismus, Enteignung und Atheismus flüchteten. Während des Stalinismus und sogar noch bis zu Gorbatschow wurde ihnen jedoch das Verlassen des Sowjetstaats verboten. Das galt aber nicht für Juden, die in ihrem Pass als Staatsangehörigkeit den Vermerk „jüdisch“ hatten. Das Sowjetsystem war nämlich gleichermaßen atheistisch wie antisemitisch und wurde durch diesen „Trick“ seine ungeliebten jüdischen Mitbürger los. Sie immigrierten – insbesondere in den 70er Jahren, als wegen amerikanischer Kopfgeldzahlungen besonders viele Visa erteilt wurden – massenhaft in die USA, wo man schon viel früher die vor der Shoah geflüchteten deutschen Juden aufgenommen hatte. Erst nach dem Untergang des Kommunismus emigrierte auch eine größere Anzahl ehemaliger Sowjetrussen, darunter Ukrainer, Weißrussen, Kaukasier und Angehörige der islamischen Sowjetrepubliken nach Amerika.

Von jüdisch-russisch wage ich im Falle „unserer“ Familie gar nicht zu sprechen, weil bei ihnen der Anteil der Religiosität beständig abnimmt. War der Urgroßvater unserer Enkelin, Arkadi, noch ein frommer Mann, der regelmäßig in die Synagoge ging, so änderte sich das in der Großeltern-Generation von Yefim und Biana bereits grundlegend. Ihnen diente die jüdische Religion in erster Linie als Vehikel, die Sowjetunion, in der man sie diskriminierte, zu verlassen. Doch zog es sie nicht ins jüdische Israel, wo Yefim seine Karriere als Zahnarzt sicherlich hätte fortsetzen können, sondern ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, dessen Begrenzungen sie sehr bald kennen lernen sollten. In New York etablierten sie sich eher als Exil-Russen, denn als Juden, weil sie aufgrund fehlender Englischkenntnisse Schwierigkeiten hatten, sich in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren. Ganz besonders New York machte es seinen Immigranten schon seit jeher viel zu leicht, einfach im Status der Nicht-Integration zu verharren, da es hier viele Stadtviertel gibt (die bekanntesten historischen sind Little Italy und Chinatown), die nur durch eine einzige Ethnie geprägt sind und wo man die Landessprache nur im Ernstfall benötigt. Für Yefim bedeutete das russische Leben in NY allerdings, seinen Beruf als Zahnarzt aufzugeben, denn die Ergänzungsprüfung für eine amerikanische Zulassung scheiterte an seinen mangelnden Englischkenntnissen. Die einzige Möglichkeit, wenigstens in seinem weiteren Berufsumfeld zu verbleiben, war eine Umschulung zum Zahntechniker, doch da er zeitlebens für russische Zahnärzte arbeitete (und das bei einem 12-Stunden-Arbeitstag) blieb auch während der Berufstätigkeit nur wenig Möglichkeit, sich sprachlich zu integrieren. Seine heimliche Tätigkeit als Zahnarzt zu Hause (mit dem Behandlungsstuhl im Wohnzimmer) änderte daran ebenfalls nichts, denn auch hier war seine Kundschaft ausschließlich russisch. Ich nehme an, dass es sich in Bianas Berufsleben als Immobilienmaklerin ähnlich verhielt, obwohl ihre Englischkenntnisse ungleich viel besser sind als die Yefims. Jetzt, wo beide nicht mehr arbeiten, sehen sie russisches Fernsehen, treffen russische Freunde und Biana führt endlose Telefongespräche mit ihren Töchtern – auf russisch! In der Generation ihrer Töchter ist die Integration endlich gelungen, denn obwohl noch in Taschkent geboren, durchliefen sowohl Julie (eigentlich Yulia) als auch ihre jüngere Schwester Yana das amerikanische Bildungssystem mit High-School-Diploma und einem anschließenden Universitätsstudium. Beide heirateten russische Männer (Julie in erster Ehe einen russischen Juden), beide stehen der jüdischen Religion aber indifferent gegenüber. Sie sind native speakers sowohl in Russisch als auch in Englisch, jedoch verliert sich erstere Fähigkeit bereits wieder bei ihren Kindern.

Da Julie in zweiter Ehe einen Deutschen heiratete, konkurrieren in ihrem Haushalt nun drei Sprachen miteinander, allerdings mit unterschiedlicher Ausprägung unter den drei Enkelinnen. Alle drei sprechen Englisch muttersprachlich und exzellent: Eden, die als Kleinkind eine russische nanny hatte, kann noch sehr gut russisch, würde aber nie ein Buch in dieser Sprache (und insbesondere in dieser Schrift) lesen, was ihre Mutter dagegen beständig tut. Deutsch lernt sie mit großer Motivation, aber mangels Anwendungsmöglichkeiten steht es bei ihr nur auf Platz drei. Erelle spricht akzentfrei Deutsch mit sehr gutem Wortschatz, verwendet aber noch gelegentlich die englische Grammatik. Deutsch zu schreiben und zu lesen wird die große Herausforderung dieses Sommers sein, wenn sie ein Medizinstudium in Berlin aufnimmt. Mit Russisch hat sie wenig am Hut, versteht aber immerhin das meiste, was die russischen Großeltern zu ihr sagen. Für Manon, die pausenlos für die Schule lernt, ist Englisch die absolute Nummer 1, ihr Deutsch, das sie wie Erelle akzentfrei spricht, ist gegenüber letztem Jahr leider geschrumpft, ob wegen der Konkurrenz von Französisch in der Schule oder mangelnder Sprachpraxis zu Hause, kann ich nicht sagen; Russisch spielt für sie keine Rolle mehr. Alle drei Mädchen sind areligiös, als Julie neulich konstatierte, Erelle sei doch jüdisch wegen ihrer jüdischen Mutter, fing sie sich folgenden Konter ein: „Und das sagt mir jemand, der mich mit pork sandwiches großgezogen hat!“

Von Julie habe ich viele Einblicke in die Denkweise der russischen Immigranten mitbekommen: Während für die Männer das Hauptaugenmerk darauf liegt, durch einen gut bezahlten Job das Leben der Familie in der Fremde in Würde aufrecht zu erhalten, liegt es bei den Müttern darin, den eigenen Kindern zu einem besseren Leben zu verhelfen, als es ihnen selbst vergönnt war. In Gesprächen russischer Mütter untereinander läuft es immer darauf hinaus, herauszustellen, was ihre Kinder bereits geschafft haben und welche Karrieresprünge noch möglich sind. Der Erfolg der Kinder (und Enkel) bestimmt das Statusgefühl der Mütter und ist deshalb nie endender Gesprächsstoff untereinander. Ebenfalls sehr wichtig ist ihnen, dass ihr Nachwuchs in der russisch-jüdischen community verbleibt und deshalb sind Ehen innerhalb dieser sehr erwünscht. Im Falle unserer Schwiegertochter ist ihre zweite Ehe mit einem Nicht-Russen (und obendrein einem Goj) für die Familie gewiss nicht unproblematisch gewesen, wir Großeltern konnten aber keinerlei Ressentiment gegenüber Vincent oder uns feststellen.

Genau wie die Immigranten anderer Ethnien neigen auch die New Yorker Russen dazu, sich in eigenen Stadtvierteln zu ballen. Das größte Russenviertel liegt in Brighton Beach auf Coney Island im Bereich des im Laufe der Jahrzehnte völlig heruntergekommenen Amüsierviertels am Atlantikstrand. Nach Abriss desselben entstanden hier vielgeschossige Plattenbauten wie in Ost-Berlin, in denen Schwarze und Immigranten billigen Wohnraum fanden. Im Verlauf der Jahre zog die schwarze Bevölkerung weg und – besonders in den 70er Jahren – kamen viele ukrainische Juden von der Krim dazu, die wie in ihrer Heimat am Schwarzen Meer auch in der Fremde am Wasser wohnen wollten. In den Straßen entlang der Hochbahn nach Coney Island entfaltet sich in der Little Odessa genannten neighborhood russisches Geschäftsleben mit originalen Lebensmittelgeschäften und entsprechender Gastronomie sowie einem großen Buchladen, in dem es jedes russische Buch in kyrillischer Schrift und eine große Auswahl an russischer Musik gibt. Heutzutage stellt die Siedlung ein aufstrebendes Viertel dar, nachdem der Verfall von Coney Island gestoppt ist und die Wohnlage direkt am Meer, noch dazu mit guter Anbindung durch die Verkehrsmittel sehr nachgefragt ist. Aber auch in Queens leben viele Russen, wie überhaupt dieser Bezirk, der größte der five boroughs of New York, überwiegend von Immigranten bewohnt wird.

Latinos und andere

Die Roosevelt Avenue am Bahnhof von Jackson Heights (der neighborhood unserer Verwandtschaft) ist fest in der Hand von Latinos (der mit 3 Mio größten New Yorker Immigrantengruppe) die sich aber noch in weitere spezielle süd- und mittelamerikanische Ethnien aufteilen: Kolumbianer, Peruaner, Venezolaner sowie Kubaner und Mexikaner. Kilometerweit reihen sich handtuchschmale Geschäfte mit immer dem gleichen Warenangebot aneinander. Jamaica, das Stadtviertel an der Endstation der E-Linie ist das Zentrum der Latino-Migranten. Eine besondere Rolle spielen die Puertoricaner, die aber nicht in Queens, sondern in Harlem und der Bronx wohnen. Aufgrund des politischen Status ihrer Heimatinsel können sie ungehindert in die USA einreisen und sind mit über 1 Mio die größte Einzelgruppe unter den Latinos in New York. Sie stehen an unterster Stelle der Migrantenhierarchie, ihr Stadtviertel El Barrio in East Harlem gilt als kriminalitätsbelastet und gefährlich. Hier herrscht ein noch niedrigerer Integrationsstand als anderswo in der Stadt und von seinen Einwohnern ist der Name für in NY wohnende Latinos abgeleitet: Nuyoricans.

Unweit der Roosevelt Avenue in Queens, in der 75. Straße, befinden sich indische und pakistanische Geschäfte und im Stadtteil Flushing gibt es ein weiteres – viel größeres – Chinatown neben dem historischen in Manhattan. Und dazu noch Viertel für Kambodschaner, Vietnamesen, Koreaner und viele andere. Alle Geschäfte tragen Geschäftsschilder in der Landessprache- und Schrift, wodurch gerade in den ostasiatischen Vierteln ein pittoresker Eindruck entsteht. Wenn wir mit der Subway von Queens nach Manhattan fahren, passiert es uns oft, dass wir die einzigen „Kaukasier“ im Wagen sind. Dieser Begriff geht auf den deutschen Anthropologen Johann Blumenbach zurück, der 1795 in seiner Schrift „Von den verschiedenen Rassen der Menschen“ alle hellhäutigen – und dadurch angeblich besonders „schönen“ – Menschen als Kaukasier bezeichnete, weil sie in Europa von der Westküste Irlands bis zum Kaukasus lebten. Der bei uns (glücklicher Weise) nicht mehr verwendete Terminus gilt in den USA weiterhin als Synonym für europäischstämmige, weiße Menschen (caucasian race) und wird z. B. auf dem Einreiseformular in die USA benutzt um Weiße von anderen „Rassen“ abzugrenzen. Aber auch sprachlich wird diskriminiert: An den Bahnhöfen in Queens hängen die Mitteilungen der Verkehrsbetriebe MTA (Metropolitan Transportation Authority) in 6 verschiedenen Sprachen aus: Englisch, Spanisch, Puertoricanisch, Russisch und in zwei ostasiatischen Sprachen, nämlich Chinesisch und Koreanisch.

Europäische Immigranten spielen in NY nicht mehr die große Rolle wie im 19. Jh.; die Deutschen (wie auch die Skandinavier) sind z. B. völlig in der amerikanischen Bevölkerung aufgegangen. Aber in Greenpoint, Brooklyn gibt es ein Polenviertel, darüber hinaus existieren überall griechische Läden und die einst größte europäische Immigrantengruppe, die Iren, werden alljährlich zum St. Patrick’s Day sichtbar, wenn allerorten irische Musik gespielt und die Spitze des Empire State Building (sowie gelegentlich auch der East River) grün eingefärbt wird. Die Wiederbelebung traditioneller irischer Volksmusik, für Europäer repräsentiert durch The Dubliners aus der irischen Hauptstadt, wurde durch die irischen Migranten in Amerika angestoßen. James (Chief) O’Neill, einst Police Superintendent in Chicago widmete sich lebenslang der Erforschung der traditionellen irischen Tanzmusik und wurde der Herausgeber der größten Sammlung irischer Reels, Jigs und Hornpipes. The Clancy Brothers and Tommy Makem aus New York waren die stilbildende Folkgruppe und wurden Vorbild für The Dubliners.

All diese genannten Ethnien bevölkern also den New York Melting Pot, eine Metapher, die seit 1908 (in einem gleichnamigen Theaterstück) beschwört, dass die Ingredienzien des Schmelztiegels New York zu einer einheitlichen Masse verschmolzen werden, dem New York Citizen. Doch dieser monokulturellen Sichtweise steht eine mutikulturelle gegenüber, weil die Realität der neighborhoods etwas anderes erzählt. Liberal Denkende, die den Vorteil nebeneinander bestehender gleichberechtigter Kulturen schätzen, möchten anstelle von melting pot lieber von mosaic, salad bowl oder noch besser vom New York Kaleidoscope sprechen.

6 Little Italy

Der originale Ort

Seit jeher sind Chinatown und Little Italy die beiden ethnischen Viertel, die als besonders typisch für das kaleidoscope gelten. Deshalb begebe ich mich voller Interesse in das Viertel um Grand Street und Mulberry Street, über der eine Neon-Reklame „Welcome to Little Italy“ hängt, bin aber bald enttäuscht, weil die (wenigen) italienischen Restaurants und Läden sehr amerikanisiert wirken und die Passanten überwiegend chinesisch aussehen, wie auch im nur ein paar Straßen entfernten Chinatown. An der Mulberry Street erinnert ein kleines Privatmuseum an das historische Little Italy und ein Gedenkstein an den ersten italienischen Siedler in New York im Jahre 1635. Die Vornamen von Peter Caesar Alberti erscheinen darauf bereits amerikanisiert, was sie zur Zeit seiner Ankunft bestimmt nicht gewesen sein dürften. Laut Inschrift ist die Italian Historic Society of America sehr stolz darauf, den 2. Juni zum „Alberti Day“ proklamiert zu haben. Offensichtlich wird der Hype um Little Italy vorwiegend von Geschäftsleuten gefördert, die „original“ italienische Restaurants betreiben und durch regelmäßige italienische Feste (Carnevale, Columbus Day, Natale) die Aufmerksamkeit der Konsumenten auf dieses Viertel lenken wollen.

Besonders skurril ist das Fest des Hl. Januarius, des Stadtheiligen von Neapel. In seiner Heimatstadt, in der er das Martyrium erlitt, hat er eine große Bedeutung durch das Wunder der Blutverflüssigung. Aufbewahrt in einer zweiteiligen Phiole wird die harzige Substanz (das angebliche Blut des Heiligen) jedes Jahr zu seinem Gedenktag flüssig und fließt vom oberen Behälter der Phiole in den unteren. Dass dieser Vorgang pünktlich erfolgt, hat für die Neapolitaner große Bedeutung; er wird von der katholischen Kirche gewissermaßen als Orakel eingesetzt, das Wahlen beeinflusst und angeblich Katastrophen verhindert, denn die ausbleibende Blutverflüssigung signalisiert, dass der Heilige mit dem Verhalten der Gläubigen unzufrieden ist und diese nur mit unbedingter Treue zur Kirche sein Wohlwollen wiederherstellen können. Mit New York hat das alles überhaupt nichts zu tun, dennoch wird hier alljährlich ab dem 19. September die zehntägige Festa San Gennaro mit einer große Prozession veranstaltet, bei der die Statue des Heiligen von St. Patrick‘s Old Cathedral (dem ehemaligen Sitz des katholischen Bischofs von NY) durch die Straßen von Little Italy getragen wird, in dem kaum noch Italiener leben. Diese haben nämlich in der zweiten und dritten Generation, nachdem sie sich geschäftlich und auch sonst integriert hatten, das Elendsviertel verlassen und sich komfortablere Behausungen in den five boroughs of New York gesucht, insbesondere in Staten Island und Queens. Für sie rückten Chinesen nach, die dadurch das benachbarte Chinatown vergrößern. Allerdings haben sie eine Vereinbarung mit den „Italienern“ getroffen, dass auf „deren“ Gebiet keine chinesischen Reklamen aufgehängt werden dürfen).

Little Italy ist eigentlich nur noch eine Reminiszenz an frühere, keinesfalls bessere Zeiten, als an diesem Ort zehntausende bitterarme Emigranten, vorwiegend aus dem rückständigsten europäischen Staat, dem Königreich Beider Sizilien, in armseligen Mietskasernen entlang der Mulberry Street hausten. Nach dem Scheitern der Parthenopäischen Republik in Neapel (dem Versuch, eine Revolution nach französischem Vorbild in Süditalien durchzuziehen) und den niedergeschlagenen Aufständen von 1830 und 1848, auf die jedesmal eine äußerst restaurative Politik und stagnierende Wirtschaft folgten, sahen viele – und besonders die Armen – als einzige Lösung die Auswanderung nach Amerika. Endlich angekommen, ließen sie sich vorzugsweise da nieder, wo schon andere Landsleute lebten und schufen dadurch dieses Stück Italien in der Neuen Welt, in dem sie nach ihren Gebräuchen lebten und weiterhin ihre Muttersprache sprachen.

Davon ist am originalen Ort nur noch eine Art Open-Air Themenpark für die italienische Immigration des 19. Jh. übrig und die italienischen Sprachfetzen, die ich hier mitbekomme, stammen ausnahmslos von italienischen Touristen. Eine Eigenheit von Little Italy wird allerdings noch lange (nicht zuletzt durch die vielen Spielfilme und Fernsehserien) im kollektiven Gedächtnis verbleiben: Die organisierte Kriminalität. Im ehemaligen Elendsviertel allgegenwärtig, orientierte sie sich am Vorbild der sizilianischen Mafia, mit der sie eng verflochten war und aus der sie ständig neue Mitglieder rekrutierte. In allen Lexikon-Einträgen über Little Italy ist die Mafia das wesentliche Thema. Anstatt die – ohnehin raren – Sehenswürdigkeiten dieses Viertels zu beschreiben, erzähle ich stattdessen lieber die Biographien von drei historischen Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Jahrhunderten, die das Leben der Italiener in New York wesentlich anschaulicher machen, als eine Beschreibung heutiger Baulichkeiten. In SOHO/Nolita, unweit von Little Italy, war ich auf den unscheinbaren Petrosino Square gestoßen, der nach einem italienischstämmigen New Yorker Polizisten benannt ist. Der Text der hier angebrachten Gedenktafel überzeugte mich sofort, dass Joseph Petrosinos Biografie alles Prototypische für das Leben italienischer Immigranten in New York enthält.

Wie der Mord an Petrosino nach 100 Jahren aufgeklärt wurde

Giuseppe Petrosino (1860 – 1909) wurde im Alter von 10 Jahren von seinen Eltern aus seinem Geburtsort Padula in Süditalien zu seinem Großvater nach New York geschickt, der jedoch bald darauf bei einem Straßenbahnunfall verstarb, so dass Giuseppe und sein mit ihm gereister Cousin eigentlich hätten ins Waisenhaus kommen müssen. Doch der mit der Einweisung befasste Richter nahm die beiden Jungen statt dessen in der eigenen Familie auf, während er nach den Angehörigen fahndete. Die Jungen bekamen durch das Leben bei ihm Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, die sie in Little Italy nie erhalten hätten. Mittlerweile waren die Nachforschungen des Richters aber erfolgreich und Petrosinos Familie gelang schließlich ebenfalls die Emigration. Zusammen mit ihrem Sohn zogen sie alle zusammen in die five cents houses in der Mulberry Street, die die Stadt für die Ärmsten der italienischen Zuwanderer bereithielt. Da hatte Giuseppe bereits längst den Entschluss gefasst, diesem Milieu durch Eintritt in den Polizeidienst zu entkommen.

In Abendkursen lernte er Englisch, wurde amerikanischer Staatsbürger, wobei er seinen Vornamen anglisierte und bewarb sich immer wieder vergeblich bei der Polizei, bis man ihn schließlich bei der Müllabfuhr einstellte, die damals zur town police gehörte. Da er verschiedene italienische Dialekte beherrschte, konnte er der Polizei häufig bei der Aufklärung von Straftaten helfen, die von Angehörigen der italian community begangen wurden. Deshalb wurde er 1883 dann doch noch beim New York Police Department (NYPD) eingestellt – als erster Italienisch sprechender Polizist und obwohl er mit 1,60 m Körpergröße eigentlich zu klein für den Polizeidienst war. Nach kurzer Ausbildungszeit im Streifendienst gewann er durch seine Leidenschaft für den Job, seinen sicheren Instinkt, seine Intelligenz und sein hohes Verantwortungsgefühl allgemeine Anerkennung. Wurde ein Verbrechen im italienischen Milieu begangen, riefen seine Vorgesetzten gerne nach dem „Itaker“ („Send for the Dago!“). Seine Erfolge machten Theodore Roosevelt, damals in der Leitung des NYPD tätig, auf ihn aufmerksam, was zu seiner Beförderung zum Detektiv führte.

New Yorks größtes Kriminalitätsproblem war in jener Zeit die „Schwarze Hand“, eine aus italien stammende mafiöse Vereinigung, die durch Morde (fast die Hälfte aller in New York begangenen gingen auf ihr Konto), Entführungen, Erpressungen und Schutzgeldforderungen berüchtigt war. Man fand Leichen in Little Italy, in Schornsteine gepresst, die in der Sommerhitze verwesten oder in Fässer verpackt, die man an irgendeiner Straßenecke abstellte, Kinder wurden entführt (an einem Tag allein 35) und immer gab es Erpressungsschreiben, die das Zeichen der „Schwarzen Hand“ trugen. Für Petrosino war diese Organisation eine Schande für alle anständigen Italiener in Amerika und zu ihrer Bekämpfung griff er zu ungewöhnlichen Mitteln, die ihn zu einem Pionier der Bekämpfung des organisierten Verbrechens machten. So bediente er sich gern der Verkleidung und tarnte sich als Klempner, Gangster, orthodoxer Jude, blinder Bettler oder katholischer Priester, um ins Milieu seiner Gegner einzudringen. Er gründete die Italian Branch als Spezialeinheit italienischstämmiger Polizisten, der es gelang, die Kriminalitätsrate in New York dramatisch zu senken. Neben Roosevelt, der dafür sorgte, dass er zum Sergeant befördert wurde, hatte er einflussreiche Unterstützer wie die Millionäre Carnegie und Rockefeller, die italienische Handelskammer und die New Yorker Börse, was zeigte, wie ernst die seriöse Geschäftswelt die organisierte Kriminalität nahm.

In seiner Freizeit hörte Petrosino gerne Opern und wie für alle Musikliebhaber seiner Zeit war Enrico Caruso sein Idol. Bei einem der Gastspiele an der Met erhielt Caruso ein Erpresserschreiben über 2000 Dollar und kam dieser Forderung sofort nach, was nach dem Bekanntwerden eine Flut weiterer Erpresserbriefe auslöste, darunter ein zweites der „Schwarzen Hand“, die ihre Forderung von 2000 auf 15.000 Dollar aufstockte. Darauf wandte sich Caruso an Petrosino, dem es gelang, die Erpresser bei einer fingierten Geldübergabe zu fassen, was ihm eine lebenslange Freundschaft mit dem Sänger einbrachte. Er galt jetzt als Berühmtheit in New York und pflegte sorgsam sein Image: Er gab sich äußerst schweigsam, lachte nie, trug immer einen langen, dunklen Mantel und als Hut eine schwarze Melone. Seine Einheit wurde in Italian Legion umbenannt und auf 30 Mann aufgestockt, ein Team von Agenten mit license to kill und der Erlaubnis, außerhalb der Gesetze zu agieren. Da die Stadt sich außerstande sah, so etwas rechtlich und finanziell zu tragen, wurde die Organisation von privaten Bürgern finanziert. Petrosino wurde zum lieutenant befördert und Präsident Theodore Roosevelt verlieh ihm für 500 Festnahmen und 2500 Ausweisungen von Kriminellen eine Ehrenmedaille.

Er hatte sich jetzt die Bosse der organisierten Kriminalität ins Visier genommen, die er mithilfe des neuen amerikanischen Einwanderungsgesetzes, das es ermöglichte, Kriminelle auch drei Jahre nach der Einbürgerung noch in ihre Herkunftsländer abzuschieben, aus den USA verbannen wollte. Sein erster Erfolg dabei war die Verhaftung des sizilianischen Paten Don Vito Cascio Ferro wegen Geldfälschung und Erpressung und dessen sofortige Ausweisung nach Sizilien. Noch auf dem Schiff schwor Cascio Ferro ewige Rache. Petrosino hatte mittlerweile Kontakte zur Polizei von Palermo geknüpft, um durch Geheimagenten Verbindungen von „Schwarzer Hand“ und Mafia in beiden Städten zu durchleuchten. Ausgestattet mit einer Liste von kriminellen Italienern in New York, deren Vorleben in Palermo er nachgehen wollte und einer Einladung der italienischen Regierung zur Überreichung eines Ehrengeschenks ob seiner Verdienste bei der Bekämpfung der italienischen Kriminalität im Ausland, bestieg er in geheimer Mission ein Schiff nach Italien. Ausgerechnet sein eigener Polizeichef plauderte in einem Zeitungsinterview diese Mission aus und als Petrosino in Palermo ankam, wusste bereits jeder davon, den das interessierte.

Über Genua, Mailand, Bologna und Rom, wo er seine Auszeichnung entgegennahm, reiste Petrosino in seine Heimatstadt Padula und besuchte seinen Bruder. Er verabredete ein weiteres Treffen mit ihm nach seiner Rückkehr aus Sizilien und begab sich dann nach Palermo. Hier traf er sich am 9.2.1909 mit dem amerikanischen Konsul, vermied aber von Anfang an den Kontakt zur einheimischen Polizei, weil er über diese haarsträubende Dinge gehört habe, wie er dem Konsul mitteilte. Am 12.3. erzählte er diesem von seiner Absicht, seine Nachforschungen über die Mafia hinaus auf die Kandidaten der kommenden Wahlen und auf Politiker und Geschäftsleute auszuweiten. Bei seiner Recherche in Palermo hatte er gelöschte Strafregister, leere Aktendeckel und komplett verschwundene Akten festgestellt. Um 19:30 dieses Tages, nachdem er einen heftigen Sturm abgewartet hatte, begab er sich auf die Piazza Marina; ob zum Essen oder zum Treffen mit einem vermeintlichen Informanten, blieb ungeklärt. Vor dem Eingang des Parks Villa Garibaldi trafen ihn zwei tödliche Schüsse in den Rücken, er selbst hatte wohl nichts befürchtet, denn seine Pistole hatte er im Hotel gelassen. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck ohnmächtiger Wut.

Trotz zahlreicher Augenzeugen konnte niemand sachdienliche Aussagen machen, aber Petrosinos Einheit in New York erhielt einen Tag später ein Bekennerschreiben der „Schwarzen Hand“, von dem aber nicht geklärt werden konnte, ob es echt war. In Palermo wurde Don Vito Cascio Ferro festgenommen, jedoch nach Präsentation eines Alibis sofort wieder frei gelassen. Noch 20 Jahre lang konnte er seine kriminellen Machenschaften in Palermo fortsetzen, in denen er weiterhin die Verbindung zur New Yorker Mafia pflegte und wohl auch die eigene Rückkehr vorbereitete. Jedoch wurde er nach seiner 70. Verhaftung – unter den Faschisten im Zuge der Aktion des „Eisernen Präfekten“ Cesare Mori gegen die „Ehrenwerte Gesellschaft“ – zu 50 Jahren Zuchthaus verurteilt, allerdings nicht für den Mord an Petrosino. Für diesen veranstaltete man in Palermo eine Trauerfeier und sandte den Sarg anschließend nach New York – ohne die Leiche einzubalsamieren, eine letzte Rache der Mafia. New York bereitete ihm eine würdige Trauerfeier in St. Patrick‘s Old Cathedral mit über 200 000 Menschen auf den Straßen. Auf dem Calvary Cemetary in Queens, wo er ein Ehrengrab erhielt, liegen auch Mitglieder der Gangsterfamilien Morello, Lupo und Terranova, die er einst bekämpfte.

Über 100 Jahre lang wurden ständig neue Vermutungen über den oder die Mörder Petrosinos geäußert, die aber immer unbeweisbarer wurden, je mehr der potentiellen Täter wegstarben. Bereits 1945, nach anderen Quellen 1943 war Don Vito im Zuchthaus gestorben, ob an einem Herzinfarkt, durch einen alliierten Bombenangriff oder durch Verdursten, ist umstritten. Aber 2014 tauchte dann doch noch eine „heiße“ Spur auf, als die italienische Polizei bei einer Aktion gegen die Mafia das Telefon eines gewissen Palazzotto abhörte. Dieser hatte in einem konspirativen Gespräch damit geprahlt, dass Petrosino auf Befehl von Don Vito durch einen Onkel seines Vaters getötet worden war. „Der Onkel meines Vaters, Paolo Palazzotto, war der erste, der in Palermo einen Polizisten getötet hat, den amerikanischen Polizisten Joe Petrosino … wir sind schließlich Gangster seit 100 Jahren!“

Die erwähnte Aktion der italienischen Faschisten gegen die sizilianische Mafia dauerte nur bis 1943. Nach dem Waffenstillstand mit den Alliierten und dem Übertritt Italiens auf deren Seite erlahmten die Anstrengungen des Staates gegen die Krake und als die Amerikaner einen geeigneten Landeplatz für die Invasion Südeuropas suchten, war es die New Yorker Mafia, die Kontakte zu sizilianischen Mafiosi knüpfte. Sie schlugen den Alliierten einen (nicht sonderlich originellen) Ort für diese Aktion vor: Die Küste bei Marsala. Dort war schon 1860 Giuseppe Garibaldi mit seiner spedizione dei mille (dem Zug der Tausend) gelandet und hatte Italien vereinigt. Auch die zweite Invasion war erfolgreich und trug dazu bei, dass sich die Mafia schnell erholen konnte. Ihre Mitglieder wurden von Leidtragenden des Faschismus nun zu antifaschistischen Widerstandskämpfern hochstilisiert und hatten schon bald ihre alte Macht wieder inne. Und auch die connection mit New York und anderen amerikanischen Städten funktionierte wieder wie ehedem.

Eine Generation vor Joe Petrosino war 1850 einer der berühmtesten Italiener nach Little Italy (und nach Staten Island) gekommen. Obwohl sein Aufenthalt nur bis 1854 währte, gibt er ebenfalls interessante Aufschlüsse über das Leben italienischer Emigranten in New York.

Was Garibaldi in New York trieb

Als Giuseppe Garibaldi im Juli 1850 in New York eintraf, waren viele seiner Anhänger, die ihn beim Anlanden begeistert begrüßten, bitter enttäuscht, weil der „Held zweier Welten“, geplagt von Arthritis, wortlos an ihnen vorüberzog. Doch wusste man genaueres 0ber die Motive seiner erneuten Emigration, konnte man den Revolutionär, der sich sowohl in Brasilien als auch in Italien stets für die Freiheit des Volkes eingesetzt hatte, gut verstehen: Zu tief saßen die Schicksalsschläge der letzten zwei Jahre, das Scheitern der italienischen Republik und der Tod seiner Frau Anita, die ihm so viel bedeutete. Nachdem er sie während seines ersten Exils in Südamerika kennen und lieben gelernt hatte, war sie seine Gefährtin bei all seinen revolutionären Unternehmungen und zog sogar mit ihm zusammen in die Schlacht! Auch das Scheitern der römischen Republik (befördert durch die Intervention der Franzosen zugunsten des Kirchenstaats) hatten sie gemeinsam durchlitten. Auf der Flucht vor den Truppen Louis Napoleons (des späteren Napoleon III.) hatte Anita 1849 versucht, Venedig zu erreichen, in dem die Revolution noch im Gange war. Aber kurz vor Erreichen des Ziels – nahe Ravenna – war sie einem Malaria-Anfall erlegen, was Garibaldi in tiefe Verzweiflung stürzte. Er verließ Italien ein weiteres Mal und bemühte sich zunächst um die Sicherung seines Lebensunterhalts. Eine Beteiligung an einem Handelsschiff (dessen Kommando er ebenfalls übernehmen sollte) war ihm adäquat erschienen, doch zerschlugen sich diese Pläne bald.

So setzte er als einfacher Passagier auf der „Waterloo“ von Liverpool in die Neue Welt über. Einen gewissen Trost wird ihm das Faktum verschafft haben, dass das englische Schiff nach dem Ort der Niederlage Napoleons I., des Onkels seines Widersachers, benannt war. In New York kam er zunächst bei einem Signor Pastacaldi unter, der am Irving Place in Little Italy lebte. Garibaldi bewohnte zwei Zimmer in dessen Wohnung, ein Schlafzimmer mit Waschtisch und einem Eisenbett, auf dem drei Matratzen lagen und ein Wohnzimmer mit einem Hirschgeweih an der Wand. Die skurrilen Züge seines Charakters kommen hier zum Vorschein: Dieses Geweih schleppte er stets mit sich, damit es ihn vor dem „bösen Blick“ seiner Feinde beschütze. Auch besaß er einen Papagei, dem er mit viel Geduld beigebracht hatte: „Viva Italia, fuori le stranieri!“ (raus mit den Fremden[Besetzern]) zu rufen. Auf seiner Stange sitzend skandierte der gelehrige Vogel den Slogan jedes Mal, wenn jemand das Zimmer betrat. Seine Zeit verbrachte der Revolutionär mit Schreiben, für die Freizeit hatte er sich ein kleines Angelboot gekauft, das er in den italienischen Nationalfarben bemalte und nach Ugo Bassi benannte, einem revolutionären Priester aus seiner Zeit in Italien.

Sein Wohnungswechsel von Little Italy nach Staten Island erklärt sich wohl aus seiner prekären Lage, denn er hatte am Ort seines Asyls keinerlei Einkünfte. Gut, dass er auf Antonio Meucci traf, einen Tüftler und Emigranten aus Florenz, den sein Engagement für den italienischen risorgimento ebenfalls in die Neue Welt vertrieben hatte. Dieser lud ihn in sein Haus auf Staten Island ein, wo er mit seiner 14-köpfigen Familie lebte und wo sie zunächst gemeinsam eine Salamifabrik betrieben. Der Ex-General musste das Fleisch ausbeinen und für die Wurstmasse kleinschneiden. Einmal schnitt er sich dabei in den Finger und obwohl dieser stark blutete, setzte er ungerührt seine Arbeit fort, so dass sein Blut den Salamiteig färbte, was er damit kommentierte, dass er dabei sei, eine „revolutionäre Salami“ herzustellen. Wie wenig er diesen Job schätzte, wird aus einer Notiz deutlich, die er verfasste, nachdem Meucci die Wurstherstellung aufgegeben und eine Stearinkerzenfabrik eröffnet hatte: „Verdammt sei die Salami, gesegnet die Kerzen, Gott rette Italien, wenn er kann!“ Die sich wandelnden Verhältnisse in Europa riefen Garibaldi 1854 nach Italien zurück, wo ihm sein Lebensziel, die Einigung seines Vaterlandes, dann doch noch gelang. Er hätte sich auch in den USA unsterblich machen können, denn Abraham Lincoln forderte ihn später auf, an seiner Seite im amerikanischen Bürgerkrieg mitzukämpfen. Der Präsident ging aber auf Garibaldis Forderung, die Abschaffung der Sklaverei zum Kriegsziel zu machen, nicht ein und somit unterblieb Garibaldis dritte Reise nach Amerika.

Zwei Generationen vor Garibaldi war 1805 bereits ein berühmter italienischer Künstler nach New York gekommen, doch erregte das hier, abseits der europäischen Kunstzentren, wenig Aufsehen. Aber die 33 Jahre, die er bis zu seinem Lebensende hier noch verbrachte, spiegeln anschaulich die Bedingungen, unter denen emigrierte Künstler in New York leben mussten.

Warum Lorenzo Da Ponte Gemüse verkaufte

Lorenzo Da Ponte wurde 1749 als Emanuele Conegliano in Céneda im Veneto geboren (seit der italienischen Einigung heißt der Ort Vittorio Veneto). Er entstammte einer alteingesessenen jüdischen Familie und da Juden damals keine Nachnamen trugen, fungierte der Name seiner Herkunftsstadt Conegliano als solcher. Sein verwitweter Vater Geremia, ein Gerber und Lederhändler, wollte sich nach langer Witwerschaft mit einer Christin wiederverheiraten und konvertierte deshalb mit seinen drei Söhnen zum Katholizismus. Dem Brauch der damaligen Zeit folgend, gab der taufende Bischof Lorenzo da Ponte der Familie seinen Nachnamen und dem ältesten Sohn des Konvertiten sogar seinen vollen Namen, wohl auch, um sich selbst den Gewinn neuer Seelen für die katholische Kirche zuzuschreiben. Allerdings mussten die neugetauften Da Pontes das Adelsprädikat „da“ groß schreiben, da die Kleinschreibung dem „echten“ Adel vorbehalten blieb. Durch die Taufe hatte der bis dahin ungebildete junge Lorenzo die Möglichkeit, die Lateinschule seiner Stadt zu besuchen und als nach dem Tod des Bischofs die finanzielle Unterstützung ausblieb, entschloss er sich, Priester zu werden und machte dabei schnell Karriere: 1769 Eintritt ins Priesterseminar in Portogruaro, 1770 Lehrer für Rhetorik dortselbst, 1772 stellvertretender Direktor und 1773 die Weihe zum Priester. Das zölibatäre Leben und die strengen Regeln des Priestertums entsprachen indes nicht seiner Lebenseinstellung, deshalb entzog er sich der Kontrolle und dem engstirnigen Klima von Portogruaro durch einen Umzug nach Venedig.

Hier verkehrte er im Milieu der Glücksspieler und hatte eine dramatische Liebesaffäre, doch ehe ihm das als Priester gefährlich werden konnte, erhielt er eine Anstellung als Lehrer für klassische Literatur im benachbarten Treviso. Als Lehrmaterial verfasste er dort einen (sicherlich von Jean-Jacques Rousseau beeinflussten) Zyklus lateinischer und italienischer Gedichte über den Gegensatz zwischen Natur und Gesellschaftsordnung, der die Inquisition auf ihn aufmerksam machte. Aufgrund ihres Berichts entzog ihm die Serenissima 1776 die Lehrbefugnis für die gesamte venezianische Republik. Daraufhin kehrte Da Ponte nach Venedig zurück und setzte sein Lotterleben fort. Zeitweilig in einem Bordell lebend, übergab er, wie schon sein Vorbild Rousseau, zwei Kinder, die er mit seiner Geliebten gezeugt hatte, dem Waisenhaus. Das Verhältnis eines Geistlichen mit einer verheiratete Patrizierin war dann selbst in der freizügigen Hauptstadt zu starker Tobak, zumal er sich auch im Kreise verdächtiger Literaten und Freigeister wie Casanova bewegte. Man klagte ihn 1779 wegen Ehebruchs und Konkubinats an und noch bevor ihn eine Strafe auf Kerkerhaft oder Verbannung aus der Republik Venedig ereilen konnte, setzte er sich ins benachbarte, aber habsburgische Görz (Gorizia) ab.

Der italienische Hofkomponist Kaiser Josephs II., Antonio Salieri, damals viel berühmter als Mozart, vermittelte dem Landsmann schließlich 1783 eine Stelle als Textdichter für das italienische Theater in Wien. Aufgrund der Gunst des Kaisers machte er in der Hauptstadt schnell Karriere als Autor, Dramaturg, Programmmacher, Besetzungschef und Regisseur, obwohl er kein einziges dieser Metiers je studiert oder vorher betrieben hatte. Aber auch sein skandalträchtiges Privatleben setzte sich nahtlos fort: Bei einem Anschlag aufgrund einer Liebesintrige wurde ihm Säure verabreicht, wobei er alle Zähne verlor. Richtig berühmt wurde er, als er sich mit Mozart zusammentat und die Libretti für die drei „Da-Ponte-Opern“ Le nozze di Figaro (1786), Don Giovanni (1787) und Così fan tutte (1790) schrieb. Über 40 weitere Libretti für verschiedene Komponisten machten ihn schließlich zu einem der bedeutendsten Künstler dieses Genres. Doch seine Karriere in Wien endete 1791 nach dem Tod seines Gönners abrupt aufgrund höfischer Intrigen. Unter Josephs Nachfolger Leopold II. wurde er aus den kaiserlichen Diensten entlassen.

Da an eine Rückkehr in die Republik Venedig immer noch nicht zu denken war, begab er sich ins benachbarte Triest und setzte dort seine Tätigkeit als Librettist fort, jedoch mit nur mäßigem Erfolg. Aber er lernte die 20 Jahre jüngere Engländerin Nancy Grahl kennen, die für 40 Jahre die Frau an seiner Seite bleiben sollte und die ihn bewog, sein Glück doch lieber in London zu versuchen. Über Prag (wo er den ihm wesensverwandten Casanova besuchte) und Dresden reiste er in die britische Hauptstadt, unterrichtete dort Italienisch und schrieb weiterhin Libretti. Am King‘s Theatre am Haymarket, dem Haus für die italienische Oper, fand er eine Anstellung, gleichzeitig führte seine Frau das angeschlossene Gasthaus. Noch 28 Werke mit seinen Texten wurden aufgeführt, aber insgesamt ließ die Beliebtheit der opera buffa, für die sein Name stand, nach und das Theater ging 1804 pleite. Hinzu kamen andere finanzielle Schwierigkeiten: Da Ponte hatte sich bei seinen windigen Geldgeschäften für ungedeckte Wechsel eines Parlamentariers verbürgt und jetzt rückten ihm die Gläubiger auf den Hals. Nancy beschloss daraufhin, sich mit den gemeinsamen vier Kindern nach Amerika abzusetzen, ein Jahr später folgte er ihr nach und ließ sich zunächst in Sunbury/Pennsylvania und dann in New York nieder.

An eine Fortsetzung seiner künstlerischen Tätigkeit war im kulturlosen New York nicht zu denken. Aber wie immer in seinem bisherigen Leben zeigte er sich flexibel und versuchte sich mit verschiedenen geschäftlichen Unternehmungen, so als Tabak- und Branntweinhändler und als Besitzer eines Obst- und Gemüseladens in der Bowery. Über seine Tätigkeit als Privatlehrer für Italienisch gelang es ihm dann, allmählich wieder Anschluss an das intellektuelle Leben zu finden. 1825 wurde er zum (allerdings unbezahlten) ersten Professor für italienische Literatur am Columbia College in New York ernannt und produzierte – wie immer geschäftlich wenig erfolgreich – in seiner eigenen Verlagsbuchhandlung eine Reihe von Büchern, darunter seine Memoiren, durch die wir so gut über sein wechselvolles Leben informiert sind. Bis zu seinem Lebensende setzte sich Da Ponte vehement für die Verbreitung der italienischen Sprache, Literatur und Musik in Amerika ein und der große Erfolg des ersten US-Gastspiels einer europäischen Operntruppe mit seinem „Don Giovanni“ entfachte die Begeisterung für sein altes Metier aufs Neue. Er warb um Sponsoren für den Bau des italienischen Opernhauses in New York, das an Pracht alle Theater der Stadt weit übertreffen sollte, steckte selbst viel Geld hinein und erlebte die feierliche Eröffnung im Jahr 1833. Doch schon am Ende der ersten Spielzeit ging es pleite (und brannte dann auch noch ab) – charakteristisch für so vieles in Da Pontes Leben.

Er war jetzt eine New Yorker Berühmtheit und nachdem er am 17. August 1838 in seiner New Yorker Wohnung in der Spring Street 91 gestorben war, trug ihn eine gewaltige Trauergemeinde zu Grabe. Seine Begräbnisfeier wurde 1838 mit großem Pomp am Sitz des katholischen Bischofs von New York, St. Patrick‘s Cathedral (heute St. Patrick’s Old Cathedral) begangen. Dort sollte ihm auch ein würdiges Grabmal errichtet werden, was aber nie in die Tat umgesetzt wurde. Sein Grab ist heute unauffindbar, da es irgendwo unter den Häusern der 11th Street liegt, wo sich früher der katholische Friedhof befand.

Ein italienischer Tag in Lower Manhattan

Dieser kleine Spaziergang nach Greenwich Village kam durch unsere Liebe zu Italien zustande. Bei Barnes & Noble, einem 4-stöckigen Buchladen am Union Square (den Platz werden wir auch noch in anderem Zusammenhang besuchen) wollten wir für unsere Schwiegertochter Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman „Il Gattopardo“ (allerdings auf englisch) kaufen, da sie am Vorabend so interessiert auf die Beschreibung meines italienischen Lieblingsbuchs reagierte. Die renommierte Buchhandlung, bekannt durch ihre Riesenauswahl, liegt in einem schönen alten Backsteingebäude, dessen hohe Hallen durch gusseiserne Säulen unterteilt sind. Mir fällt auf, dass die Literatur-Abteilung in der 4. Etage verortet ist, während man Krimis, Kochbücher, Teen-Literatur und Schallplatten ohne Treppensteigen bequemer in den unteren Geschosse kauft. Aber wer sich (selbstverständlich per Rolltreppe) in den Parnass der Literatur hocharbeitet, findet das gemütliche, zum Haus gehörige Lese-Café ebenfalls hier oben. Es ist wenig frequentiert und während ich mich auf die Suche nach meinem italienischen Dichter-Heros mache, vertieft sich Renate dort in ein Frauenpower-Magazin. Der Autor ist nicht einfach zu finden, weil er im Regal nicht, wie an der Information angekündigt, unter L wie Lampedusa einsortiert ist. Eigentlich war auch das das schon falsch, weil sein Familienname, der Name einer berühmten sizilianischen Adelsdynastie (mit dem heilig gesprochenen Kardinal Giuseppe Maria Tomasi in der Ahnenreihe) eben Tomasi lautet und nicht Lampedusa, der Name seines Herrschaftsgebiets. Ich finde ihn schließlich unter d für di, dem unwichtigsten Bestandteil seines so langen Namens! Auf dem Buchcover ist der Autorenname zu Giuseppe di Lampedusa verballhornt, der englische Titel ist „The Leopard“ und im immerhin sehr ausführlichen preface des Buches findet sich keinerlei Hinweis darauf, dass ein gattopardo kein leopard ist, sondern eine Pardelkatze, alles kleine Indizien für amerikanische Ignoranz. Da der Laden free wifi hat, daddeln wir noch ein wenig herum, bevor wir uns auf den Weg zum Washington Square machen. Die Gegend ist von Gebäuden der New York University geprägt und gehört zum Stadtviertel Greenwich Village.

Garibaldi im Park

Im nahegelegenen Washington Square Park, einer Schöpfung des in New York mehrfach vertretenen österreichischen Gartenkünstlers Ignatz Anton Pilat, steht ein martialischer Garibaldi in Bronze, wild entschlossen den Säbel zückend. Wie wir bereits wissen, lebte der Freiheitsheld nach der gescheiterten Revolution in Italien für einige Jahre in New York. Da die mitgliederstarke Italian Community New Yorks so fern der Heimat unbedingt eine Identifikationsfigur brauchte, sammelte sie Geld für die Aufstellung eines Garibaldi-Denkmals in diesem Park. Der Bildhauer Turrini konzipierte es als ebenerdig stehende dreifigurige Gruppe, wobei der Revolutionär auf einem unregelmäßigen Felsuntergrund platziert war. Wegen ständig steigender Kosten entschloss sich die genervte Stadt, es während einer Europareise des Künstlers in reduzierter Form einfach aufzustellen – als Einzelfigur auf einem hohen Marmorsockel! Da Garibaldis Fußstellung zu der neuen Aufstellung nicht mehr passte, sägte man die Füße einfach ab und passte das ganze – jetzt kompatibel mit der geraden Sockelplatte – ziemlich brutal an. Der zurückgekehrte Künstler war entsetzt über die „Amputation“ seines Kunstwerks und die jetzt so unnatürliche Haltung des Volkshelden, dass er eine Neuanfertigung des Denkmals auf eigene Kosten anbot, doch die Stadt ging nicht darauf ein. Und mittlerweile, 140 Jahre später, hat sich die Aufregung über diese „Denkmalsschändung“ gelegt.

Links vom Denkmal grüßt ein sehr italienisch aussehender campanile (gleich denen der römischen mittelalterlichen Kirchen) durch eine Lücke der Parkbäume. Er stammt von 1895 und gehört zur Judson Memorial Church, ein an ihr angebrachtes Schild behauptet jedoch, dieser fake-style sei byzantinisch. Der Namensgeber der Kirche, Adoniram Judson wirkte als baptistischer Missionar in Burma und hatte weder mit Italien als auch mit Byzanz irgend etwas am Hut! In der Mitte des Washington Square steht ein Triumphbogen, ähnlich dem in Ancona, dessen Öffnung – bei entsprechender Platzierung des Fotografen – gut als Rahmen für das Empire State Building taugt, das einige Meilen entfernt in midtown steht. In der entgegengesetzten Richtung rahmt eine enge Greenwich-Village-Straße das ebenso weit entfernte One World Center ein. Wenn auch „echtes“ Italien anders aussieht und sowieso mit Amerika nicht vergleichbar ist, so ist dieser italienisch inspirierte Spaziergang (den man auch gern mit einem Besuch von Little Italy oder dem Petrosino Square verbinden kann) für uns eine schöne kleine Neuentdeckung in New York.

7 Chinatown

Chinesen in New York

Chinatown in Manhattan liegt direkt südlich von Little Italy und beginnt, da die Mehrzahl der Italiener in andere Stadtteile abgewandert sind, auf es überzugreifen. Es ist deutlich größer als Little Italy und nach meinem Gefühl wesentlich authentischer. Zwar gibt es auch hier, wie in Little Italy, Läden und Restaurants, die sich ausschließlich an Touristen wenden, aber daneben auch viele, die von den Bewohnern des Viertels genutzt werden. Da hier 90 000 chinesische Bewohner leben, ist neben den vielen Plakaten und chinesischen Schriftzeichen auch genügend asiatische Bevölkerung auf den Straßen präsent um diese Authentizität zu erzeugen. Ich möchte gern all das, was hier im Karree zwischen Bowery, Mott Street, Canal Street und Chatham Square auf mich einströmt, genauer verstehen und einordnen, deshalb mache ich mir erst einmal die Hintergründe klar, die zur Entstehung dieses kleinen Stücks China in der Fremde führten.

Chinesen gibt es in New York erst ab der Mitte des 19. Jh. Davor hatten Bewohner des Reichs der Mitte wenig Veranlassung, sich ins weit entfernte Amerika zu begeben, denn ihr Land war von der westlichen Hemisphäre abgeschottet und bot seinen Bewohnern bis zu den Opiumkriegen (1840 – 1860) ein auskömmliches Leben. Diese von Großbritannien und Frankreich angezettelten Kriege erzwangen die Aufgabe des chinesischen Wirtschaftsprotektionismus und ruinierten zugleich seine Wirtschaft. Als die Kunde vom Goldrausch in Kalifornien China erreichte, machten sich viele Chinesen auf den Weg dorthin, meist über die britische Kolonie Hongkong, denn die Ausreise aus dem Kaiserreich der Qing-Dynastie war bei Todesstrafe verboten. Es brachen nur Männer auf, die auch die definitive Rückkehr mit eingeplant hatten, wenn genügend Geld verdient war; ihre Frauen mussten sich derweil um die Kinder und wenn nötig, um die Schwiegereltern kümmern. Von 1848 bis 1882 kamen ca. 300 000 Chinesen in die USA, bis ein amerikanisches Bundesgesetz die Zuwanderung beendete. Die Immigranten erreichten die Westküste meist mit Dampfschiffen einer amerikanischen Reederei, hatten sich das Geld für die Passage geliehen und mussten es als erstes abarbeiten, ehe sie in der Lage waren, Geldbeträge in die Heimat zu schicken. Um das zu erreichen, führten sie ein äußerst bescheidenes Leben, alle in beengten Wohnverhältnissen dicht aufeinander lebend. Aufgrund der fest eingeplanten Rückkehr nach Hause kam ein Wunsch auf Integration im neuen Lande gar nicht erst auf, man lernte kein Englisch und gestaltete sich das Wohnumfeld so chinesisch wie möglich. Das war die Geburtsstunde der amerikanischen Chinatowns, deren erste in San Francisco entstand.

Die Neuankömmlinge wirkten auf die Alteingesessenen wegen ihrer Rasse, Sprache, Schrift, Religion und Gewohnheiten äußerst fremd, so schnitten sie sich zum Beispiel den traditionellen Chinesenzopf nicht ab. Das war im reaktionären Qing-Regime bei Todesstrafe verboten – und sie wollten ja unbedingt zurückkehren. Das feindliche Umfeld bestärkte sie beim Zusammenschluss zu geheimbündlerischen Triaden (abgeleitet vom Himmel, Erde und Menschheit symbolisierenden Dreieck als Erkennungszeichen) und Tongs, die später das Markenzeichen der organisierten chinesischen Kriminalität werden sollten. Parallel zum Abflauen des Goldrausches projektierte die US-Regierung die erste transkontinentale Eisenbahnlinie, für deren Bau ein ungeheurer Bedarf an Arbeitskräften entstand. Nachdem sich erwiesen hatte, dass die zumeist schmächtig aussehenden chinesischen Arbeiter für die schwere körperliche Arbeit dennoch gut geeignet waren, ergoss sich ein starker Strom asiatischer Immigranten in Richtung Osten. So gelangten sie schließlich auch nach New York, wo sie sich im ärmsten Stadtviertel, nahe der Lower East Side, das zuvor schon die deutschen, jüdischen, irischen und italienischen Immigranten aufgenommen hatte, niederließen, und das sich allmählich zur heutigen Chinatown entwickelte und beständig wuchs.

Hier fanden viele ihr Auskommen in der Zigarren-, Schuh- und Textilherstellung, als Hausangestellte oder durch den Betrieb von Lebensmittelläden für den eigenen Bedarf, Restaurants, Wäschereien und Opiumhöhlen. Auch gehobene chinesische Betriebe wie Antiquitätenhandlungen, Juwelier- und Importwarengeschäfte entstanden. Während der Wirtschaftskrise in den 1870er Jahren hatten die amerikanischen Fabrikeigentümer zur Drückung der Löhne gern Migranten eingestellt und die Chinesen hatten die schlechte Bezahlung akzeptiert. Die Lebenshaltungskosten in China waren nämlich wesentlich niedriger und somit war auch das weniger gewordene Geld noch nützlich. Die amerikanischen Gewerkschaften unterstellten den chinesischen Industriearbeitern daraufhin Lohndumping und Streikbrechertum. Überall entstand ein starker, antichinesischer Rassismus, bei dem das Opiumrauchen als Begründung für die Gefährlichkeit der Ostasiaten herhalten musste. An mehreren Orten gab es rassistische antichinesische Ausschreitungen mit vielen Toten. Schließlich wurde 1882 der Chinese Exclusion Act erlassen, ein Gesetz, das nicht nur die chinesische Einwanderung unterband, sondern auch die Zahl der schon in den USA Ansässigen vermindern sollte.

Das Gesetz schränkte die Chinesen überall ein, es verdrängte sie aus vielen Berufen und machte New Yorks Chinatown zum bachelor town, einer reinen Junggesellen-Siedlung. Keiner der Bleibewilligen hatte ab jetzt die Möglichkeit, seine Familie nachzuholen, aber dennoch blieben die meisten. Kein Wunder, dass sich die organisierte chinesische Kriminalität gerade in dieser Epoche entwickelte. Dennoch fiel der Beginn der Assimilierung ebenfalls in diese Zeit. Die chinesische Revolution durch Dr. Sun Yat-sen und der Sturz des Kaisertums führte zwar dazu, dass sich die Immigranten die Zöpfe abschnitten, aber nicht, dass sie ins sich modernisierende China zurück strömten. Unter Theodore Roosevelt wurden die Bedingungen des Chinese Exclusion Act ein wenig gelockert, denn man ließ von den Reparationsgeldern, die die USA von China wegen des Boxeraufstandes erhalten hatten, tausende von Chinesen in Amerika studieren. Auch die Einstellung der Amerikaner zu diesen verbesserte sich, 1937 erschien erstmalig ein Hollywoodfilm, in dem die chinesischen Protagonisten positiv dargestellt wurden. Da China im Zweiten Weltkrieg Bündnispartner der USA war, gab es Bestrebungen, den Chinese Exclusion Act aufzuheben. Mit dem Magnuson Act wurden 1943 die Chinesen den anderen Immigranten gleichgestellt, erstmals seit 1882 war wieder ein Zuzug erlaubt, wenngleich in geringer Anzahl. Aber über Soldatenfrauen und nachziehende Familienmitglieder stabilisierte sich das Geschlechterverhältnis in der Chinese Community allmählich und gleichzeitig erfolgte ihre Angleichung an die gesellschaftlichen Normen des Westens.

Die Gründung der Volksrepublik China brachte nach dem Krieg wieder größere Zuwächse bei der Immigration, fast alle Studenten blieben in den USA und verbesserten den Anteil von Intellektuellen in der community erheblich. Trotz Rückschlägen in der McCarthy-Era, als die Chinesen als yellow peril (Gelbe Gefahr) galten, ist ihre Anzahl in New York ständig gestiegen und die Übernahme der britischen Kronkolonie Hongkong durch die Volksrepublik China und das Tian’anmen-Massaker sorgte für weiteren Zustrom. Die Bevölkerungsstruktur in Chinatown hat sich, analog zu anderen ethnical communities dahingehend verändert, dass sich die arrivierten Chinesen in andere Stadtteile abgesetzt haben, während die Armen weiterhin in Manhattan verbleiben.

Rundgang durch die Bowery und Chinatown

Ich beginne meinen Erkundungsgang bereits am Astor Square, der zwar etwas entfernt von Chinatown liegt, von dem aus man aber über die Bowery gehen muss, eine der berühmt-berüchtigten Straßen Manhattans, deren Entstehung noch auf die Niederländer zurückgeht und die mit der Geschichte der Immigranten in New York eng verwoben ist. Anfang des 19. Jh. war sie ein Elendsviertel mit schlichten, billigen Häusern, in denen sich die Neuankömmlinge bevorzugt niederließen. So sah sie nacheinander Iren, Deutsche, Juden, Italiener und zuletzt und bis heute Chinesen, die sich dort und in ihren Seitenstraßen niederließen. Heute lebt die Bowery nur noch von der Erinnerung an die Zeiten, als sie den Schmelztiegel New York am reinsten verkörperte. Aber noch viele der zwei-, drei- und vierstöckigen Ziegelbau-Blöcke aus dem Ende des 19. Jh. existieren, in denen die Immigranten eng zusammengepfercht lebten. Heute ist sie eine Straße im Umbruch, bis auf einige Chinesen sind alle Immigranten weggezogen, ein schickes Museum für zeitgenössische Kunst ist entstanden und überall sind Anzeichen kommender Gentrifizierung sichtbar. An der Ecke Bond Street ist beispielsweise aus dem Gebäude der Savings Bank von 1874, einem Bau mit einer kompletten Fassade aus Gusseisen, eine schicke Luxusimmobilie geworden. An ihrem Südende durchquert die Bowery Manhattan Bridge Plaza, eine reine Kulissenarchitektur zur Kaschierung der stadtzerstörenden Brückenauffahrt. Da die Brücken in solch enormer Höhe über den Fluss führen, dass auch die größten Schiffe unter ihnen hindurchfahren können, wurden lange Rampen in Manhattan und Brooklyn gebaut, die bis auf die Höhe der Brücke aufsteigen. Die Stadtviertel, in denen die Rampen liegen, sind dadurch zerschnitten und oftmals liegen mehrstöckige Häuser direkt unter der Auffahrt. Manhattan Bridge Plaza wurde als Monumentalanlage gebaut, um diese unerfreuliche städtebauliche Situation zu kaschieren. Trotz der riesigen Kolonnaden und dem Kuppelbau der Savingsbank von 1924 ist das gründlich misslungen. Der Platz ist nichts weiter als eine riesige Verkehrsfläche, auf der Fußgänger nichts verloren haben. Kurz vor dem Ende der Bowery hat sich an der Ecke Pell Street das Edward Mooney House aus der Zeit um 1780 erhalten. Dieses älteste townhouse der Stadt, im Georgian Style erbaut, gehörte einst einem wohlhabenden Fleischer, dessen Namen es heute noch trägt. Der Besitzer ging seinem Metier in dem unweit von hier befindlichen Viertel nach, in dem Viehställe, Gerbereien und der Collect Pond lagen und aus dem sich später die Five Points entwickelten, deren Geschichte ich im Kapitel Lost New York erzählen werde. Die Pell Street gehört bereits zu Chinatown, die Restaurants und Reklameschilder machen das unübersehbar deutlich.

Confucius Plaza

Auf der gegenüber liegenden Seite der Bowery liegt die Confucius Plaza, eine Grünanlage mit einem 40-stöckigen Wolkenkratzer aus hellroten Backsteinen in der Mitte. Er ist ein interessantes Bauprojekt: Genossenschaftliches Wohnen speziell für chinesische Immigranten. Ein entfernt an ein Tempeltor erinnerndes Portal führt ins Innere und vor dem Gebäude wurde eine Konfuzius-Statue aufgestellt mit Inschriften zuerst in Chinesisch und dann in Englisch, eine selbstbewusste Präsentation der New Yorker Chinesen! Die Confucius Plaza ist quasi das Eingangstor nach Chinatown, ich gehe aber lieber noch bis zum Ende der Bowery, die es hier in New Chinatown auf der östlichen und Old Chinatown auf der westlichen Seite teilt. Am Chatham Square, in der Grünanlage des Kimlau Square (benannt nach einem im Zweiten Weltkrieg gefallenen amerikanisch-chinesischen Bomberpiloten) befindet sich eine ähnliche Manifestation chinesischen Selbstwertgefühls. Hier stehen zwei bemerkenswerte Denkmäler, die Statue von Lin Zexu und das „Memorial of the Americans of Chinese Ancestry who lost their lives in defense of freedom and democracy“. Während der endlos lange Titel des wie ein Tempeltor gestalteten Monuments für sich selbst spricht, habe ich von Lin Zexu noch nie etwas gehört, jedoch wird mein Interesse durch die Inschrift auf dem Denkmal geweckt: Lin Zexu 1785 – 1850, Pioneer in the War Against Drugs.

Lin Zexu

Lin Zexu war ein hoher Beamter im kaiserlichen China zur Zeit der Quing-Dynastie. Ausgebildet als Gelehrter, wurde er Generalgouverneur in den Provinzen Hubei und Hunan und war dort u. a. mit der Bekämpfung des Drogenhandels befasst. Er hatte dazu eine klare Einstellung: Opiumraucher sollten erwürgt, die Händler und Produzenten der Droge enthauptet werden. 1838 wurde er vom Kaiser zur Bekämpfung des Opiumhandels nach Kanton geschickt, wo er in Aufklärungskampagnen zunächst auf die Gefährlichkeit der Droge hinwies und die Konsumenten zur Abgabe des Stoffes und der Utensilien aufforderte, bevor er gegen Händler und Verbraucher vorging. Das brachte ihn schnell in Konflikt mit den ausländischen Opiumhändlern, die unter dem Schutz des British Empire mit dem illegalen Handel große Gewinne machten. Sie verweigerten strikt die entschädigungslose Herausgabe aller Opiumbestände, worauf Lin Zexu jeglichen Handelsverkehr mit ihnen unterband, was die britische Handelsbilanz sofort deutlich verschlechterte. Aber die Maßnahmen gingen noch weiter: Einheimische durften nicht mehr für ausländische Firmen in deren chinesischen Faktoreien arbeiten und 350 Ausländer wurden sogar dortselbst interniert. Als Reaktion darauf sandten die Briten eine Kriegsflotte an die chinesische Küste und eröffneten damit den Ersten Opiumkrieg. Er endete 1842 mit einer vernichtenden Niederlage Chinas und dem Abschluss des demütigenden Vertrages von Nanking, der zum Vorteil der Engländer den Handel mit China völlig liberalisierte, den Absatz des Opiums weiterhin sicherstellte und China großen wirtschaftlichen Schaden zufügte. Lin Zexu wurde deshalb seiner Ämter enthoben und verbannt, angesichts seiner unbestreitbaren Leistungen jedoch 1845 rehabilitiert und nach Peking zurückgeholt. Dort hätte er noch einen weiteren verantwortungsvollen Auftrag erfüllen sollen; er starb aber 1850 auf dem Weg in die Hauptstadt.

Ich verstehe die Botschaft des Lin-Zexu-Denkmals eindeutig so: Das Opiumrauchen, das den Chinesen in den USA ein so schlechtes Image beschert hatte, wurde in Wirklichkeit von den westlichen Mächten befördert und in Gestalt von Lin Zexu hatte China aus eigener Kraft etwas gegen den Handel mit Rauschgift und gegen dessen Konsum unternommen. Und vor allem: Die Entfachung des Opiumkriegs stellt den imperialistischen Mächten, zu denen seit damals auch die USA gehören, kein schmeichelhaftes Zeugnis aus.

Mott Street

Gegenüber der Südwestecke des Chatham Square liegt der Beginn der Mott Street, die sich als Chinatowns inoffizielle Haupstraße von hier bis zur Canal Street durch das ganze Viertel zieht. Gleich am Anfang macht die von Süden nach Norden verlaufende Straße eine leichte östliche Biegung, die daran erinnert, dass hier in der Zeit von New Yorks Anfängen der Collect Pond gelegen war, dem die Straße, genauso wie die parallele Mulberry Street, ausweichen musste. Den an seiner statt angelegten Columbus Park werden wir am Ende des Rundgangs besuchen. Mott Street ist geradezu eine Chinatown-Bilderbuch-Stadt: Riesige chinesische Schriftzeichen auf den Reklamen, die die gesamten Hausfassaden bis zum Dach bedecken, Geschäfte, in denen nur ostasiatische Waren angeboten werden, Chinesen allerorten im Straßenbild und natürlich Restaurant an Restaurant. Das ganze Angebot richtet sich nicht nur an Touristen, sondern auch an die chinesische Klientel des Viertels. Der südliche Teil der Mott Street gehörte früher zu den berüchtigten Five Points und so ist es kein Wunder, dass sich auch die organisierte chinesische Kriminalität hier konzentrierte. Vergleichbar mit den italienischen Gangs nur wenige 100 m weiter nördlich, betätigten sich die Tongs als Türsteher der Spielhöllen, Schutzgelderpresser und Heroinhändler. Heutzutage hat die Stadt die organisierte Kriminalität im Griff und es ist nicht länger gefährlich, hier spazieren zu gehen. Unter der Hausnummer 32 entdecke ich die katholische Transfiguration Church mit angeschlossener Schule, die sich heutzutage an christianisierte chinesische Bewohner wendet, während sie früher für die irischen Slumbewohner der nahe gelegenen Five Points zuständig war. Gegenüber lag der 1891 von Lok Lee eröffnete Mott Street General Store, der sich über 100 Jahre an dieser Stelle mit seiner Originaleinrichtung incl. Ladenschild gehalten hat. Erst der Niedergang der Gegend nach 9/11, als viele Zufahrtstraßen jahrelang abgesperrt blieben, machte dem General Store den Garaus, heute befindet sich der Good Fortune Gifts, ein Souvenirladen (wie so viele andere in dem Viertel) an seiner Stelle, bewahrt aber wenigstens einige Reste der Innenausstattung. Das Geschäftsschild ging an das Museum of Chinese in America in der Centre Street 215, auf der westlichen Seite des Columbus Park. In der Mott Street 60 – 64 gibt es ein Chinese Community Center, das auf eine Einrichtung von 1883 zurückgeht, die zwar auf privater Basis, aber als quasi Kommunalbehörde für die Immigranten tätig war. Auch die New York Chinese School befindet sich in dem Gebäude, die 1909 gegründete größte chinesische Schule außerhalb Chinas. Ich gehe jetzt zur Bayard Street zurück, um abschließend den Columbus Park zu besuchen.

Columbus Park

Entstanden durch den Abriss der Five Points, hieß der Park ursprünglich Mulberry Bend Park, bis man ihn, nach 1911 in Columbus Park umbenannte. Er stellt heute den „Stadtpark“ von Chinatown dar, der fast ausschließlich von Chinesen genutzt wird, die hier den ganzen Tag lang – auch im Winter – outdoor pures chinesisches Leben entfalten. Da gibt es traditionelle Bands mit banjoartigen Zupf- und Streichinstrumenten und Sängern, die stets von Zuhörern umlagert sind, an den im Park aufgestellten Tischen wird Mahjong gespielt und die gesamte Anlage ist von Chinesen dicht bevölkert. Bei schlechtem Wetter zieht man sich in den Columbus Park Pavilion zurück, eine große, überdachte Parkarchitektur, neben der seit 2011 das Denkmal für Dr. Sun Yat-sen aufgestellt ist. Der Gründer der Republik China und erste Präsident steht für die Abkehr vom reaktionären Quing-Regime und die Modernisierung des Landes. In der Zeit seines Exils reiste er durch die Welt und sammelte Unterstützung für den Sturz der Monarchie, auf einer solchen Tour kam er auch nach New York und dürfte dann sicherlich in Chinatown gewohnt haben. Das Denkmal wurde zum 100. Jahrestag der Staatsgründung erst einmal temporär aufgestellt, soll aber auf Wunsch der Anwohner hier stehenbleiben. Es zeigt den Politiker in traditioneller Kleidung, den einen Arm in die Hüfte gestemmt und den anderen (mit dem Hut in der Hand) gegen das linke Bein drückend. In chinesischen Lettern steht Sun Yat-sens Motto auf dem Sockel: „All under Heaven are equal.“

Chinatown in Queens

Mittlerweile hat sich die chinesische Bevölkerung auf ganz New York verteilt, so dass es in jedem borough eine Chinatown gibt, in Queens sogar zwei. Im Ortsteil Elmhurst, am Broadway von Queens, nahe der 81st Street, hat sich eine Szene von chinesischen Restaurants und Geschäften entwickelt, zu denen zunehmend auch die anderer südostasiatischer Ethnien kommen, die aus Malaysia, Singapur, Indonesien, Thailand und Vietnam stammen. In Ortsteil Flushing gibt es die aktuell größte Chinatown New Yorks. Die hiesigen Einwohner gehören zu den assimilierten Chinesen, die es zu einem gewissen Lebensstandard gebracht haben, sie wohnen vielfach in Einfamilienhäusern. Auf die Erziehung ihrer Kinder legen sie größten Wert, drillen sie auf allergrößten Fleiß und versuchen, sie an den besten Schulen der Stadt unterzubringen. Anstelle der kleinen Geschäfte wie in Chinatown Manhattan gibt es hier riesige chinesische Supermärkte mit gigantischen Fischabteilungen von der Größe eines städtischen Aquariums. In den unzähligen Lebend-Becken treiben – bäuchlings oben – jede Menge Karpfenleichen, einfach gruselig! Während unsere Enkelin hier in Flushing mit einer chinesischen Klassenkameradin zusammen büffelt, führt uns unser Sohn Vincent in ein kleines, original chinesisches Restaurant, in dem wir die einzigen „Langnasen“ sind. Am Eingang hängt ein kleines Board für lokale Kleinanzeigen mit der Meldung: „Dog missing“. Wir rätseln, wo hier ein Hund abgeblieben sein könnte. Die Nachfrage in Berlin bei unserem China-Experten Jörn ergab: „Der Hund ist im Zweifelsfalle den Weg alles Irdischen gegangen und im Wok gelandet. In Chinatown liegt das nahe.“

8 New York begrüßen

Bryant Park

Trifft der Trans-Atlantik-Reisende am Nachmittag in New York ein, ist es zur Vermeidung des jetlag (der einem wegen Schlaflosigkeit die nächsten Tage vermiesen kann) ratsam, sich noch so lange wie möglich wach zu halten. Uns gelingt das immer gut, und gleich am nächsten Morgen machen wir uns mit der Subway auf zu unserem traditionellen Begrüßungsort, Bryant Park, einem ganz typischen Stück New York. Er ist ein kleiner, quadratischer Platz, ausgespart aus dem Raster der ihn umgebenden Wolkenkratzer, liebevoll gärtnerisch und architektonisch gestaltet mit Rabatten, Kiosken und Statuen. Das Wetter ist nicht so warm, wie wir es aufgrund der Jahreszeit (Mai) erwartet haben, aber es geht und in ein paar Tagen soll es sowieso heiß werden. Typisch für das hiesige Wetter sind ja die abrupten Wechsel der Temperaturen. Bryant Park sieht mit grünen Bäumen noch schöner aus als in den vergangenen Jahren, in denen wir im März hier waren und morgens ist es hier immer am besten: Mühelos findet man ein Tischchen mit Stühlen in einer schönen Ecke und das Self Service Café ist auch schon geöffnet. Wir genießen den Blick auf die schöne Art-Deco-Architektur des Bryant Park Hotels, das ursprünglich für die American Radiator and Standard Sanitary Company gebaut wurde. Deshalb wird es auch American Radiator Building genannt und manche schwören, es sähe aus wie ein Heizkörper. Hier machen wir die ersten Fotos zur Dokumentation unserer Ankunft, u. a. von Goethes Büste im Park. Mit Amerika und NY hatte der Dichterfürst zwar absolut nichts zu tun, aber das war für die hiesige Goethe-Gesellschaft, die das Denkmal stiftete, kaum von Interesse. Das ebenfalls hier stehende Nostalgie-Kinderkarussell hat überall Spiegel, mit deren Hilfe wir ein künstlerisches Selfie von uns machen können. Wir bestaunen weitere den Park umstehende Häuser, darunter dasjenige mit dem ehemaligen Atelier des französischen Künstlers Fernand Léger und einen interessanten Neubau im Stil des Kubismus an einer Platzecke. Der ebenfalls am Platz stehende Wolkenkratzer, der Bank of America Tower, ist aktuell der vierthöchste New Yorks und kostete eine Milliarde Dollar. Als es zu nieseln beginnt, verziehen wir uns – wie gewohnt bei schlechtem Wetter an diesem Ort – nebenan in die Public Library, deren Eingang in der 5th Avenue liegt.

New York Public Library

Der riesige, 1911 im Beaux-Arts-Stil errichtete Bau (übrigens eine sehr schmeichelhafte Bezeichnung für diese gründerzeitliche Prunk und Protz Architektur) nimmt die gesamte Breite des Karrées zwischen der 40. und 42. Straße ein. Die NYPL ist eine der größten Bibliotheken der Welt und besitzt unter vielem anderen eine Gutenberg-Bibel und ein Originalexemplar von Newton‘s Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Bei einer Erweiterung des Baus in den 1980ern hat man den Bryant Park quasi unterkellert, um die Büchermagazine dorthin zu verlegen; der Park musste dafür mehrere Jahre geschlossen werden. Im Obergeschoss befindet sich der Nutzerbereich mit prachtvollen Lesesälen, während im Erdgeschoss Sonderausstellungen, die wir bei jedem unserer New York Besuche ansehen, mit Schätzen des Hauses gezeigt werden. Heuer sind es zwei nette kleine Ausstellungen, eine über die 68er Jahre in Amerika (die den unsrigen so verteufelt ähnlich waren!) und eine über die Gemeinsamkeiten der drei Buch-Religionen Judentum, Christentum uns Islam. Wer hätte schon gewusst, dass Maria im Koran häufiger erwähnt wird, als im Neuen Testament und dass es den heiligen Georg auch bei den Muslimen gibt? Illustriert wird das ganze durch wunderbare mittelalterliche Buchausgaben aus den Beständen der NYPL. An der nordöstlichen Ecke der Bibliothek befindet sich die Kreuzung der 5th Avenue mit der 42nd Street. Hier kann man entscheiden, ob man in östlicher Richtung zur Grand Central Station gehen will, oder nach Westen zum Times Square. Da ich den Bahnhof im Zusammenhang mit dem Chrysler Building und dem UNO-Headquarter behandeln werde, wenden wir uns auf der 42nd Street in Richtung Westen.

Theater District

Die Straße hatte ihren Höhepunkt in den 20er Jahren, als sich hier der Theater District ausdehnte. In ihrem Umkreis lagen die berühmten Theaterbauten im Jugendstil und Art Deco, die zu den renommierten Broadwaybühnen gehörten. Doch die goldene Zeit des Broadway-Theaters erlebte mit dem Börsencrash 1929 und der darauffolgenden Depression einen rasanten Absturz. Viele Impresarios gingen in Konkurs, ihre Bühnenpaläste wurden in Flohzirkusse, Kabaretts und Kinos umgewandelt. Zwar erholte sich das Theaterviertel nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal, verbunden mit großen Namen wie Frank Sinatra, Dean Martin und Jerry Lewis, jedoch war in den 60er Jahren endgültig Schluss. Der Stadtteil verslumte, weil die New Yorker Mittelklasse ins Grüne wegzog und zwielichtige Geschäftsleute, Drogenhandel und Prostitution ihren Platz einnahmen. Bald war die Gegend so verrufen, dass Zeitungen und Reiseführer vor nächtlichen Besuchen warnten. Erst in der Amtszeit von Rudy Giuliani war wieder ein Aufschwung zu verzeichnen, die Stadt stellte Mittel für die Aufwertung des Theater District zur Verfügung und betrieb die Renovierung des New Victory Theaters, das jetzt kommunal betrieben wird und sich auf Kinder- und Familienveranstaltungen spezialisiert hat. Das New Amsterdam Theater ist in den Besitz des Disney Konzerns übergegangen, der hier Disney-eigene Musicalproduktionen aufführt. Die beiden Theater sind die ältesten noch betriebenen Bühnen von New York. Heute wird einzig anhand der Besucherzahlen zwischen Broadway und Off-Broadway Bühnen unterschieden, wobei beide übrigens nicht direkt am Broadway liegen müssen; aber typischer für das heutige New York sind doch die Off-Theater, weil sich nur hier noch – abseits ausgetretener Pfade – ein innovatives Theaterleben entfalten kann.

Times Square

An der Kreuzung der 42nd Street mit dem Broadway biegt man nördlich auf diesen ein und erreicht nach wenigen Metern den Times Square, der nach dem Sitz der renommiertesten New Yorker Zeitung benannt ist. Trotz seiner großen Bekanntheit und obwohl die Stadt zur Zeit viel unternimmt, ihn zu verbessern, bleibt er ein zwiespältiger Ort (insbesondere, um hier New York zu begrüßen). Eine richtige Platzanlage ist gar nicht zu erkennen, er ist vielmehr eine Straßenkreuzung von Broadway und 46th Street. Die kürzlich erfolgte Gestaltung des Broadway als Fußgängerzone im Bereich des Times Square half zwar ein wenig, überhaupt erst einmal eine Platz-Struktur zu schaffen, aber die mit einer Ausnahme wenig überzeugende Architektur der Hochhäuser und besonders sein Markenzeichen, die Leuchtreklamen, bringen keinesfalls das Gefühl hervor, hier im Herzen von New York zu stehen. Die Idee der leuchtenden Werbung stammt aus den 20er Jahren; mit tausenden von einzelnen Glühbirnen wurden die Lichteffekte erzeugt und einzelne Reklamen, wie der Rauch über den Platz blasende Camel-Cowboy und der riesige Pepsi-Cola-Wasserfall auf dem ehemaligen Bonds-Kaufhaus erlangten ikonischen Charakter. Es existierte damals eine ästhetische Richtlinie, dass nur weiße Lampen verwendet werden durften, was der Gegend den Namen „The Great White Way“ einbrachte, aber das ist alles lange vorbei. Mit dem Niedergang des Theaterviertels verschwand die Ästetik der Lichtgestaltung, die Häuser wurden den neuen Nutzungen entsprechend umgebaut (Sexshops, Fastfood-Läden und billige Hotels), wobei viele der schönen alten Art Déco Ornamente demoliert wurden. Seit der Erfindung der LED-Technik flackern an den Fassaden nur noch wenige farbige Neonröhren, stattdessen gibt es – wie überall – elektronische Anzeigenbänder und LED-Großbildschirme, allerdings in einer Konzentration wie sonst nirgendwo in der Stadt.

Durch das Verschönerungsprogramm der Stadt ist immerhin das Paramount-Building rekonstruiert worden, 1926 als Hauptsitz der gleichnamigen Filmgesellschaft erbaut, nebst einem der größten Kinos New Yorks mit über 3500 Plätzen. Berühmt war die Lobby des Kinos – der Pariser Garnier-Oper nachempfunden – mit Marmorsäulen, Balustraden und einer großen Freitreppe. Im Kino gab es einen Orchestergraben und eine der größten Wurlitzer-Orgeln der Welt. Mit der Schließung des Kinos und dem Umbau zu Büros und Läden wurde alles herausgerissen und der über mehrere Etagen reichende monumentale Eingang mit seinen Art Déco Ornamenten zugemauert. (Die Wurlitzer-Orgel konnte glücklicherweise gerettet werden und ging nach Wichita, wo sie heute noch noch erklingt). Das Portal ist inzwischen wieder hergestellt und führt in das Hard Rock Café in der ehemaligen Lobby, der Rest des Paramount-Interieurs ist verloren. Heute beherbergt das Gebäude nach wie vor Büros von Paramount Pictures, aber auch der benachbarten New York Times. Auf dem Dach erhebt sich wieder die vierseitige Uhr, die von einem nachts leuchtenden Globus gekrönt ist.

Die Ehrenrettung für den Times Square ist die Silvesterparty, die seit 1904 von der New York Times veranstaltet wird. Sie wird von den New Yorkern sehr gut angenommen und ist mittlerweile identitätsstiftend. Damals ging es um den Einzug der Zeitung in das neue Verlagsgebäude One Times Square. Beim anschließenden Feuerwerk kam es allerdings zu zahlreichen Verletzten durch Verbrennungen, weshalb der berühmte leuchtende Times Square Ball eingeführt wurde, den man an einem Fahnenmast auf das Gebäude absenkte. Eine Million Menschen versammelt sich seitdem jeden Silvester schon ab nachmittags, um gute Sicht auf den Ball Drop und die aufgebauten Videowände zu haben, auf denen im Laufe der Feier Auftritte von Rock- und Popgrößen präsentiert werden. Die Kugel wird 60 Sekunden vor dem Jahreswechsel mit einem Countdown herabgelassen und wie überall in der angelsächsischen Welt wird anschließend traditionell das Lied Auld Lang Syne angestimmt.

9 Spaziergänge in Midtown

Union Square

Bei strahlendem Sommerwetter im Mai mit Temperaturen von 27 Grad machen wir uns auf den Weg zum Union Square, einem weiteren unserer New Yorker Lieblingsorte. Hier gibt es montags immer einen green market mit Händlern aus dem Umland, der aber keinem Vergleich mit unseren Wochenmärkten in Berlin standhält. Erstens ist hier nur eine überschaubare Anzahl von Händlern und zweitens könnte man ob der hohen Preise nur noch die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Dennoch schauen die Stände im Schatten der Wolkenkratzer hübsch aus und es gibt nette Dinge zu sehen, wie irrsinnige essbare Baumpilze, ausgedehnte Kräuterstände und die Lyrik am Stand des Bäckers (If thou tastest a crust of bread, thou tastest all the stars and all the heavens, Robert Browning, oder Let there be work, bread, water and salt for all, Nelson Mandela). Da Renate heuer ihre gewohnten cinnamon rolls nicht kriegt, tastet sie sich an den einzelnen Ständen von Pröbchen zu Pröbchen. Auf der Suche nach einem Kaffee geraten wir in einen Laden, wo man ihn umsonst ausschenkt – etwas Seltenes in dieser teuren Stadt! Mit dem Kaffee lassen wir uns nun eine Weile auf dem Platz nieder, der ähnlich wie Bryant Park jetzt ein park management hat und mit Tischen und Stühlen sowie gepflegtem Grün sehr heimelig wirkt. Ich mache einen Foto-Rundgang entlang der vielen Denkmäler (lustig: Ein Lafayette vom Schöpfer der Freiheitsstatue, dem Franzosen Bartholdi, im Rokoko-Kostüm, das als Outfit für Generäle denkbar ungeeignet erscheint) und entdecke, als ich ein höchst beeindruckendes Bankgebäude in antikem Stil knipse, dass die Opfer der Bankenkrise (Obdachlose, Arme und Alkoholiker) direkt davor beschäftigungslos herumlungern. Am Südrand des Platzes haben die Schachspieler (meistens Schwarze oder Chinesen) ihre Bretter aufgebaut und warten auf Klienten, die auf das Angebot reinfallen, mit ihnen um Geldeinsätze zu spielen. Nachdem wir die Atmosphäre des Union Square hinreichend genossen haben, beschließen wir, den Broadway, der hier den Park durchquert, noch ein Stück nach Norden entlang zu schlendern, vielleicht bis zum Madison Square.

Mittlerer Broadway

Hier in Midtown ist der Boulevard nicht so exklusiv wie weiter südlich und nördlich, kleine zwei- und dreistöckige Häuser wechseln sich mit weit größeren und prächtigeren ab. Diese Koexistenz ist fast rührend anzuschauen, doch ihrem vergammelten Aussehen nach scheinen die alten Häuschen nicht denkmalgeschützt zu sein, sondern ihrem Abriss zugunsten luxuriöser Hochhausbebauung entgegen zu sehen. Angesichts ihres für diese Stadt stattlichen Alters von 180 Jahren, fragt man sich immer wieder, warum der Kommerz stets den Sieg über das Pittoreske und Unverwechselbare davonträgt. Ein paar Straßen weiter hat man eines der für New York so typischen Gusseisen-Häuser im Erdgeschoss entkernt. Das Dekor des späten 19. Jh. täuscht eine steinerne italienische Palastfassade vor, besteht aber aus angestrichenem Eisen. Das Innere im Rohbau-Look, in dem als einzige Schmuckelemente die hohen eisernen Säulen mit korinthischen Kapitellen verblieben sind, nutzt man als Multi-Store für Schmucksteine, Gläser, Vasen und weiteren Kram, den man gar nicht braucht. Eine Ecke weiter befindet sich ein Kino der amc-Kette; vor ihm sitzt auf der Straße eine inflatable rat. Das von einem Kompressor aufgeblasene 3 m hohe Gummi-Nagetier ist eine Erfindung der Gewerkschaften zur Bloßstellung von Unternehmen, die gewerkschaftliche Regeln nicht einhalten. So etwas könnte man auch bei uns vor recht viele Türen stellen!

Flatiron Building

Schon bald haben wir unseren Zielpunkt erreicht, die Kreuzung des Broadway mit der 5th Avenue, der teuersten Einkaufsstraße der Stadt. Durch den schrägen Verlauf des Boulevards quer durch die rechteckigen Straßenkarrees von Manhattan ist ausgerechnet an dieser prominenten Ecke nur ein dreieckiges Grundstück übrig geblieben. Auf ihm erhebt sich eines der Wahrzeichen von New York, das Flatiron Building. Um das ungünstig geschnittene, aber dennoch teure Grundstück optimal auszunutzen, übertrug man den dreieckigen Grundriss auch auf das Hochhaus. So entstand ein kurioser Baukörper, der dem Gebäude seinen Namen gab, das Bügeleisen. Erbaut als früher Stahlskelettbau mit Verkleidung aus Terracotta im Pseudo-Renaissance-Stil, hat der 22-stöckige Wolkenkratzer eine irre Raumaufteilung im Innern, beginnend mit 2 m breiten Räumen an der Spitze bis zu ganz großzügigen in der Breitseite. Die spitzige Gebäudeform erzeugt bei Nordwind starke Luftströmungen in der 5th Avenue und auf dem Broadway, die den flanierenden Frauen die Röcke hochwehen, so dass – in früheren, sittenstrengeren Jahren – die Polizei immer wieder „Spanner“ des Platzes verweisen musste, die nur auf so etwas warteten.

Madison Square

An derselben Kreuzung von Broadway und 5th Avenue liegt auch der Madison Square, jedem geläufig durch das weltberühmte Veranstaltungszentrum. Es wurde 1874 am Platz und der 26th Avenue auf einem großen, der Familie Vanderbilt gehörenden Gelände gegründet und trug zunächst den Namen Gilmore Garden – zu Recht als Garten bezeichnet, denn die verschiedenen Sportstätten lagen unter freiem Himmel inmitten von Blumen- und Baumpflanzungen. Das 1874 eröffnete Etablissement wurde bereits 1890 wieder abgerissen, um für den Madison Square Garden Platz zu machen, einer New Yorker Bauikone, von der im Kapitel Lost New York erzählt wird. Es war das größte Veranstaltungszentrum der Welt, finanziert von den reichsten Männern der Stadt Vanderbilt, J. P. Morgan, Carnegie und Waldorf Astor, lief aber nicht gut genug, um die gewaltigen Investitionskosten wieder einzuspielen. Da die Geldgeber nicht länger „gutes Geld schlechtem hinterher werfen“ wollten, verkauften sie den Garden an eine Immobilienfirma. Die New York Life Insurance Company, der Hypotheken auf das Gebäude gehörten, kündigte diese und drängte auf Abriss. Der Madison Square Garden verschwand 1926 und machte Platz für das Met Life Insurance Building, einen der stilbildenden New Yorker Wolkenkratzer von Cass Gilbert, der durch sein goldenes Dach die Silhouette von Manhattan prägt.

Vom alten Madison Square ist immerhin noch der 1847 eröffnete Madison Square Park übrig geblieben, Schauplatz großer Feierlichkeiten zu historischen Anlässen, z.B. 1876 zur hundertsten Wiederkehr der Unabhängigkeitserklärung und 1899 zur triumphalen Rückkehr von Admiral George Dewey aus dem Spanisch-Amerikanischen Krieg. 1870 wurde er vom obersten Landschaftsarchitekten der Stadt, dem Österreicher Ignatz Anton Pilat, in die heutige Form gebracht, mit – wie üblich – vielen Denkmälern, darunter das von William H. Seward (1876), dem US-Außenminister, der 1867 Alaska kaufte und von Admiral David Glasgow Farragut (1881), einem Haudegen und Admiral des amerikanischen Bürgerkriegs, den der in Amerika sehr berühmte irisch-amerikanische Bildhauer Augustus Saint-Gaudens schuf. Die vielen Sitzbänke werden von den in der Nähe Arbeitenden zum Einnehmen des business lunch und einer kleinen Erholungspause gut angenommen. An der Imbiss-Station des Parks hat sich bei unserer Ankunft bereits eine lange Warteschlange gebildet, die uns aber nicht tangiert, denn wir sind nicht hungrig. Im kürzlich erst sehr schön restaurierten Park beöle ich mich über die äußerst fragile, von Diana Al-Hadid gestaltete, moderne Brunnenskulptur aus Draht, Gips, Kunststoff und Farbe, die laut Verbotsschild nicht bestiegen werden darf und bewundere The Ornamental Fountain von 1867 und The Eternal Light Flagpole von 1923, die noch zu Ignatz Pilats Parkarchitektur gehören. Von hier bringt uns die R-Linie sehr bequem (weil umsteigefrei) wieder nach Queens zurück.

10 Quer durch Midtown

Trödel in Hell’s Kitchen

Unsere Schwiegertochter handelt mit gebrauchten Handtaschen und ausgefallenen Modeaccessoires, die sie alle Vierteljahre auf sogenannten vintage shows anbietet, einer Mischung aus Antiquitätenmesse und simplem Trödelmarkt. Ein Unternehmer hat dafür eine Etage in einem Gebäude des 19. Jh. in Midtown-Manhattan angemietet und vermietet diese, aufgeteilt auf viele einzelne Verkaufsstände, an Händler weiter, die auf diese Weise zu einer – für sie sonst nicht erschwinglichen – Geschäftsadresse in Manhattan kommen. Billig ist das natürlich auch nicht (was ist in New York schon billig?), deshalb ist bei jeder ihrer vintage shows gleich zu Beginn schon ein stattlicher Anteil der Ware zum Bezahlen der Standmiete weg. Das treibt sie ständig zur Jagd nach Ersatzobjekten auf die vielen Trödelmärkte der Stadt. Als ich höre, dass sie zum Trödel in „Hell‘s Kitchen“ will, muss ich natürlich mit – besonders bei einem Ort, der solch einen Namen trägt! Viele spannende Geschichten tischt man als Erklärung dafür auf, aber da keine davon stimmt, lasse ich sie einfach weg. Tatsache ist, dass diese neighborhood in Midtown West (zwischen 8th Avenue und dem Hudson, sowie der 34th und der 57th Street W) einmal ein Armutsviertel war und ähnlich wie die Bowery und Teile von Chinatown aussah, mit dreistöckigen Backsteinbauten und vorwiegend irischer Migrantenbevölkerung. Davon ist bis auf wenige Reste nichts geblieben, das Stadtviertel hat im Zuge der gentrification Manhattans die originalen Häuser und deren Bewohner verloren und sieht jetzt genauso aus, wie der aufgenobelte Rest von Midtown. Dazu passt dann auch der gruselige Name Hell’s Kitchen nicht mehr und so sprechen die Immobilienmakler heutzutage lieber von Clinton, benannt nach dem unweit am Hudson gelegenen DeWitt Clinton Park, der den Namen eines ehemaligen Bürgermeisters und Gouverneurs von New York trägt. An der 9th Avenue/39th Street W, auf einer großen Brachfläche, die zur Neubebauung vorbereitet wird, befindet sich der Trödelmarkt, der den Flohmärkten in Berlin gleicht, aber in punkto Größe und Vielfalt gegen sie stark abfällt. Ein großer Teil der Besucher stöbert nur im billigen Krempel und scheint zu denjenigen zu gehören, die das aufstrebende Quartier gerade verlassen mussten. Wir dagegen machen unser Schnäppchen: Eine Händlerin, die von einem Europabesuch vor vielen Jahren eine Fruchtschale aus Meißner Porzellan mitgebracht hat, gibt die Hoffnung auf, sie zu einem angemessenen Preis an einen New Yorker loszuwerden und überlässt sie uns Reimporteuren billig.

42nd Street

Bevor wir nun auf der 42nd Street ganz Manhattan durchqueren, begeben wir uns zunächst einige Straßen weiter nach Süden, um eines der größten Umbauprojekte von NY in Augenschein zu nehmen. Am Ufer des Hudson, anstelle früherer Hafen-, Bahn- und Industrieanlagen, liegt das Neubaugebiet Hudson Yards, das im nördlichen Teil bereits mit dem Jacob K. Javits Convention Center bebaut ist, einem riesigen Kongress- und Veranstaltungszentrum. Südlich der 34th Street, auf einem gewaltigen Grundstück vom Hudson bis zur 10th Avenue, befindet sich die 30-gleisige Abstell- und Rangieranlage für die Züge der Pennsylvania Station. Sie wurde mit einem Betondeckel versehen, auf dem teure Wohn- und Geschäftsbauten entstanden. Nach Abschluss der ersten Ausbauphase sind hier sechs Wolkenkratzer von 237 bis 387m Höhe entstanden, ferner das Kulturzentrum The Shed und das bizarre Gebilde The Vessel, das man eigentlich nicht als Gebäude bezeichnen kann, da es völlig zweckfrei ist und nur aus Treppen besteht, 154 in der Zahl und 15 Stockwerke hoch. Es erinnert an die Werke von M.C. Escher und gleicht wahlweise einer Bienenwabe, einem Klettergerüst oder einem Korb. Ursprünglich sollte The Vessel komplett begehbar sein (sicherlich mit hohen Eintrittspreisen), aber nach mehreren Suiziden hat man es geschlossen und bis eine Lösung gefunden ist, kann man einzig das Erdgeschoss begehen, dafür aber kostenlos. Um das neue Stadtviertel verkehrsmäßig zu erschließen, wurde bereits die Subway-Linie 7 verlängert und 2015 die neue Endstation Hudson Yards angelegt. Die Modernität all dieser Anlagen, ihr ungeheures Ausmaß und das schier unbegrenzte Kapital, das dafür zur Verfügung steht, bringen den Europäer immer wieder ins Grübeln.

Die 42nd Street vom Hudson bis zum East River, 3,5 km durch ganz Midtown soll unsere heutige Laufstrecke werden. Bei der Parzellierung des Straßenrasters von Manhattan wurde ihre Breite auf 30 m anstelle von 18 m wie bei den übrigen Streets festgelegt, was zur Folge hatte, dass die monumentalen Bauwerke und Plätze des Viertels an diesem Straßenzug entstanden. Times Square und das Theaterviertel haben wir schon gesehen, setzt man den Weg nach Osten fort, gelangt man zum Port Authority Bus Terminal (PABT). Der größte Busbahnhof New Yorks (und vielleicht der Welt) befindet sich in einem Parkhaus-ähnlichen, mehrstöckigen offenen Gebäude, in das die Busse vom Lincoln-Tunnel, aber auch von der 42nd Street aus einfahren können um die Fahrgäste in den oberen Etagen aufnehmen. Vorbei am Union Square und der Public Library, die wir ebenfalls am Ankunftstag besucht und bereits beschrieben haben, überqueren wir die 5th Avenue mit ihrer unglaublichen Anzahl von Luxusgeschäften und erreichen Grand Central Station.

Grand Central Terminal

Dieser größte New Yorker Bahnhof ist in ein Hochhauskarree zwischen Madison und Lexington Avenue eingebaut. An der 42nd Street präsentiert er seine beeindruckende Beaux Arts Fassade, die von der weltgrößten Tiffany-Glasuhr (mit mehr als 4m Durchmesser) gekrönt ist. Der hier verwendete historistische Baustil ist charakteristisch für die boomende Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und besonders geeignet für repräsentative Gebäude. Seine Formen sind der Renaissance, dem Barock und der englischen Form des Klassizismus entlehnt; New York ist voll von Bauwerken dieser Art. Die Public Library im gleichen Stil haben wir gerade passiert, das United States Post Office an der Penn Station und das Museum of Natural History sind weitere prominente Beispiele. Der Eisenbahnbau wurde zu Beginn dieses Zeitalters von privaten Gesellschaften betrieben, die noch kein Bahnnetz, sondern einzelne separate Linien planten. Deren Anfangs- und Endstationen, so genannte Kopfbahnhöfe, waren Prachtbauten, ausgestattet mit mehreren Bahnsteigen und unzähligen Funktionsräumen (Empfangshalle, Ticketschalter, Warteräumen, Restaurants, Bädern, etc.). Das repräsentative Äußere stand auch für die Betreibergesellschaft und ihre Eigentümer, im Falle von Grand Central für die Familie Vanderbilt, die ihr Symbol – die Eiche – in Form von Eicheln und Eichenlaub überall anbringen ließ. Das heutige Grand Central Terminal ist bereits der dritte Bau dieser Art an derselben Stelle. Nachdem man 1913 die Elektrifizierung des Schienenverkehrs in der Stadt beschlossen hatte, waren hohe, gewölbte Hallen für qualmende Dampfzüge obsolet geworden. Stattdessen verlegte man Bahnsteige und Zugtrassen in niedrige Tunnel unter der Erde und gewann dabei wertvollen oberirdischen Baugrund in zentraler Lage, nur die Empfangshalle an der 42nd Street blieb vom Abriss verschont. Die jetzt zweistöckig im Untergrund liegenden 44 Bahnsteige mit 67 Gleisen für die drei zulaufenden Linien machen Grand Central zum größten Bahnhof der Welt, obwohl er nach dem Neubau der Penn-Station gar nicht mehr dem Fernverkehr dient.

Kopfbahnhöfe in Innenstädten gelten heute als Verkehrshindernisse, deshalb musste Grand Central seine Rolle als quasi Hauptbahnhof von New York auch an die Penn-Station abgeben und kam dadurch unter erheblichen Abrissdruck. Angetrieben durch die Gier von Investoren auf weitere Innenstadtflächen zum Bau von Wolkenkratzern, entstand der Plan, nach der historischen Penn-Station nun auch den Kopfbau von Grand Central abzubrechen und den Bahnhof komplett unter die Erde zu verlegen. Diese Perspektive führte zunächst einmal zu Vernachlässigung und Verfall des Komplexes, doch glücklicherweise auch zu Widerstand gegen die Abrisspläne. Ob des laxen Umgangs mit historischer Bausubstanz war so viel Aufsehen und Unmut entstanden, dass engagierte Bürger (unter ihnen Jackie Kennedy-Onassis) eine Initiative zur Rettung von Grand Central gründeten. Ihrer Forderung auf Denkmalsschutz für das gesamte Empfangsgebäude wurde entsprochen und seit 2013 steht das Bauwerk nun auf der Liste der Historic Civil Engineering Landmarks. Seitdem wurde das Ganze auch in seiner vollen Schönheit renoviert und mit neuen Funktionen ausgestattet.

Die Unmenge von Bahnsteigen in den Untergeschossen dienten damals dem Zweck hohe Zugfrequenzen zu erreichen. Heute gehen hier nur noch Züge nach upstate New York ab, aber Ausbaupläne mit einem neuen Tunnel unter dem East River sehen vor, auch die Züge der Long Island Rail Road (LIRR) hier halten zu lassen, was Grand Central einen erneuten Aufschwung bescheren würde. Der hat allerdings bereits durch die erfolgten Baumaßnahmen begonnen und bis zu einer Mio Menschen passieren täglich das imposante Gebäude um einzukaufen, die Restaurants zu besuchen und die Verkehrsmittel zu benutzen. Diese Massen ziehen auch uns durch die Türen an der 42nd Street ins Gebäude hinein und wir stehen staunend in der Schalterhalle, die ein Gesamtkunstwerk im Stil des Art-Deco darstellt. In ihrer Mitte der Informationskiosk, auf dessen Dach sich die berühmte Uhr mit ihren vier Ziffernblättern aus Opalen befindet, die – laut Auskunft der Auktionshäuser Sotheby’s und Christie’s – mehr als 10 Millionen $ wert sein soll.

Überhaupt ist der gesamte Bahnhof überreich mit Kunstwerken ausgestattet, insbesondere die gigantische Haupthalle mit ihren zehn vergoldeten Kronleuchtern, die je 110 Glühlampen enthalten. Ihre Decke ist als Himmelsgewölbe mit fantasievollen Sternbildern gestaltet, eine riesige Kopie von Johann Bayers Sternenatlas „Uranometria“ von 1603. Als die Halle eingeweiht wurde, prognostizierte ein Vertreter der Bahngesellschaft, dass künftige Schülergenerationen ab jetzt den Sternenhimmel in der Grand Central studieren würden, aber dummerweise hatte man den Sternenatlas seitenverkehrt an die Decke projiziert. So liegt jetzt Osten im Westen und umgekehrt und die Sternenkunde-Lektionen sind bis heute ausgeblieben.

Uns zieht es ins Untergeschoss, in dem sich die berühmte Oyster Bar befindet, ein Großrestaurant, in dem man – nicht ganz billig – seafood essen kann. Wir entscheiden uns für scallops und clam chowder, zwei Gerichte, bei denen man nichts falsch machen kann. Sich einfach hinzusetzen und zu bestellen ist es aber schon, denn in New York – wie früher in der DDR – begibt man sich zuerst an die Rezeption und wartet darauf, „platziert“ zu werden. Erst wenn man vom Ober an einen freien Tisch geleitet wurde, ist es einem endlich vergönnt, zu bestellen. Auch beim Bezahlen kann man einiges falsch machen, denn das obligatorische Trinkgeld, die Basis des Einkommens der Kellner, kommt erst ganz zum Schluss auf die Rechnung. Versucht man, sich seiner Entrichtung mit der europäischen Einstellung zu entziehen, dass das ja eine freiwillige Leistung sei, gilt man hierzulande als Betrüger und wird u. U. am Verlassen des Lokals gehindert.

Am Grand Central endet die Urbanität der 42nd Street, doch da sich östlich von hier noch das Chrysler Building und das UNO-Hauptquartier befinden, wollen wir unsere Durchquerung von Manhattan unbedingt bis zum Ende fortsetzen. Auf dem gesamten Weg entlang dieser Straße war in der Ferne schon ein silberglänzender Wolkenkratzer mit einer Spitze im besten Art Deco Stil zu erkennen, völlig unverwechselbar und ein markanter Teil der New Yorker Skyline: Das Chrysler Building. Es ist Samstag und als wir hier vorbeikommen, bin ich schwer enttäuscht, weil es geschlossen ist. Die Recherche ergibt, dass die touristische Besichtigung des Gebäudes gar nicht vorgesehen und es am Wochenende grundsätzlich nicht geöffnet ist. Für das Anschauen der Eingangshalle und der Fahrstühle – alles im Art Deco Stil – ist also ein erneuter Besuch des Chrysler fällig, das im Kapitel über die berühmten Wolkenkratzer ausführlich behandelt wird.

UN Headquarters

Wir beenden nun die Durchquerung Manhattans am Hauptquartier der Vereinten Nationen. Das großflächige Gelände versperrt den Zugang zum Ufer des East River und der Franklin Delano Roosevelt Drive, die Hauptstraße, die am östlichen Rand Manhattans verläuft, verschwindet hier unterirdisch im United Nations Tunnel. Auch die First Avenue, westlich vom UN-Komplex, wurde in einen Tunnel verlegt, oberirdisch gibt es dafür die verkehrsfreie United Nations Plaza. Direkt vor dem markanten Wolkenkratzer mit dem Sitz des UN-Sekretariats wenden wir uns nach links und gehen noch drei Straßen weiter nach Norden, wo sich der Eingang zum Visitor Center an der 46th St/1st Avenue befindet. Das UN-Areal ist nur mit Führung zugänglich und das auch erst, nachdem man seinen Pass präsentiert und 22 $ Eintrittsgeld gezahlt hat. Außerdem empfiehlt sich eine Reservierung im Internet um lange Wartezeiten zu vermeiden.

Aber zunächst erst einmal das Wichtigste zur Geschichte der Vereinten Nationen: Ihre Vorgängerorganisation, der Völkerbund, war ein Ergebnis des Ersten Weltkrieges, dessen Gräuel sich nach Überzeugung fast aller Beteiligten keinesfalls wiederholen sollten. Deshalb verpflichteten sich die Mitgliedstaaten, im Falle eines Angriffs auf einen von ihnen, diesem sofort und ohne besonderen Parlamentsbeschluss militärisch beizustehen. Diese Regelung überforderte jedoch die meisten im Völkerbund und nicht einmal Hitlers verbrecherische Aggressionen gegen gleich mehrere Länder brachten eine gemeinsame Intervention zustande. Aber der wohl entscheidende Grund für die Wirkungslosigkeit des Völkerbunds war die Nichtteilnahme der USA, weil Präsident Wilson, einer der Hauptinitiatoren, es versäumt hatte, die Parteien seines Landes bei der Schaffung der neuen Organisation angemessen einzubinden. Erst nachdem die Katastrophe ein zweites Mal eingetreten war, gab es auch in Amerika Einsicht in die Notwendigkeit einer Weltorganisation, in der alle Staaten vertreten waren, eine Notwendigkeit, die durch die aktuelle America first-, Britain first-Politik bereits wieder konterkariert wird.

Noch 1945 erfolgte in San Francisco die Gründung einer Nachfolgeorganisation des Völkerbunds zum Schutz der Menschenrechte, der Sicherung des Weltfriedens und zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit, mit dem Namen United Nations (UN) und dem Hauptsitz in London. (Bezeichnender Weise gab es von Anfang an eine New Yorker Filiale auf dem ehemaligen Weltausstellungsgelände in Flushing Meadows.) Durch eine Veto-Regelung wurde festgeschrieben, dass kein Land gegen seinen Willen in kriegerische Situationen hineingezogen werden konnte. Der Milliardär John D. Rockefeller Jr. kaufte in der Zwischenzeit für 8,5 Millionen Dollar ein ehemaliges Schlachthofgelände zwischen First Avenue und East River und stiftete es den UN, während die Vereinigten Staaten einen zinslosen Kredit über 67 Millionen Dollar für den Bau eines Hauptgebäudes zur Verfügung stellten. Damit war der Umzug der Weltbehörde in die Weltstadt perfekt vorbereitet und US-Präsident Harry S. Truman legte am 24. Oktober 1949, ihrem vierten Geburtstag, den Grundstein. Ein Team aus internationalen Stararchitekten, darunter Le Corbusier und Oscar Niemeyer, fertigte zunächst einen Masterplan für das das aus mehreren Gebäuden bestehende Ensemble, aber die Leitung der baulichen Ausführung oblag schließlich Wallace Harrison, dem Hausarchitekten der Rockefellers. Das auffälligste Gebäude des Ensembles ist das 39-stöckige, 154 m hohe Secretariat Building für die Verwaltung: eine sehr breite, aber dünne Hochhausscheibe, die die Uferzone am East River dominiert. Zu seinen Füßen liegt das General Assembly Building, wo die Sitzungen stattfinden und 1961 kam noch die Dag Hammarskjöld Library hinzu. Rund 10.000 Menschen arbeiten hier und etwa 8.000 Sitzungen finden jährlich statt. Verglichen mit den Art Deco Wolkenkratzern ganz in der Nähe und trotz der berühmten Architekten ist das UN Headquarter kein architektonisches Highlight von New York, ein Eindruck, der bis vor wenigen Jahren noch durch den vernachlässigten Zustand bestärkt wurde, denn seit der Erbauungszeit bis zum Jahre 2010 war der Komplex noch nie renoviert worden. Dieser Mangel wurde mittlerweile behoben und wer sich der komplizierten Eintrittsprozedur unterworfen hat, freut sich schon, an einem Ort zu weilen, wo Weltgeschichte gemacht wird. Dazu kommen die Kunstwerke im Besitz der Vereinten Nationen wie das Buntglasfenster „Peace“ von Marc Chagall in der Lobby des Secretariat Building von 1964 und die Wandmalereien von Fernand Léger in der General Assembly Hall(1952). Dazu im Garten die Bronzestatue „Schwerter zu Pflugscharen“ vom Sowjetkünstler Jewgeni Wutschetitsch (1959), „Non Violence“ (1988) des schwedischen Künstlers Carl Fredrik Reuterswärd (ein Revolver mit geknotetem Lauf) und ein obligates Stück der gefallenen Berliner Mauer.

11 Wolkenkratzer

Bauweise

Nichts anderes ist stärker mit New York konnotiert als der Wolkenkratzer, für dessen Entstehung zwei Voraussetzungen in den USA bereits vorhanden waren. Das war einesteils der Wandel in der Bautechnik vom Baustein zu Beton und Stahl und andererseits der Boom im Immobiliensektor. Als es gegen Ende des 19. Jh. endlich gelungen war, die Grundidee der Gotik, nämlich die Last eines Bauwerks auf nur wenige tragende Punkte zu konzentrieren, mit der Verwendung der genannten modernen Materialien zu verschmelzen, wurde der Bau von Wolkenkratzern möglich. Dazu bediente man sich der Stahlskelett-Bauweise, die auf tragende Außenmauern verzichtete und die Last der einzelnen Geschosse auf einem Gestell von Stahlelementen verteilte, die miteinander vernietet und verschweißt wurden. Die ihrer Tragefunktion entkleideten Wände konnten jetzt mit leichten Materialien sehr flexibel konstruiert werden, durch Glas ersetzt oder ganz weglassen werden. Je höher man hinaus wollte, desto teurer wurde solch ein Bau allerdings, denn man benötigte riesige Mengen an Material, sehr hohe Kräne zum Transport desselben an seinen Bauplatz, aufwändige Fahrstühle anstelle von Treppen und außerdem stiegen die Kosten für die Versorgung eines solchen Hochhauses mit Energie und Wasser mit jedem Meter. Diesen erhöhten Finanzbedarf konnte man nur in boomenden Geschäftsvierteln und in Gegenden, wo der Baugrund knapp und begehrt war, erwirtschaften. Da sich in den Jahren von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg New York zur Weltmetropole mit rasant steigender Bevölkerungszahl entwickelte, mit enormem Wirtschaftswachstum und unglaublichem Bauboom, war genau hier der Platz, wo sich die neue Bauweise durchsetzte. Durch die Insellage von Manhattan war der Baugrund limitiert und bei ins Unermessliche steigenden Immobilienpreisen bot es sich geradezu an, in die Höhe zu bauen. Auch in anderen Industriestädten wie Chicago und Philadelphia gab es ähnliche Bedingungen, so dass auch dort schon früh Wolkenkratzer entstanden. In New York begann diese Entwicklung in Midtown, um die 42. Straße, und bald darauf auch in Downtown im Süden. Mittlerweile wird in New York überall, wo Neues entsteht, in die Höhe gebaut, deshalb gibt es mittlerweile auch eine Skyline in Brooklyn, in Queens am East River und auf der anderen Seite des Hudson in New Jersey. Das Baumaterial der Gegenwart, der Beton, setzte sich auch im Hochhausbau durch und als man die Spann- und Stahlbeton-Bauweise entwickelt hatte, konnten die Bauwerke noch weiter in die Höhe wachsen. Unter dem Einfluss von Mies van der Rohe und seiner Lehrtätigkeit am Illinois Institute of Technology (IIT) in Chicago setzte sich die gläserne Vorhang-Fassade und die kubische Form der Gebäude durch und da die meisten modernen Architekten den Slogans form follows function und less is more folgten, entstanden jahrelang relativ gesichtslose, schwer voneinander unterscheidbare Hochbauten. Das hat sich glücklicherweise in den letzten Jahren geändert, so dass die neu entstehenden Wolkenkratzer wieder individuellere Züge tragen. Meine Vorliebe gilt dennoch den Gebäuden aus den 20er bis 40er Jahren, weil die Architekten dieser Zeit noch künstlerische Ambitionen hatten. Bevor die Vorhangfassade aus Glas Standard wurde, verblendete man die Gebäude gern mit Ziegel- oder Hausteinfassaden, die viel Platz für Gestaltung im Stil des Art Déco ließen.

Chrysler Building

Eine Ikone dieses Stils ist das Chrysler Building, das von 1928 bis 1930 – also mitten in der Weltwirtschaftskrise – vom Gründer des gleichnamigen Automobilkonzerns, Walter P. Chrysler, erbaut wurde. Großprojekte waren damals von der Krise weit weniger betroffen, denn geplant und finanziert wurden sie ja bereits mehrere Jahre früher, als die Wirtschaft noch boomte. Für die Investoren sprang sogar noch ein Vorteil heraus: Durch die sinkenden Löhne während der Depression konnten wesentlich mehr Bauarbeiter eingestellt werden, die das Projekt in Rekordzeit fertig stellten. Dem Automobilkonzern Chrysler gehörte das Gebäude nie, denn W. P. Chrysler ließ es als private Kapitalanlage auf eigene Kosten errichten. Chrysler gehörte zur Mehrheit der New Yorker mit Migrationshintergrund, denn seine Familie war schon 1709 aus Deutschland in die USA eingewandert und schrieb sich ursprünglich Kreißler, was ihnen im Laufe der Jahre zunehmend unamerikanisch vorkam. Deshalb passten sie ihren Namen einige Generationen später der angelsächsischen Rechtschreibung an. Das Chrysler Building liegt an der Ecke Lexington Avenue und war bei der Einweihung mit 319m das höchste Gebäude der Welt; heute reicht das gerade noch zum siebthöchsten Wolkenkratzer New Yorks. Nur 11 Monate konnte es sich im Ruhm des Weltrekords sonnen, als auch schon das Empire State Building mit 381m Gebäudehöhe und einer Antennenspitze von 62m diese Position übernahm. Die Gebäudehöhe war bei einem Wolkenkratzer ein wichtiges Vermarktungsmerkmal, deshalb scheuten sich die Architekten nicht, dabei gegebenenfalls ein wenig zu mogeln. Die Rekordhöhe des Empire State war nur durch das Aufsetzen der Spitze zustande gekommen und so hatte es auch bereits der Architekt des Chrysler, William Van Alen, gehalten. Die 77 nutzbaren Geschosse des Bauwerks waren 282m hoch und erst durch die Art Déco Bekrönung wurde es auf die Rekordmarke gebracht. Während des Baus hatte sich Van Alen einen Wettkampf mit dem Ex-Partner seines Architekturbüros geliefert, dessen neues Projekt, die Manhattan Bank, ebenfalls New Yorks höchstes Gebäude werden sollte. Beide Wolkenkratzer wurden zur gleichen Zeit hochgezogen und die beiden Architekten beäugten misstrauisch den Baufortschritt des jeweils anderen. Als das Chrysler mit 282m scheinbar fertig war, genügten dem Konkurrenten 283m für die Manhattan Bank, um ihm den ersten Platz zu sichern. Doch Van Alen hatte versteckt im Innern des Chrysler die künstlerisch gestaltete Stahlspitze vormontieren lassen und setzte sie nun, nach der Einweihung des anderen, seinem Gebäude auf. Aber, wie schon gesagt, nur 11 Monate später war der Rekord bereits wieder futsch. Der Schönheit der Architektur konnte das aber nichts anhaben, noch heute behauptet sich das Chrysler inmitten weit höherer Bauten. Da ist einerseits die fünffache Staffelung des Turmdurchmessers von einem massiven Fundamentblock über mehrere Rücksprünge bis zu dem in die Höhe schießenden Schaft und andererseits die unverwechselbare Art-Déco Spitze. Die genutzten Obergeschosse des Wolkenkratzers werden in jeder Himmelsrichtung durch Rundbögen abgeschlossen, über denen sich fünf weitere solcher Scheiben erheben. Sie können hinterleuchtet werden und verleihen dem Chrysler auch nachts sein charakteristisches Aussehen in der Skyline von Manhattan. Am Rand des Daches sind, wie in der Gotik üblich (und hier mit demselben Begriff gargoyles benannt), wasserspeierartige Figuren angebracht, die sich in ihrem Design aber eher an den Kühlerfiguren der damaligen Chrysler-Modelle orientieren. Die (nachgeholte) Inaugenscheinnahme der Lobby und der Fahrstühle des Gebäudes ist für mich ebenfalls ein Kunstgenuss: Raffinierte Lichtarchitektur und erlesene Marmorpaneele in der Lobby und die einzigartigen Art-Déco Fahrstuhltüren.

Cathedral of Commerce: Woolworth Building

Genau so ins Schwärmen wie beim Chrysler- kommt man auch beim Woolworth-Building, obwohl es (schon seit 1945) ebenfalls nicht öffentlich begehbar ist. Es liegt downtown am Broadway, gegenüber dem City Hall Park und entstand 16 Jahre vor dem Chrysler, was man seiner Architektur auch deutlich ansehen kann. Aus einem massiven, u-förmigen Kern erwächst ein 241m hoher Turm, zur Bauzeit im Jahre 1912 der höchste der Welt. Seine moderne Stahlskelettkonstruktion wird dadurch verborgen, dass vier gemauerte Strebepfeiler an jeder Seite suggerieren, dass sie und nicht das unsichtbare Stahlgerüst im Innern die Fassade tragen. An ihren oberen Enden laufen sie in kleine Türmchen aus, die den Fialen der Gotik ähneln. Überhaupt bezieht sich das durch und durch moderne Gebäude in vielen Details auf gotische Architektur, weil Baumeister Cas Gilbert und sein Auftraggeber, Kaufhauskönig Woolworth, diesem historischen Baustil sehr zugetan waren, deshalb bekam der Bau auch schnell den Namen „Cathedral of Commerce“. Das absolute Highlight des Woolworth-Building ist seine mehrere Stockwerke einnehmende Lobby mit Marmorvertäfelungen, Mosaiken, gotischen Schmuckelementen und einer leuchtenden Decke aus Buntglas-Scheiben. Am Betreten dieser Lobby durch den kathedralenartigen Haupteingang werde ich durch den doorman gehindert, deshalb mogle ich mich durch einen Seiteneingang hinein, werde aber, sobald ich die Lobby erreicht habe und wie wild knipse, rabiat rausgeworfen und bekomme deshalb die wahrscheinlich sehr sehenswerten Fahrstühle überhaupt nicht zu Gesicht.

Empire State Building

Das Empire State Building gehört zu den drei Wolkenkratzern, die ich virtuell „bestiegen“ – realiter allerdings befahren – habe oder noch genauer, auf die ich im Schnellaufzug hinauf katapultiert wurde. An einem Tag mit wunderbarstem Sonnenschein und blauem Himmel bin ich gerade auf der 5th Avenue unterwegs, als ich auf die Ticketverkäufer für das Observation Deck des Empire State stoße, die wie die Geier auf Touristen lauern um ihnen tickets all inclusive, skip the line oder was weiß ich, für welche anzudrehen. Das bringt mich darauf, mal nachzuschauen, wie lang denn die Warteschlange überhaupt ist und – Überraschung: Es gibt keine! In Erwartung wunderbarster Fotos bei diesem Wetter entscheide ich mich augenblicklich für den „Aufstieg“, zahle 36 $ Eintritt, nehme zähneknirschend die (nur) 2 $ Rentnerrabatt in Anspruch und kämpfe in der wunderbaren Art-Déco Lobby erst einmal gegen die vielen Prof-Fotografen an, die genauso geierartig wie eben noch die ticketseller den Besuchern weitere Dollars aus der Tasche ziehen wollen – für Bilder, die man heutzutage als Selfie für lau macht. Dann endlich geht es in dem von einem real existierenden Fahrstuhlführer (den ich für seinen öden Job zutiefst bedaure) handbedienten express lift rasant aufwärts. Als ich auf die Aussichtsterrasse heraustrete, muss ich mich für meinen Entschluss einfach beglückwünschen: Zweifellos hat man von hier oben den besten Blick auf New York, denn man befindet sich ziemlich genau im Zentrum von Manhattan und ist von allen berühmten Wahrzeichen gleich weit entfernt. Zuerst fällt einem im Norden das riesige grüne Rechteck des Central Park mit dem Reservoir und dem Harlem Meer in die Augen und man registriert erstaunt, dass sich die Stadt dahinter endlos weiter erstreckt und schließlich im Dunst verschwindet. Dann die großen Wasserläufe, im Osten der East River mit dem Häusermeer von Queens und Brooklyn auf Long Island, im Westen der Hudson mit der Skyline von New Jersey und im Süden die Wolkenkratzer von Downtown Manhattan mit der neuen Stadtkrone, dem One World Trade Center. Am eindrucksvollsten ist, dass man sich hier selbst inmitten zahlloser Wolkenkratzer befindet, auf die man hinabblickt, weil das Empire State immerhin noch das iebthöchste Gebäude New Yorks ist. Die bereits beschriebene Ästhetik des Chrysler Building kommt von diesem Platz aus besonders zur Geltung. Noch ganz trunken von dem Anblick beschließe ich spontan, meine jüngste Enkelin auf alle drei Ikonen der New Yorker Wolkenkratzer (Empire State, Rockefeller Center, One World Center) zu lotsen, weil ich gelesen habe, dass die Eingeborenen dieser Stadt weder die Statue of Liberty noch die berühmten skyscrapers jemals besuchen, es sei denn, sie müssen ihren Besuch dorthin begleiten. Beim erneuten Besuch haben wir leider nicht mehr das „Kaiserwetter“ vom letzten Mal, aber der „Aufstieg“ ist doch immer wieder lohnend. Mit Befriedigung verfolge ich, wie die Vogelschau von hier oben das geographische Verständnis der Enkelin fördert, insbesondere als sie mir ihren Schulweg aus der Mitte der amorphen Landmasse von Queens über den East River hinüber in den Nordostteil von Manhattan zeigt. Fantastisch ist der Blick auf die sich verjüngende Spitze des Empire State und den für die damalige Rekordhöhe sorgenden Antennenmast, beides in edlem Art-Déco. Der Mast war einst als Andockstation für Luftschiffe gedacht, eine Schnapsidee, von der man schleunigst wieder Abstand nahm, nachdem man den ersten Testversuch mit einem kleinen Luftschiff wegen der hier herrschenden Turbulenzen abgebrochen hatte. Und erhebend das Gefühl, auf einem Gebäude zu stehen, das 42 Jahre lang das höchste der Welt war und das nicht zuletzt durch den Film „King Kong“ jedem Kind auf der Erde ein Begriff ist. Ebenso unvergesslich die Aufsehen erregenden Fotos der schwindelfreien Mohawk-Indianer, die beim Bau das Stahlgerüst zusammen nieteten und sich in über 300 Metern Höhe Baumaterial und Werkzeuge zuwarfen. Die Spitze wird seit 1964 von Einbruch der Dunkelheit bis Mitternacht in der Regel weiß beleuchtet. Bei besonderen Anlässen gibt es verschiedene Farben, zum Beispiel rot-weiß-blau für US-Feiertage, rot-grün in der Weihnachtszeit, rot am Valentinstag, grün am St. Patrick’s Day, pink am Christopher Street Day und sogar einmal jährlich in den deutschen Nationalfarben, am Tag der Steuben Parade.

Rockefeller Center

14 Straßen weiter nördlich, ebenfalls auf einem Grundstück, das seitlich an die 5th Avenue grenzt, befindet sich der Komplex des Rockefeller Center. Der Ölmilliardär John D. Rockefeller II startete dieses Entwicklungsprojekt Ende der 20er Jahre unter anderem aus dem Motiv, der Metropolitan Opera endlich einen repräsentativen Neubau mit ausreichender Anzahl von Logen für betuchte Leute (wie ihn selbst) im Zentrum der Stadt zu verschaffen. Rockefeller förderte das Projekt durch Anmietung teurer Grundstücke aus dem Besitz der Columbia University. Aber der Börsenkrach von 1929 bewog die private Betreibergesellschaft der Met, ihr Neubau-Vorhaben aufzugeben (erst 1969 realisierte sie ihr neues Haus im Lincoln Center) und Rockefeller musste eine neue Vermarktungsstrategie für sein bereits begonnenes Projekt finden. Ab 1931 ließ er es mit einem völlig neuen Typus New Yorker Geschäftshäuser bebauen: Anstelle eines einzigen Turmhochhauses, wie noch beim Empire State Building, baute er auf einem riesigen Areal von der 49th bis zur 51st Street und von der 5th bis zur 7th Avenue zwanzig unterschiedliche Gebäude. Sie unterschieden sich vom klassischen Wolkenkratzer durch ihre Form als breite aber dünne Hochhausscheiben. Dadurch kam mehr Licht ins Innere der Gebäude; verschiedenartige Nutzungen vom Wohnen über Büros bis zu aufwändigen Firmensitzen sollten so ermöglicht werden. Das gelang ihm viel besser als den Erbauern des Empire State Building, die lange Zeit nur Einnahmen durch das Observation Deck erzielten, Rockefeller dagegen hatte Mieter wie General Electric (GE), Radio Corporation of America (RCA) und heute Comcast, den größten Kabelnetzbetreiber, zweitgrößten Internetdienst und drittgrößte Telefongesellschaft der USA. Die Gebäude sind – der Zeit entsprechend – im Art-Déco Stil gehalten, allerdings mehr beim Dekor als in der Architektur, die durch die oben beschriebene neue Hochhausform schon vorgegeben war. Kunstwerke des berühmten mexikanischen Malers Diego Rivera wurden in den verschiedenen Lobbies und Eingängen angebracht und Lee Lawrie, der in Rixdorf (Berlin-Neukölln) geborene Art-Déco Künstler, trug eine Fülle von Reliefs und Skulpturen wie den bekannten Atlas bei. Ein originales Segment der Berliner Mauer quetscht sich unauffällig in eine Lücke zwischen den vielen Gebäuden.

Das heutige Comcast Building (damals RCA) ist das bekannteste Gebäude des Centers und steht mit 259 Metern Höhe und 70 Stockwerken auf Platz 18 der Wolkenkratzer in New York City. Außer der Aussichtsplattform Top of the Rocks beherbergt es das Hauptquartier der Radiosender NBC und MSNBC sowie Studios der Fernsehanstalt, wo die NBC Nightly News und weitere bekannte Produktionen der NBC aufgezeichnet bzw. gedreht werden; aber auch General Electric unterhält hier Büros. Angesichts des immer sehr regen Besucherverkehrs habe ich die Eintrittskarten für Top of the Rocks schon am Tag vorher gekauft, deshalb können wir die Fahrt nach oben ohne Wartezeiten antreten. Wie schon beim zweiten Besuch des Empire State Building ist das Wetter nicht prickelnd, Nieselregen und dichte Wolken, aber – ein Beweis für das Faszinosum Wolkenkratzer – egal bei welchem Wetter, man ist immer wieder überwältigt von der Agglomeration der Hochbauten, dem Anblick der Metropole von oben, dem Wasser des Hudson und East River um uns herum und der grünen Insel des Central Park.

Vor dem Gebäude befindet sich die Rockefeller Plaza mit der Prometheus-Statue und der berühmten Winter-Eisbahn. Ursprünglich sollte hier die Eingangspassage zu den Geschäften im Untergeschoss entstehen, als man diese Planung aber wegen der damaligen Wirtschaftskrise aufgab, entstand die Idee, die Plaza je nach Jahreszeit öffentlich zu nutzen. So kam es zur Nutzung als Konzertplatz im Sommer und als Eislaufbahn im Winter, wodurch der private Platz mitten im Rockefeller Center zur sozialen Begegnungsstätte zwischen Arm und Reich im Herzen New Yorks wurde – in dieser teuren Geschäftsgegend eine große Besonderheit! Zur Weihnachtszeit wird hier der riesige Weihnachtsbaum aufgestellt; die norwegische Fichte erhebt den Anspruch, der größte der USA zu sein. An seiner Spitze ist ein fast 3 m großer und mit 25.000 Kristallen besetzter Stern von Swarovski angebracht und der New Yorker Bürgermeister entzündet – nun ja, knipst an – alljährlich die etwa 30.000 Lichter des Baumes in der Tree Lighting Ceremony.

Radio City Music Hall

Gegenüber dem Hauptgebäude des Rockefeller Center (und zu ihm gehörend) liegt die Radio City Music Hall mit ihrer eindrucksvollen Art-Déco Fassade. Sie wurde in den 1920er Jahren als Konzertsaal für Radioübertragungen erbaut und galt damals als Ikone des neuen Mediums. 1932 baute man sie zum Theater um, da das Genre des hochklassigen Varietés wiederbelebt werden sollte. Trotz der spektakulären Bühnenshow zur Eröffnung wurde das Ganze jedoch nicht der erhoffte Erfolg, deshalb verwandelte man das Haus anschließend in das mit 5.933 Plätzen weltgrößte Filmtheater seiner Zeit. 1933 wurde auf einer riesigen Leinwand der erste Film gezeigt und bis 1979 gab es dort vier Mal am Tag Filme, die von Live-Darbietungen umrahmt wurden. 1980 baute man die Halle erneut um und nutzt sie heute nur noch gelegentlich als Kino, der Fokus liegt jetzt auf Shows, Konzerten und alljährlich dort stattfindenden awards, wie die MTV Video Music Awards und die Verleihungen der Tony Awards, der Preise für die besten Musicals und Theaterstücke am Broadway. Die Showtanzgruppe The Rockettes der Radio City Music Hall gilt als eine der besten der Welt. Ihre bekannteste Nummer ist die „Parade der Holzsoldaten“ aus der Weihnachtsshow „Radio City Christmas Spectacular“, die aber auch in den meisten übrigen Shows gezeigt wird.

One World Trade Center

Lower Manhattan wird dominiert durch den Polyeder des One World Trade Center, der sich auf dem Areal befindet, auf dem sich am 11.09.2001 der bisher schwerste Terroranschlag der Geschichte ereignete. Seit der Zerstörung des alten World Trade Center hat sich für das Gelände der Begriff Ground Zero eingebürgert, der der Militärsprache entlehnt ist und eigentlich den Bodennullpunkt meint, an dem eine Bombe explodiert und wo die größten Schäden entstehen. Seit dem Einsturz der Twin Towers hat sich der Terminus, der bisher überwiegend im Zusammenhang mit Atombombenexplosionen gebraucht wurde, auf den Ort von 9/11 erweitert. Unmittelbar nach dem Anschlag verkündete die Stadt New York, dass Ground Zero wieder bebaut werden solle, jedoch verharrte der Besitzer des Areals, die NY Port Authority (städtische Hafenbehörde), zunächst in einer Art Schockstarre, bis 2002 ein Architekturwettbewerb für die Wiederbebauung des WTC-Areals ausgelobt wurde, den Daniel Libeskind 2003 gewann. Der Architekt hatte zuvor erst ein Gebäude (das jüdische Museum in Berlin) verwirklicht und galt im Hochhausbau als unerfahren. Den Ausschlag für seinen Entwurf hatte dessen Symbolträchtigkeit gegeben, denn Libeskind wollte den Grundriss der Twin Towers unbebaut lassen um dort eine Gedenkstätte zu schaffen. Statt der Doppeltürme plante er nur einen Wolkenkratzer mit dem Namen Freedom Tower, der eine rekordverdächtige Höhe von 1776 Fuß erreichen sollte, wobei sich diese Zahl auf das Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung bezog. Libeskinds Entwurf für den Freedom Tower, ein in sich verdrehter Quader auf quadratischem Grundriss, wies eine auskragende Spitze auf, die Assoziationen an den Arm der Freiheitsstatue erwecken sollte, die bekanntlich die Fackel der Freiheit trägt.

Je näher es an die Umsetzung dieser Pläne ging, desto deutlicher wurde, dass das World Trade Center – wie schon sein Vorgänger – ein kommerzielles Unternehmen ist, bei dem Vermietbarkeit, Preisniveau und Gewinnerwartung höherrangige Kriterien darstellen als Symbolkraft und künstlerische Qualität des Entwurfs. So rückte man schrittweise vom Wettbewerbssieger wieder ab, indem man ihn zum reinen Masterplan-Architekten degradierte und ihm „ausführende“ Baubüros vor die Nase setzte, darunter das des Architekten Child, welches zwar im Wettbewerb gegen ihn verloren, aber den damals welthöchsten Wolkenkratzer (Burj Khalifa) gebaut hatte. Die Freiheit verschwand aus dem Namen des Turms, der nun, wie schon der erste der beiden Twin Towers, One World Trade Center heißt. Libeskinds verdrehter Quader wurde zu einem kristallinen Gebilde umgemodelt, einem so genannten Antiprisma: Auf dem Quadrat der unteren Turmhälfte erhebt sich – um 90 Grad verdreht – das etwas kleinere der oberen, wobei sich als Übergänge zwischen den beiden Bauteilen acht lange, über das gesamte Bauwerk reichende Dreiecke ergeben, schmal, wenn ihre Spitzen nach unten und breit, wenn sie nach oben zeigen. Auf der oberen Plattform steht eine runde Metallkonstruktion zur Verankerung der Halteseile für die Mastspitze, die das Gebäude auf 1776 Fuß Gesamthöhe bringt. Der beiseite geschobene Wettbewerbssieger ertrug seine Niederlage tapfer und tröstet sich damit, dass „wesentliche Teile“ seines Entwurfs ja realisiert seien, die 9/11 Gedenkstätte und die 1776 Fuß Höhe. Mit fast 4 Mrd. $ Kosten ist das One World Trade Center aktuell das teuerste Gebäude der Welt und dem entsprechend sind die Mieten, die hier gezahlt werden – allein für das Observation Deck ca. 900 Mio $ für zehn Jahre, was Eintrittspreise von 30 – 50 $ pro Person erfordert.

Dafür wird einiges mehr geboten als auf dem Empire State und auf Top of the Rocks: Der Fahrstuhl zum Aussichtsgeschoss besteht im Innern komplett aus einem LED-Bildschirm, auf dem während der Aufwärtsfahrt ein Schnellkurs in New Yorker Geschichte abläuft – mit faszinierenden Bildern, die immer realer werden, je höher man kommt. Kurz vor dem Halt hat man den Eindruck, sich in einem gläsernen Aufzug an der Außenseite des Gebäudes zu befinden, von wo aus man schon vorab den atemberaubenden Blick nach unten hat und das bei ständig gleich bleibend gutem Wetter. Vom observation deck ist man zunächst einmal ernüchtert, einer verdunkelten, vollverglasten Etage, auf der man zu weiterem Konsum animiert wird und wo auf den Vorhängen eine weitere Videoprojektion abläuft – doch dann leitet dramatische Musik die plötzliche Öffnung der Jalousien ein. Tageslicht dringt in den Raum und auf allen vier Seiten bieten sich unvergleichliche Blicke nach unten: Auf die Brücken über den East River, allen voran Manhattan Bridge und Brooklyn Bridge; auf die Upper Bay mit Ellis Island und einer winzigen Freiheitsstatue; den majestätischen Hudson River und die Skyline von New Jersey sowie die eindrucksvolle Skyline von Midtown mit dem Empire State und dem Chrysler Building. Beim Stellen der Schneewittchenfrage realisiert man aber auch die Nachteile des OWTC, wie die spiegelnden Scheiben, die vernünftige Fotos verhindern und die fehlende Möglichkeit, ins Freie zu treten. Auch sind die Ausblicke auf die Wolkenkratzer in Midtown spektakulärer, so dass ich mich fürs Empire State Building entscheide.

432 Park Ave

Und zum Abschluss dieses Kapitels noch ein paar Worte zum hässlichsten Hochhaus New Yorks: 432 Park Ave. Das 2016 in Betrieb genommene, extrem schlanke Gebäude (auf einer Grundfläche von 28 x 28m) steht in unmittelbarer Umgebung des Central Park und ist von fast überall in New York aus zu sehen. Mit seiner Höhe von 426m ist es jetzt (2023) das fünfthöchste Bauwerk der Stadt und verdrängt zusammen mit Hudson Yards 30 das Empire State Building auf Platz sieben. Inmitten der vielen Art-Deco Bauten in Midtown kommt das Jämmerliche seiner Architektur besonders zum Ausdruck: Ein monotoner Bauköper auf äußerst schmaler Grundfläche bis hinauf zum Abschluss mit einem banalen Flachdach. Es wird ausschließlich zum Wohnen genutzt, auf 89 Etagen sind insgesamt 104 Apartments untergebracht. Bei Baukosten von etwa 1,25 Mrd US-Dollar rechnete der Investor mit Einnahmen von 3 Mrd $. Eine Dreizimmerwohnung kostete 9,7 Mio $, ein Penthouse schätzungsweise 95 Mio und persönliche, klimatisierte Weinkeller lagen zwischen 159 000 und 378 000 $. Seit der Pandemie stiegen die Betriebskosten um 40 % und als 2021 bekannt wurde, dass der Bauherr auf 250 Mio Schadensersatz verklagt wurde, weil sich gravierende Mängel auftaten, hielt sich das Mitleid mit den Eigentümern in engen Grenzen (auch bei mir). So hatte es mehrere Kabelbrände gegeben, die Aufzüge funktionierten nicht zuverlässig und das Geräusch des Müllschluckers wurde mit der Detonation einer Bombe verglichen.

12 Central-Park

Geschichte

Der Blick vom Empire State Building auf die Nordhälfte von Manhattan zeigt eindrucksvoll, welch großen Raum der Central Park einnimmt. Ab der 59. Straße sind nördlich vier Avenues aus dem Straßenraster ausgespart und bis zur 110. Straße in Harlem erstreckt sich auf 330 ha das Parkgelände, das in Ost-West-Richtung nur von vier Streets gequert wird. (Auch diese will die Stadt übrigens schrittweise stilllegen um die Aufenthaltsqualität im Park zu erhöhen). Als um 1850 die Pläne für einen solchen Park aufkamen, wuchs Manhattan explosionsartig, es hatte bereits über 500.000 Einwohner und die Fläche des späteren Parks war nur deshalb so dünn bebaut, weil der Baugrund ausgesprochen schlecht war: Der größte Teil war sumpfiges Gelände und der Rest glaziale Felsen. Die Durchsetzung des Plans für einen Park war schwierig, weil nicht alle die Notwendigkeit eines solchen Projekts akzeptierten. Viele „Bauhaie“ dachten eher daran, auch den Norden Manhattans mit jenen billigen Unterkünften für Immigranten vollzustellen, wie sie schon massenhaft in Little Italy, Chinatown und der Lower East Side existierten. Grünanlagen, sofern man sie nicht für teures Geld an Millionäre verkaufen konnte, galten ihnen nur als Aufenthaltsplatz für Arbeitsscheue. Fortschrittlich eingestellte Leute beklagten dagegen fehlende Erholungsmöglichkeiten für die Unterschicht, die in engen, überfüllten und ungesunden Massenunterkünften lebte und keine Möglichkeit hatte, ihre spärliche Freizeit in der Natur zu verbringen. Manhattan war ein einziges Bauspekulationsobjekt und die Küstenlinie vollkommen mit Hafenanlagen und Fabriken zugebaut. Die einzigen größeren Freiflächen mit ein wenig Grün waren die Friedhöfe, die infolgedessen intensiv als Freizeitbereich genutzt wurden.

Im ersten Drittel des 19. Jh. entwickelte sich in Großbritannien das Fachgebiet der Landschaftsarchitektur. Dabei ging es um den Entwurf und den Bau von großen Gärten, die den Eindruck von gewachsener Natur hervorrufen sollten. Sehr schnell verbreiteten sich die von Gilbert Laing Mason und John Claudius Loudon erdachten Prinzipien in Europa und erreichten um die Mitte des Jahrhunderts auch die USA. Frederick Law Olmsted und Calvert Vaux sahen Landschaftsarchitektur als eine Gesamtkunst, die die Planung eines Gartens mit Geländemodellierung, Anpflanzung, Bewässerung und Anlage von Wegen sowie Parkarchitektur miteinander verband. 1857 beauftragte das City Council die beiden mit dem Bau des Central Parks als Grünanlage für alle New Yorker. Er sollte – kostenlos benutzbar – Spielplätze, einen Blumengarten, einen See, aber auch einen Paradeplatz und Straßen zur Verbindung der 5. mit der 8. Avenue enthalten. Die Arbeiten begannen 1858; 3000 irische, deutsche und englische Tagelöhner – die Ärmsten unter den vielen Armen New Yorks – kamen zum Einsatz. Für zehnstündiges Schuften pro Tag gab es einen Dollar Lohn. Wochenlang sprengte man Granitfelsen hinweg, wobei mehrere Arbeiter zu Tode kamen. Die Trümmer dienten zum Anlegen künstlicher Berge und 50.000 Kubikmeter Kiesel wurden auf der gesamten Parkfläche verteilt. Man baggerte Seen aus und schüttete mit dem Aushub künstliche Hügel auf. 700 Kilometer Kanalrohre verlegte man als unterirdische Drainage. Anschließend wurde gerodet und neu gepflanzt, insgesamt 240.000 Bäume und Sträucher. Für die gärtnerische Umsetzung von Olmsteds Plänen war der first landscape gardener Ignatz Anton Pilat zuständig, ein aus Wien gekommener Gärtner, dem wir am Madison- und am Washington Square schon begegneten. Das Ganze sollte wie eine gewachsene Naturlandschaft aussehen – ergänzt durch die Architektur von Calvert Vaux: Brücken, Terrassen, Treppen, Brunnen, Tore, Bögen, Zäune, Mauern und nicht zu vergessen die zahlreichen Denkmäler. Es dauerte lange, bis der Park von der gesamten Bevölkerung angenommen wurde. Anfangs nutzten ihn lediglich die Reichen aus der 5th und 8th Avenue als Promenade und zum Ausritt, für die Armen stellte bereits das Fahrgeld von den Elendsquartieren im Süden Manhattans bis hierhin eine zu hohe Hürde dar. Erst mit dem Bau der Subway wurde der Central Park zu dem, was er heute ist, ein Treffpunkt für alle New Yorker.

Denkmäler

Ursprünglich zierten 29 Denkmäler den Park (historische Persönlichkeiten, Literaten, Romanfiguren und Tiere), wovon einige später an andere Orte versetzt wurden. Das Bedeutendste unter ihnen ist Cleopatra’s Needle, ein original altägyptischer Obelisk aus der Zeit Thutmosis III. Bereits die römischen Kaiser hatten als Zeichen ihrer Macht ägyptische Obelisken verschifft und in Rom aufstellen lassen, desgleichen einige Jahrhunderte später der oströmische Kaiser Theodosius in Konstantinopel. In der Renaissance, auf dem Höhepunkt der Macht des Vatikans, ließen die Päpste viele der inzwischen umgestürzten Obelisken in Rom zu ihrem eigenen Ruhm wieder aufrichten. Aber auch noch in der Neuzeit wurden weitere Objekte dieser Art aus den gleichen Gründen aus Ägypten weggebracht. In Erinnerung an Nelsons Schlacht bei Abukir schenkte 1819 der Regent Ägyptens, Muhammad Ali Pascha, dem Vereinigten Königreich einen der zwei Obelisken von Heliopolis aus der Zeit Thutmosis III. Später nach Alexandria verbracht, stürzte er bei einem Erdbeben um und war im Erdreich gut erhalten geblieben. Großbritannien nahm das Geschenk zwar hoch erfreut an, sah sich aber zunächst außerstande die hohen Transportkosten zu bezahlen. (Muhammad Ali machte übrigens noch noch ein weiteres großzügiges Geschenk dieser Art: Den bis 1831 vor dem Tempel von Luxor stehenden Obelisken Ramses II. vergab er an König Louis Philippe, um sich auch das Wohlwollen der Kolonialmacht Frankreich zu sichern; 1836 stellten ihn die Franzosen auf der Place de la Concorde in Paris auf.) Zeitungsberichte über den 60 Jahre nach der ursprünglichen Schenkung endlich erfolgenden Transport und die Aufstellung von Cleopatra’s Needle in London erregten 1878 auch Begehrlichkeiten in New York: „If Paris had one and London was to get one, why should not New York get one?“ schrieben die Zeitungen und präsentierten eine gefälschte Zusage des ägyptischen Statthalters für die Vergabe des zweiten Obelisken von Heliopolis nach New York. Als sich auch Prominente für diese Idee einsetzten (z.B. sagte der Eisenbahnmagnat Vanderbilt die Übernahme der Transportkosten zu) erreichte die normative Kraft des Faktischen, dass auch New York seinen imperialen Obelisken erhielt. Westlich des Metropolitan Museum of Art wurde er 1881 auf einem Hügel im Central Park aufgestellt. Hier ist er in den 130 Jahren seiner Existenz in der Neuen Welt weit mehr verwittert als in den 3000 Jahren zuvor, so dass die ägyptische Altertümerverwaltung bereits Alarm schlug und eine Rückforderung androhte. Kurios ist, dass alle drei Obelisken in Großbritannien, Frankreich und den USA den unzutreffenden Namen „Nadel der Kleopatra“ tragen, obwohl jene hellenistische Herrscherin erst 1400 Jahre nach deren Errichtung geboren wurde.

Das zweite herausragende Denkmal im Park, nicht nur wegen seiner Größe, ist das von Władysław II. Jagiełło. Als Replik des Warschauer Grunwald-Denkmals wurde es von der polnischen Regierung 1939 zur Weltausstellung nach Flushing Meadows in Queens gesandt. Die Schlacht von Grunwald (in der deutschen Geschichtsschreibung: Tannenberg) hat in der polnischen Geschichte eine besonders identitätsstiftende Bedeutung: Mit seinem Sieg über das Heer des Deutschen Ritterordens konsolidierte Władysław das litauisch-polnische Großreich der Jagiellonen, das große Teile Osteuropas umfasste und 186 Jahre lang Bestand haben sollte. Polen galt in dieser Zeit als das Herz Europas, darauf folgte allerdings eine lange Periode des Niedergangs, bis hin zur völligen Auflösung des Staates. Da das 1918 wiedererstandene Polen im Jahr der amerikanischen Weltausstellung und der Verbringung des Denkmals nach New York von den Deutschen erneut ausgelöscht wurde, verblieb die Kopie des Jagiełło quasi herrenlos in Amerika, während die Sieger das Original in Warschau zu Kriegszwecken einschmolzen. Kurze Zeit nach Kriegsende, als es in Polen noch keinen Kommunismus gab, verkaufte die Regierung die in NY verbliebenen Weltausstellungsstücke nach Chicago, bis auf das Jagiełło -Denkmal, das wahrscheinlich wegen seiner unhandlichen Größe New York nicht verließ sondern im Central Park aufgestellt wurde.

Anlässlich des 400. Jahrestages der Landung von Kolumbus auf dem amerikanischen Kontinent schuf der spanische Bildhauer Jeronimo Suñol ein Monument aus Marmor, das 1892 auf der Plaza de Colón in Madrid  eingeweiht wurde. Zwei Jahre später kam es zur Aufstellung einer bronzenen Kolumbus-Statue des gleichen Künstlers im Central Park, die mehr als 120 Jahre unbehelligt an ihrem Standort verblieb. Aber nach dem tragischen Tod des Schwarzen George Floyd bei einem Polizeieinsatz drehte sich die öffentliche Meinung über Denkmäler, die den Kolonialismus verherrlichten und zu denen man jetzt auch die zahlreichen Kolumbus-Statuen überall im Lande zählte. Vielerorts wurden sie beseitigt und gleiches forderte man auch in New York, jedoch entschied die Stadt (mit Unterstützung des Bürgermeisters de Blasio und des Gouverneurs Cuomo) die Statue im Central Park und weitere in New York vor Ort zu belassen. Die Park-Skulptur wurde allerdings 2020 eingezäunt und – zur Verhinderung von Vandalismus – seitdem ständig von der Polizei bewacht.

Unweit von Kolumbus, nördlich der den Park durchquerenden East 66th Street hat Frederick Law Olmsted the Mall angelegt, eine beeindruckende, an das Gewölbe einer Kathedrale erinnernde Ulmenallee. Hier befindet sich der literary walk mit Denkmälern englischsprachiger Literaten wie William Shakespeare, Fitz Green Halleck, Robert Burns und Sir Walter Scott. Sie waren die Antwort auf die Aufstellung einer Schiller Büste (hier kurioser Weise betitelt Johann C. F. von Schiller), gestiftet 1859 von der New Yorker German-American community anlässlich seines 100. Geburtstags. Diese (drei Tage lang gefeierte) erste Aufstellung eines Dichterdenkmals löste einen wahren run anderer Einwanderernationen, wie Dänen, Italiener, Spanier und Lateinamerikaner darauf aus, auch ihre Heroen im Central Park gewürdigt zu sehem. Den Deutschen glückte es noch, Alexander von Humboldt (αuf dem Weg zum Naturkundemuseum) und Beethoven (im Nordteil) zu platzieren, dann waren erstmal andere dran, darunter die Dänen mit ihrer Hans-Christian-Anderson-Statue, die von Kindern beklettert werden darf und an der jeden Samstag Yormittag Märchenvorlesungen stattfinden.

Bekletterbar für Kinder sind auch die Figur von Alice im Wunderland und vor allem die des Huskies Balto, der zum Hundeheros wurde, nachdem er im Winter 1926 als Schlittenhund in Alaska während einer Diphterie-Epidemie die nötigen Medikamente über 1600 km durch Eis und Schnee transportiert hatte. Bei der weiteren Neuaufstellung von Denkmälern zogen die Park-Verantwortlichen allerdings erst einmal die Notbremse indem sie solche bürokratisch erheblich erschwerten. Erst nach 50jähriger Pause ist mit dem Women‘s Rights Pioneers Monument erstmals wieder eine neue Gedenkstätte angelegt worden (in der Nähe des literary walk).

Niedergang

In fast allen Jahren seiner Existenz haben die New Yorker den Central Park gepflegt und weiter verschönt. Aber in den Siebzigern, während des strukturellen Haushaltsdefizits der Stadt, wurde nichts mehr investiert und er verkam zusehends. Der Personalabbau bewirkte, dass sich organisierte Kriminalität breit machte und die Anlage zum Drogenumschlagplatz wurde. Man riet Fremden vom Betreten (insbesondere im Dunkeln) ab und empfahl, falls man den Besuch doch wagen sollte, für den Fall eines Raubüberfalls 20 $ (und keinesfalls mehr!) bereitzuhalten, um nicht dem Wutanfall eines mobsters wegen mangelnder Beute anheimzufallen. Nicht nur Giulianis Maßnahmen haben in den letzten 20 Jahren diese unhaltbare Situation abgestellt. Es wurde wieder Personal eingestellt und heute widmen sich viele Freiwillige der Arbeit im Park. Auch sieht man deutlich das Bemühen, Geld für die Unterhaltung und Restaurierung einzuwerben und auszugeben.

Parkspaziergang

Bei früheren Besuchen hatten wir stets den Haupteingang an der 5th Avenue/59th Street benutzt und waren wegen der großen Entfernungen und der vielen Sehenswürdigkeiten nur bis zu The Lake und zu Bethesda Fountain gekommen, dem zwar schönsten, aber auch überlaufensten Teil im Zentrum des Parks. Diesmal wollen wir in die nördlichen Teile und betreten ihn von der Subway Station Museum of Natural History aus. Hätten wir auf so etwas Appetit gehabt, hätten wir an einem gegenüber dem Museum stehenden Imbisswagen einen Dinosaur Burger erstehen können. Das nördliche Parkdrittel wird vom Jacqueline Kennedy-Onassis Reservoir dominiert, einem riesigen Wasserbecken, das vom Ost- bis zum Westrand reicht und recht öde aussieht, weil hier wegen des vielen Wassers kein Platz für Grün ist. Um das Becken herum – das übrigens niemals der Wasserversorgung diente, weil New York genügend gutes Trinkwasser aus upstate NY bezieht – erstreckt sich ein Reitweg und ein Joggingpfad, der von vielen Prominenten genutzt wurde – so auch von Jackie Kennedy. Da sie sich stets bürgerschaftlich für die Metropole (sie verhinderte u. A. den Abriss der Grand Central Station) und ganz besonders für den Park eingesetzt hatte, gab man 1994 The Reservoir ihren Namen. Aus gusseisernen Bruchstücken, gefunden auf dem Grund des Beckens, konnte man die Form seines Begrenzungszauns aus der Erbauungszeit rekonstruieren und ihn erneuern. Da auch der Rest des nördlichen Parks mit seinen großen Wiesenflächen mit dem Zentrum nicht mithalten kann, kehren wir reumütig dahin zurück und erfreuen uns am Wald (The Ramble), dem See (The Lake) und dem Schloss (Belvedere Castle).

Der Park ist an diesem schönen Sommerwochentag ziemlich voll, ähnlich dem Berliner Tiergarten an den Wochenenden. Mir fällt auf, dass sich viele zum Mittagessen auf den Parkbänken niederlassen und ihr fast food aus Plastikbehältern löffeln. Die Sauberkeit des Parks ist (wahrscheinlich seit Giulianis broken windows Kampagne) erstaunlich und überall sieht man abgezäunte Bereiche, wo Rasenflächen regeneriert oder neu angelegt werden. Gemäß den Regeln der englischen Landschaftsgärtnerei entstehen an jeder Biegung des Wegs immer wieder neue und überraschende Durchblicke, hier in New York angereichert durch verblüffende Aussichten auf Wolkenkratzer. Im westlichen Central Park ist das San Remo das dominierende Gebäude, ein Luxus-Wohnpalast von 1930 mit zwei barocken Doppeltürmen. Nach dem Parkbesuch wollen wir uns diesen Millionärsghettos widmen. Bei jedem Besuch stellt man immer wieder fest, dass der Park New Yorks Zierde ist, eine völlig durchgestylte, aber dennoch natürlich wirkende Landschaft mit Tälern, felsigen Höhen und Seen, die durch die vielen Denkmäler, Kioske und Pavillons aufgepeppt wird. Am ganz entzückenden gusseisernen Ladies Pavilion mit Blick auf The Lake werden wir Zeuge einer romantischen Geschichte: Ein deutschsprachiges Ehepaar bittet mich, ein Foto von ihnen zu machen und erzählt dabei, dass sie vor 10 Jahren in ebendiesem Gebäude geheiratet haben. Ein Friedensrichter wurde herbestellt und nahm die weltliche Zeremonie nur für sie beide vor, während die kirchliche Trauung und das große Hochzeitsfest in Deutschland stattfanden. Jetzt sind sie aus nostalgischen Gründen an diesen Ort zurückgekehrt und ich darf das Beweisfoto knipsen. Der so romantische Pavillon von 1871 gehört allerdings nicht zur originalen Park-Möblierung von Calvert Vaux, er stand ursprünglich am Eingang und diente ganz profan als Wartehalle für Besucher, die mit dem Bus kamen. Erst 1920 versetzte man ihn an den jetzigen Ort.

Vom Hunger getrieben lassen wir uns bei Mineral Springs, einem Imbiss im Park, nieder und fuchteln mit den Händen so lange nach einer Bedienung, bis uns jemand darüber aufklärt, dass hier der self service Bereich ist. Wir holen uns also von Pain Quotidien ein belegtes Baguette, das trotz des renommierten Herstellers eine gewisse Gummi-Konsistenz aufweist und begeben uns anschließend zu den Mietskasernen für Millionäre am Rand des Parks. Auf dem Weg zum Ausgang passieren wir noch die Strawberry Fields, die Yoko Ono 1985 – an seinem fünften Todestag – zum Gedenken an John Lennon anlegen ließ. Der Musiker, an dessen Song Strawberry Fields Forever der Name der Gedenkstätte erinnert, wäre am Einweihungstag 45 Jahre alt geworden. Im Zentrum der Anlage befindet sich ein kreisförmiges, von der Künstlerin entworfenes und von italienischen Handwerkern in altrömischem Stil ausgeführtes Schwarz-Weiß-Mosaik, in dessen Zentrum der Titel von Lennons berühmten Friedenslied Imagine eingelegt ist. Hier treffen sich auch heute noch jedes Jahr viele Menschen an seinem Todestag. Anlässlich seines 70. Geburtstags wurde eine Bronzeplatte mit den Namen der 121 Staaten in den Boden eingelassen, die 1985 die Idee einer Gedenkstätte im Namen des Friedens unterstützten.

13 Teuflisches im Dakota

Millionärsghettos

Zeitgleich mit dem Central Park entstand auch die ihn umgebende Randbebauung, Villen für begüterte New Yorker an der 5. und 8. Avenue, die den Park als Promenade und zum Ausritt nutzten. Das Museumsgebäude der heutigen Frick-Collection, ursprünglich das Privatpalais von Henry Clay Frick, einem ebenso skrupellosen wie superreichen Kohle- und Stahlmagnaten, gibt heute noch einen Eindruck vom damaligen Lebensstil jener Gesellschaftsschicht. Mit der zunehmenden Verdichtung Manhattans entstand auch in diesem Viertel der Druck, in die Höhe zu bauen. Anstelle der Privatvillen am Rand des Parks plante man nun Apartment-Häuser für die Oberschicht, eine neue Wohnform, die aus England übernommen wurde. Anders als bei gewöhnlichen Mietwohnungen sollten diese Appartements jeden erdenklichen Luxus aufweisen und auch in Größe und Raumhöhe dem entsprechen, gewissermaßen eine Kombination von 5 Sterne Hotel und Privatresidenz.

Der Eigentümer des Nähmaschinenkonzerns Singer war der Erste, der 1880 in ein solches Projekt investierte. Zu dieser Zeit war Uptown New York noch ganz dünn bebaut, so dass Kritiker witzelten, das Gebäude entstünde „draußen bei den Indianern“. Die Investoren nahmen den Scherz auf, nannten den Baukomplex „The Dakota“ und ließen einen großen Indianerkopf im Dachgiebel hoch über dem Eingang einmeißeln. Auf 8 Etagen eines 4-Flügel-Baus, der das ganze Karree zwischen 72. und 73. Straße einnimmt, entstanden 65 Apartments, einige bis zu 300 m2 groß. Man dinierte im hauseigenen Speisesaal (der auch zum Ballsaal umfunktioniert werden konnte) oder ließ sich das Essen im Speiseaufzug von der Küche im Souterrain in die Wohnung schicken. Der Architekt, der auch den Plaza-Komplex am südöstlichen Eingang des Central Parks entwarf, wählte für das Dakota englische Renaissance-Formen. Im Innenhof gab es einen Tennisplatz und ein Crocket-Spielfeld, auf dem Dach eine geräumige Terrasse mit Blick über den Central Park. Die Stromversorgung übernahm ein hauseigenes Elektrizitätswerk. Die zahlreichen Bediensteten waren im 9. Geschoss und direkt unter dem Dach untergebracht. Weil jedoch das Projekt nie profitabel betrieben werden konnte, wandelte man es 1960 in ein Eigentümermodell mit co-ops um (eine spezielle Form der Eigentumswohnung mit bindender Satzung für alle Bewohner) und nutzte auch die für die Bediensteten vorgesehenen Flächen zum Bau weiterer Apartments. Heute enthält das Dakota 105 Wohnungen, es ist ein echtes Ghetto für Millionäre, denn mindestens ein solcher muss man sein, um sich hier einkaufen zu können. Die Preise pro Apartment rangieren von 2 bis 21 Mio Dollar, doch nicht jeder, der das zahlen kann, wird auch von der Hausgemeinschaft akzeptiert. So wurden z. B. Cher, Billy Joel und Madonna als Bewerber abgewiesen.

Teuflisches

Als Kulisse für seinen Horrorklassiker „Rosemary’s Baby“ erschien diese location dem Regisseur Roman Polanski als absolut unverzichtbar, obwohl er im Innern – wegen der prominenten Bewohner – gar nicht drehen durfte. So nutzte er das Original nur für Außenaufnahmen und baute die im Film vorkommende Wohnung im Studio nach. Aber um die Grundidee des Films – eine Gruppe von Satanisten holt den Teufel auf die Erde – „überzeugend“ umzusetzen, bedurfte es schon dieses besonderen Ambientes. Der nun einmal herbei beschworene Höllenfürst ließ Polanski nach dem grandiosen Erfolg seines Films keine Ruhe mehr: Zunächst ritt er ihn, als er eine Dreizehnjährige missbrauchte – eine Tat, die seinen Ruhm als Künstler arg beschädigte und ihn in verschiedene Exile nötigte; in die USA kann er wegen Verhaftungsgefahr seitdem nicht mehr zurück. Und dann suchte er ihn auch noch in Gestalt von Charles Manson heim, der eine Gruppe Drogenabhängiger (seine „Familie“) dazu anstiftete, Polanskis schwangere Frau Sharon Tate und einige ihrer Freunde in ihrem Quartier in Kalifornien bestialisch umzubringen. Der „Teufel“ Manson wurde dafür zum Tode verurteilt, aber gleichzeitig die Todesstrafe in Kalifornien für einige Jahre abgeschafft. So blieb dem Täter eine echt lebenslange Freiheitsstrafe; erst vor kurzem ist er – weit über 80jährig – im Gefängnis verstorben.

Aber auch auf dem Gelände des Dakota war der Gottseibeiuns noch weiterhin aktiv: Zu den prominenten Alt-Bewohnern (Leonard Bernstein, Lauren Bacall, die hier 2016 verstarb, Boris Karloff, dem Frankenstein-Darsteller und Rudolf Nurejew) war nach dem Auseinandergehen der Beatles auch John Lennon mit seiner Frau Yoko Ono gestoßen. Von 1973 bis 1980 (nur unterbrochen durch eine kurze Affäre Johns mit Yokos Sekretärin) lebten sie gemeinsam im Dakota, bis Lennon am 8.12.1980 von einem Psychotiker vor dem Eingangsportal erschossen wurde. Der Täter hatte sich von dem Ex-Beatle beim Herausfahren eine Schallplatte signieren lassen, wobei ein Foto gemacht wurde, das letzte von Lennon, das ihn makabrerweise mit seinem späteren Mörder zeigt. Anschließend wartete dieser einige Stunden, bis der Künstler wieder zurück kehrte. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, sich in den Innenhof des Gebäudes chauffieren zu lassen, stieg Lennon bereits draußen aus, wurde von David Chapman aus 6 m Entfernung niedergeschossen und verstarb kurz darauf im Krankenhaus. Chapman wurde zu 20 Jahren bis lebenslänglich verurteilt und sitzt auch heute noch ein, weil sich Yoko Ono einer vorzeitigen Entlassung bislang stets widersetzte. Das Dakota (in dem Yoko Ono nach wie vor lebt) ist durch den Mordfall um eine Attraktion reicher, viele Touristen knipsen die Stelle des Attentats, bis sie von den doormen, die seit dem Vorfall wesentlich wachsamer sind, vertrieben werden. Eindrucksvoll: Das bronzene, künstlerisch gestaltete Wachhäuschen und die beiden riesigen Kandelaber am Eingang, von denen einer gerade von einem Lampenputzer poliert wird, als ich mein Foto mache. Das benachbarte San Remo von 1930 mit seiner markanten Doppelturmfassade dient denselben Zwecken wie das Dakota, ist auch genauso teuer, beherbergt aber aktuellere Prominente: Steven Spielberg, Dustin Hoffmann, Bono und Bruce Willis; Madonna jedoch handelte sich hier ebenfalls eine Abfuhr ein.

14 NY Subway

Alltäglicher Wahnsinn

Auf der Fahrt zum Central Park werden wir wieder einmal mit der Dysfunktionalität des New Yorker öffentlichen Nahverkehrs konfrontiert, was mich darin bestärkt, der subway ein eigenes Kapitel zu widmen. Berücksichtigt man gleichermaßen die Streckenlänge, die Anzahl der Bahnhöfe und Linien sowie die beförderte Personenmenge, dann ist die New Yorker U-Bahn die größte der Welt. Und da sich – besonders in Manhattan – das Autofahren nicht mehr lohnt, weil sowohl für den rollenden als auch den ruhenden Verkehr kein ausreichender Platz vorhanden ist, kommt der subway für die Mobilität der Menschen eine überragende Bedeutung zu. Nur schade, dass das Verkehrssystem diesem Anspruch überhaupt nicht gerecht wird, wie es die Bewohner der Stadt täglich erleben müssen.

Laut Metro-Plan soll der von uns gewünschte Parkeingang leicht zu erreichen sein, da sich die Haltestelle 72nd Street genau an der selben Stelle befindet. Man muss nur aufpassen, aus den vielen parallel verkehrenden die richtige Linie herauszusuchen, denn die meisten sind express trains, die am gesamten Central Park ohne Halt vorbeifahren. Wir nehmen also die B local, die ausweislich des Plans an jeder Station hält. Eine Ansage kurz nach dem Einsteigen ist derart kreischig, dass wir kein Wort verstehen, wir wundern uns nur, dass die Hälfte der Fahrgäste den Zug am Columbus Circle wieder verlässt. Während der Weiterfahrt stellt sich heraus, dass die unverständliche Ansage unseren local zum express befördert hat und wir erst in der 125th Street, weit oben in Harlem, wieder anhalten. Eine sehr gut deutsch sprechende Passagierin (sie stammt aus Israel) klärt uns darüber auf, dass solche Überraschungen in der Subway an der Tagesordnung seien und man bei den Ansagen immer gut zuhören müsse. Damit aber habe ich meine Probleme: Meine vielen NY-Aufenthalte haben die Erfahrung gebracht, dass nur die Ansagen vom Band gut verständlich sind (Mind the gap between the train and the platform edge!), während aktuelle live-Ansagen in der typisch New Yorker Diktion rüberkommen, ein wenig wie Gangsta Rap klingend und in der Regel gebrüllt. Wenn in den endlosen Gängen der Umsteigestationen ein Evangelikaler seine frohe Botschaft herausschreit, bekommt man Angst, auch im Zug sich unterhaltende Schwarze klingen dem zarten europäischen Ohr bedrohlich, genauso wie die aktuellen Durchsagen des Zugführers. Unsere hilfsbereite Mitfahrerin hat dagegen eine angenehme, entspannte Stimme, freundlich weist sie uns den Weg zum Gegenzug und klärt uns außerdem noch darüber auf, dass unser angepeilter Bahnhof 72nd Street wegen Bauarbeiten geschlossen ist und wir eine Station nördlicher, am Museum für Naturkunde aussteigen müssen. Da so etwas wegen des maroden Zustands des New Yorker Metro-Systems alltäglich sei, sollte man sich jedesmal vorher vergewissern, ob der angepeilte Zielbahnhof überhaupt geöffnet ist.

Beim Rückweg suchen wir am riesigen Columbus Circle den richtigen Eingang für Züge nach Queens. Auf dieser Station haben blöderweise die Bahnsteige für uptown und downtown voneinander getrennte Zugänge. Erwischt man den falschen, muss man wieder durch die Sperre und erneut bezahlen. Uptown bedeutet in New York meistens nördlich und downtown südlich, was aber, wenn – wie hier – die Linien ost-westlich verlaufen und man ins südliche Queens will, schwer nachzuvollziehen ist. Mein Zögern bei der Entscheidung zwischen up- und downtown und das Drängeln meiner besseren Hälfte führen zu einem heftigen Streit, weil ich sauer bin, dass man mir nicht genügend Zeit zum Nachdenken lässt. Natürlich war die Auseinandersetzung völlig überflüssig, denn den richtigen Weg findet man immer – schließlich gibt es außer dem Metro-Plan noch viele hilfsbereite Mitreisende. Da aber fast alle Probleme des heutigen öffentlichen Nahverkehrs in NY ein Resultat seiner langen Geschichte sind, soll es hierzu einen kleinen Exkurs geben.

Geschichte der Subway

Mit der rasanten Ausdehnung von New York wurde die Notwendigkeit eines Massentransportmittels immer dringlicher. Ab den 30er Jahren des 19. Jh. entstand ein Netz von Pferdebahnen, das aber den ständig steigenden Verkehr nicht bewältigen konnte. Die Eisenbahngesellschaften, die die USA in der Mitte des Jahrhunderts gewinnbringend mit einem dichten Eisenbahnnetz überzogen, erkannten schnell, dass innerstädtischer Verkehr unter ganz anderen Bedingungen (und zudem wesentlich schwierigeren) funktionierte. Spielte der Preis für die Trasse und den Bau von Bahnhöfen bei Überland-Linien nur eine untergeordnete Rolle, so war das innerhalb der Stadt – mit ihrem knappen und teuren Baugrund – ganz anders. In der Regel existierte die Stadt bereits, als der Bedarf für den öffentlichen Nahverkehr aufkam. Wo sollte man also die Schienen verlegen und wo die Bahnhöfe errichten, die bei innerstädtischen Linien in viel größerer Anzahl benötigt wurden? Die Straßen waren eng und bereits jetzt überfüllt, ebenerdige Bahntrassen hätten die Stadt zerschnitten und der – damals technisch bereits mögliche – Tunnelbau die Finanzkraft der Bahngesellschaften überfordert. Aus all diesen Gründen entschloss man sich zu elevated railways, eisernen Brückenkonstruktionen über der Straße, auf denen oben die Züge fuhren und unten der Verkehr rollte.

So fuhren ab 1872 Dampfzüge von South Ferry bis zur Bronx über den Straßen Manhattans, eine aus vielen Gründen unzumutbare Lösung. Die Viadukte verdunkelten die Straßen (in schmaleren reichte die Trasse von den Fenstern auf der einen Straßenseite bis zu denen auf der anderen), die Züge machten viel Lärm und verschmutzten die Luft. Auf Anregung von Werner von Siemens begann man um 1900 über elektrische Züge nachzudenken, aber auch über Kabelbahnen und ebenerdige Straßenbahnen. Kurios war (unter dem Einfluss der gerade aufgekommenen Rohrpost) ein Experiment mit einer Tunnelbahn, die durch Druckluft vorwärts geschoben wurde. Das Resultat all dieser Überlegungen war die von der privaten Firma Interborough Rapid Transit (IRT) betriebene New York Subway, die man 1904 (als zehnte U-Bahn weltweit) eröffnete. Der Besitzer der Gesellschaft, August Belmont Jr., genehmigte sich, nur zum Beeindrucken seiner auswärtigen Gäste, einen eigenen, privaten U-Bahn-Wagen, ausgestattet laut New York Times in philippinischem Mahagoni mit Seidendraperien, knietiefen Teppichen und ledernen Fensterrollos – mit eigenem Bad, Küchenzeile incl. Kerosinherd und Kühlschrank, Liegesofa, Drehsessel und Rollbüro (Kontorschreibtisch mit Rolldeckel). Dieses kuriose Relikt der New Yorker U-Bahngeschichte hat sich erstaunlicherweise bis heute erhalten und steht jetzt im Museum von New Haven, CT. Während die alte elevated railway noch weiter durch Manhattan dampfte, wurde die neue Linie im Tunnel verlegt. Sie führte von der Station City Hall nach Norden bis zur 42th St, dann westlich zum Times Square und dann wieder nördlich nach Harlem und der Bronx. Der Tunnel wurde in der Regel von der Straße her ausgehoben, mit Eisenträgern abgestützt und durch Preußische Kappen gedeckt (das war eine so genannte Unterpflasterbahn, wie man sie zwei Jahre vorher schon in Berlin gebaut hatte). Eine teure bergbaumäßige Tunnelbohrung erfolgte nur, wenn gewachsener Fels dem herkömmlichen Bau entgegen stand, bei sehr tief gelegenen Bahnhöfen und der Unterquerung des East River.

Mit dem Bau der berühmten Brücken über den East River expandierte auch Brooklyn, was zur Gründung der Konkurrenzgesellschaft Brooklyn Rapid Transit (BRT) führte, die dort ein Netz von elevated railways aufbaute, das später unter der Nachfolgegesellschaft Brooklyn Manhattan Transit (BMT) mit dem von Manhattan verbunden wurde. Als die Stadtverwaltung die Wichtigkeit des öffentlichen Nahverkehrs endlich erkannt hatte, und insbesondere die Bedeutung von dessen kontinuierlicher Weiterentwicklung, entstand 1922 eine dritte Verkehrsgesellschaft, die Independent City Owned Rapid Transit Railroad (IND), die neben dem Bau von neuen Tunnelstrecken vor allem die Vereinigung der konkurrierenden Betreibergesellschaften unter städtischer Regie betrieb. Unter Bürgermeister LaGuardia war es 1940 endlich so weit: Mit Gründung der Vorläufergesellschaft der heutigen MTA (Metropolitan Transportation Authority) wurde die New York Subway städtisch. Als erste Maßnahme erfolgte der Abbau der Hochbahnen in Manhattan und ihr Ersatz durch Tunnelstrecken, was die Lebensqualität im Zentrum der Weltstadt erheblich verbesserte.

Worüber der New Yorker schimpft

Viele Eigenheiten der Subway, die den täglichen Verdruss der Benutzer erzeugen, sind darin begründet, dass damals die konkurrierenden Gesellschaften ihre Planungen nicht untereinander abstimmten. So sind die Übergänge von einem Bahnhof zu dem eines anderen Betreibers oft nur über endlose Tunnel möglich, in einigen Fällen sogar nur über einen Fußweg durch den Straßenverkehr. Überhaupt gibt es weit weniger Umsteigebahnhöfe als Kreuzungspunkte zwischen den Linien. Zwischen Hochbahnhöfen und U-Bahnstationen wurden keine durchgängigen Fahrstühle gebaut, manchmal gibt es drei auf unterschiedlichen Niveaus, oft überhaupt keine. Dann existieren zwei unterschiedliche Wagengrößen, die eine Verknüpfung aller Linien unmöglich machen, weil Tunnel und Bahnsteigkanten jeweils ein anderes Format haben. Insbesondere die alten Hochbahnlinien sind im so genannten Kleinprofil gehalten, weil man den Viadukten das Tragen einer größeren – und somit schwereren – Bahn nicht zutraute. Diese Waggons sind über 50cm schmaler als die des Großprofils, fassen deutlich weniger Passagiere und so kommt es, dass die in die Immigrantengebiete fahrenden „alten“ Züge immer besonders überfüllt sind. Hochbahnen fahren in Manhattan nur noch ab der 120th St; Brooklyn, Queens und The Bronx sind aber noch von elevated trains geprägt. Auf der Queensboro-, Williamsburg- und Manhattan Bridge überqueren sie auch heute noch den East River.

Nach 1940 wurde das U-Bahnsystem enorm ausgebaut, mit vielen Tunneln unter dem East River und schließlich auch unter dem Hudson River nach New Jersey. Auf stark frequentierten Linien baute man bis zu vier Gleise, um auch Expresslinien mit weniger Haltestellen einzurichten, die dadurch die langsameren Lokalzüge überholen konnten. Vier boroughs sind durch die Subway miteinander verbunden, lediglich nach Staten Island geht es immer noch mit der Fähre (allerdings durchquert eine S-Bahn ähnliche Bahnlinie die Insel). In den 60er Jahren hat die Stadt die Subway in einer gewaltigen Anstrengung dem gesteigerten Verkehrsaufkommen angepasst, indem man die Bahnhöfe (und daraus resultierend die Züge) verlängerte, damit allerdings auch die unterirdischen Wege. Die 70er Jahre verpassten dem ganzen System dann sein – ihm auch heute noch anhaftendes – schlechtes Image: Wegen der Finanznot wurde nichts mehr investiert und zur Vernachlässigung kam noch der Vandalismus. Obwohl heute kein einziger besprühter Waggon mehr zu sehen ist, hat man doch noch die komplett mit Graffiti bedeckten Züge (eine Unsitte, die von New York aus die Welt überzog) aus jenen Jahren in Erinnerung. Und dann die „ständigen Bewohner“ des Systems, die durch das Gleisbett huschenden Ratten! Durch Hurrikan Sandy, der 2012 viele Tunnel überschwemmte, sind sie glücklicherweise stark dezimiert worden. Auf jeden Fall verlangt das System von seinen Benutzern ständige Aufmerksamkeit und es ist erstaunlich, dass es im Prinzip immer noch funktioniert, obwohl es während jeder Rush Hour an den Rand seiner Leistungsfähigkeit kommt. Mir erscheint es, dass eine erneute Generalsanierung – insbesondere der verwahrlosten und verrosteten Hochbahnstrecken – überfällig ist. Andererseits ist der Zweifel angebracht, ob überhaupt irgendein Verkehrssystem auf der Welt den Transport dieser Menschenmassen problemlos bewältigen könnte, die permanent zwischen Long Island und Manhattan sowie zwischen den einzelnen Boroughs hin- und herströmen. Berlin kommt einem dagegen fast dörflich vor, wo so viele Menschen im selben Kietz leben und arbeiten und sich das in NY herrschende Hin und Her weitgehend erübrigt.

Die New Yorker können die Subway nur dadurch ertragen, dass sie pausenlos über sie schimpfen: Über die auf freier Strecke haltenden Züge wegen Staus auf den weiter vorn liegenden Abschnitten; den unvermittelten Wechsel von express zu local, wenn man noch viele Stationen vor sich hat; den Wechsel von local zu express, wenn man auf der nächsten aussteigen will, der Zug aber durchfährt; die zu Erkältungen führende Klimatisierung der Züge im Sommer, wo man früher befürchtete, in der unerträglichen Hitze zu ersticken; die Überfüllung der Züge bei gleichzeitigem Mangel an Sitzplätzen; die fetten Passagiere, welche die drei Sitzplätze zwischen den Haltestangen zu zweit (im Falle extremen Leibesumfangs auch allein!) belegen; der leere Waggon, in den man vorschnell erfreut eingestiegen ist und der sich dann als vollgekotzt erweist; endlose Wartezeiten auf dem Bahnhof, ohne jegliche Ansage dazu; geschlossene Bahnhöfe, Umbauten, Umleitungen; unerwünschte Musikdarbietungen, Bettelei; etc. etc. etc.

Eloge

Aber zur Ehrenrettung der NY-Subway muss ich sagen, dass sie eine echte Attraktion der Stadt ist, wenn nicht sogar eine der größten. Nirgendwo bekommt man die Multikulturalität auf engstem Raum so deutlich zu spüren wie hier, oftmals hat man den Ethno-Mix der gesamten Stadt in einem einzigen Waggon. Wie oft passiert es uns, dass wir auf dem Weg von Queens nach Manhattan die einzigen „Weißen“ im Wagen sind. Und das unglaubliche Gewusel der Menschenmassen ruft einem ständig ins Bewusstsein, sich in einer wirklichen Weltstadt zu befinden. Auch die musikalischen Darbietungen haben es in sich, vom Elektroniker, der den kilometerlangen Fußgängertunnel mit Sphärenklängen erfüllt bis zur Inka-Kapelle, die mit 10 Mann das Mezzanin des Bahnhofs Jackson Heights/Roosevelt Avenue zum Kochen bringt – und das mitten im bitter kalten Winter. Rührend fand ich die Saxophonstunde auf einem wenig benutzten Bahnsteig in Lower Manhattan: Lehrer und Schülerin, mit Notenständern und Lehrmaterial auf einer Wartebank konzentriert arbeitend. Dann die Fahrgäste, die aufgrund der langen Fahrzeiten ihr Privatleben im Zug führen mit lauten Telefongesprächen, Arbeit am Computer und morgendlicher Kosmetik – konterkariert durch die didaktischen Piktogramme, die überall angebracht sind und gerade das abstellen wollen: Da sieht man eine Frau, der beim Kämmen Tonnen von Schuppen aus dem Haar auf die Nachbarn fallen, den Macho, der durch breitbeiniges manspreading die Nebenleute nervt und die Myriaden von Bazillen, die der ungeschützt Hustende im Waggon verbreitet. Obwohl die New Yorker U-Bahnhöfe von Anfang an industriell, funktional und nüchtern gebaut wurden, gibt es doch einiges, an dem sich auch der Kunstsinnige erfreuen kann: Da sind zunächst die in Mosaik eingelegten Stationsnamen und Schmuckbänder der Linien aus der Entstehungszeit aber auch die architektonische Gestaltung einiger Bahnhöfe. Als erster sticht der „Geisterbahnhof“ City Hall hervor, den man außer Betrieb genommen, aber nicht abgerissen hat. Wenn man an der Endstation der Linie 6, Brooklyn Bridge/City Hall im Wagen sitzen bleibt (was bei allen anderen Linien untersagt ist), so wird man über eine Wendeschleife mit großem Radius wieder in die Gegenrichtung gebracht und man durchfährt ohne Halt den voll beleuchteten historischen Prachtbahnhof. (Das ist schon etwas anderes als die tristen „Geisterbahnhöfe“, in denen die Berliner U-Bahn zu Mauerzeiten im „Ostsektor“ einfach durchfuhr). Aber auch einige ganz neue Bahnhofsgebäude weisen hohe architektonische Qualität auf, so die unter dem neuen World Trade Center und in der Fulton Street entstandenen, sowie der neue Endbahnhof der Linie 7, Hudson Yards, mitten in einem gerade entstandenen neuen Wolkenkratzerkomplex. Persönlich finde ich den schmucklosen Bahnhof 14th St / 8th Ave am schönsten, weil er mit Life Underground bevölkert ist, einem Kunstprojekt von Tom Otterness mit 140 skurrilen Miniatur-Bronze-Skulpturen. Sie treiben sich auf dem gesamten Bahnhof herum und sind eines der verspieltesten und beliebtesten U-Bahn-Kunstwerke in New York, entstanden aus dem Gefühl der Unmöglichkeit, New York zu verstehen, wie der Künstler behauptet. Da hebelt ein Krokodil in Anzug und Krawatte einen Kanaldeckel hoch und schnappt sich einen Passanten, ein Passagier schützt seinen Geldsack auf dem Schoß vor dem Windstoß des durchfahrenden Zugs, eine gigantische Ratte sitzt auf einem Geldsack und knabbert an einer Münze, ein Schwarzfahrer kriecht unter der Sperre hindurch, bereits erwartet von einem Polizisten auf der anderen Seite. Die Motive haben Comic-Charakter, aber oftmals auch einen politisch-sozialen Hintergrund, besonders im Hinblick auf den Raubtierkapitalismus. Die häufige Verwendung des Geldsacks bezieht sich auf den Grafiker Thomas Nast, der mit seinen Geldsack-Karikaturen den korrupten „Boss Tweed“ von Tammany Hall zu Fall brachte, wie im Kapitel Politik bereits erwähnt. Ein Beispiel für Malerei in der Subway ist Roy Lichtensteins über 16 Meter langes Wandbild „Times Square Mural“ in seinem charakteristischen Comic-Stil. Es zeigt Vergangenheit und Zukunft der Fortbewegung in New York nach Vorstellungen des Künstlers, vom U-Bahn-Vorläufer des 19. Jahrhunderts bis zum hypermodernen Zug-Raumschiff-Hybrid. Sol LeWitts farbige Kacheln bringen Leuchtkraft in den Untergrund von Columbus Circle, so wie es auch mit seiner Wandmalerei in der Lobby des MoMA der Fall ist. Diese Kunstwerke wie auch noch Hunderte anderer sind Teil des Percent for Art Program, bei dem sich die Stadt verpflichtet hat, ein Prozent der Kosten öffentlicher Bauten für Kunstprojekte auszugeben. Das spornte viele Künstler an, ihrerseits als Mäzen aufzutreten. Lichtenstein schenkte das Werk am Times Square seiner Heimatstadt, Otterness fügte den von der Stadt gekauften Life Underground Figuren noch Dutzende weitere als Geschenk hinzu.

15 Downtown

Die herkömmliche Einteilung Manhattans in Uptown, Midtown und Downtown eignet sich viel besser zur Strukturierung des Herzens von New York als die verwirrend vielen neighborhoods mit ihren aus Kürzeln gebildeten und für den Fremden unverständlichen Namen. Uptown (wie auch die Bronx) ist durch ausgedehnte Migrantengebiete gekennzeichnet (dabei steht Harlem überwiegend für Afro-Amerikaner, the Bronx für Puertorikaner). In Midtown finden wir Monumentalbauten wie Grand Central, Penn Station, Public Library, National Post Office, Empire State Building etc. Das historische New York, seine alten Hafenanlagen, das erste Industrieviertel und die Wohngebiete der Unterschicht liegen dagegen in Downtown. Hier im Südteil von Manhattan ist gerade eine Phase größter Veränderung im Gange. Zwar liegt hier schon seit langem die zweite Wolkenkratzer-Zone der Stadt mit dem höchsten Gebäude der Stadt, dem One World Tower, doch bezogen auf die Gesamtfläche von NY nehmen die Wolkenkratzer nur einen kleinen Teil ein. Der Wandel betrifft wieder einmal die historischen Relikte der Stadt, die originale Hafenzone ist z. B. bereits völlig verschwunden und aktuell geht es den letzten noch verbliebenen Industrieanlagen und den einfachen Wohnvierteln des 19. und frühen 20.Jh. an den Kragen. Anstelle durchaus ansehnlicher Backsteinbauten aus der Gründerzeit entstehen ausgedehnte Neubaugebiete mit luxuriösen Hochbauten und viel Wohn- und Geschäftsraum für Betuchte. Das Einzige, das dieser mittlerweile völlig zugebauten Gegend fehlt, sind Parks. Aus diesem Grund hat sich die Stadt für die Anlage eines neuen, besonders spektakulären, entschieden. Da es in Manhattan kaum realisierbar ist, den so überaus wertvollen Baugrund für Grünflächen zu „verschwenden“, kam man auf die Idee, eine der letzten erhaltenen elevated railways zum Park umzugestalten. Die Trasse war dem Abriss der Hochbahnen unter Fiorello LaGuardia entgangen, weil sie nicht dem öffentlichen Verkehr diente, sondern dem Güterverkehr (West Side Freight Line) und die Produktionsstätten und Hafenanlagen am Hudson miteinander verband. Von 1932 bis 1980 diente sie vorwiegend der Versorgung des meat packing district, eines Areals, in dem Schlachthöfe und Fleischverarbeitungsbetriebe ihren Sitz hatten. Mit der Auslagerung dieses Gewerbes aus der Innenstadt setzte zunächst ein Niedergang des Viertels ein, die Industrieanlagen verfielen, Jobs gingen verloren und auch die niedrigen Wohnhäuser vergammelten. Die Bahnlinie wurde eingestellt und rostete ein Vierteljahrhundert vor sich hin. Dann „entdeckten“ Investoren das Potenzial des heruntergekommenen Viertels und lösten, wie auch schon in anderen Arbeitervierteln, einen Prozess der gentrification aus. Als Reaktion auf die vielen prestigeträchtigen Neubauprojekte gründete sich eine Bürgerinitiative, die 2004 den Bau eines 128 m hohen Apartmentgebäudes verhinderte und durchsetzte, dass ein zwölf Blocks umfassendes Areal des meatpacking district unter Denkmalschutz gestellt wurde.

High Line

Am westlichen Übergang von Midtown zu Downtown, in der Nähe der gerade entstandenen luxuriösen neuen Subway-Station Hudson Yards, liegt der Einstieg in den High Line Park, auf den wir mittels einer Rampe hinaufkommen. Von einem Park ist wegen des vielen Betons noch nicht viel zu sehen, aber man bekommt einen guten Eindruck vom Umstrukturierungsprozess, der hier gerade stattfindet. Hinter uns (im Norden) befinden sich die durch die neuen Hudson Yards überbauten Rangiergleise der Pennsylvania Station, von denen schon im Kapitel „Quer durch Manhattan“ die Rede war, rechts (im Westen) verläuft die zehnspurige Trasse der 12th Avenue entlang des Hudson River, mit endlosen Autoschlangen. Sobald man sich von den Neubauten etwas entfernt hat, beginnt der „Park“. Er erstreckt sich auf einer Länge von 2,3 km von der 34th Street W bis zur Gansevoort Street im Süden, liegt komplett auf der Hochbahntrasse und ist in der Regel nur 15 m breit! Viel Platz für Pflanzen gibt es da nicht, doch überall wo es irgendwie geht, hat man Bäume, Büsche, Sträucher und Blumen gepflanzt und auch einen Teil der Spontanvegetation erhalten, die sich in den letzten 25 Jahren zwischen den Schienen angesiedelt hat. Die komplette Strecke hat elf Zugänge, davon fünf mit Fahrstühlen, sofern sie funktionieren.

Rechts und links der High Line befinden sich umgebaute Fabrikgebäude oder Neubauten, deren Apartments mit Slogans wie „Luxury Living on the High Line“ angepriesen werden. West Chelsea 507 z. B. besitzt einen eigenen, für Normalbürger verbotenen Zugang zum Park und Apartments, die lt. Werbung zu den begehrtesten New Yorks gehören und von 5 bis 20+ Mio $ kosten. Noch teurer dürfte es im Zaha Hadid Building (520 West 28th Street) sein, dem einzigen Wohngebäude der international renommierten Architektin, die bereits 2016 starb. Merkwürdig verloren dazwischen die kleineren Häuser, die schon immer hier standen und jetzt des Abrisses harren oder ähnlich dem gallischen Dorf im Asterix Comic von entschlossenen Bewohnern gegen die übermächtigen Eindringlinge verteidigt werden. Zur reichlich aufgestellten offiziellen Kunst tragen sie Alternatives bei, so das Plakat „Donald, make America psycho again“. Eine „Church of the Guardian Angel“ von 1887 lädt Gläubige zum Gebet ein und möge doch der genannte Engel gefälligst den von der Vertreibung Bedrohten beistehen! Wir überlegen derweil, ab wann die millionenschwere Neuklientel gegen den Plebs vorgehen wird, der den ganzen Tag lang vor den teuren Apartments auf „ihrer“ High Line entlang defiliert.

Interessante Durchblicke gibt es an den Stellen, wo die Trasse die Streets kreuzt und man westlich bis zum Hudson und östlich bis zu den Skylines von midtown und downtown schauen kann. An einigen Stellen hatten die Fabriken einen eigenen Bahnanschluss und nur an diesen Abzweigungen wird der Park etwas breiter. Hier hat man Sitzgruppen, Liegewiesen oder größere Pflanzenarrangements angelegt. Je weiter man nach Süden vordringt, desto mehr kleinteilige Bebauung des ehemaligen meat packing district ist noch erhalten und man wünscht sich, dass dies auch so bliebe. An einer weiteren Kreuzung der High Line mit einer Street steht ein Parking Rack, eine interessante Lösung zur Linderung der chronischen Parkplatznot in Manhattan: In einem vierstöckigen Gestell mit aufzugartigen Paletten stehen die Autos übereinander gestapelt, können dieses „Parkhaus“ aber nur in einer festgelegten Reihenfolge befahren und verlassen. Wir bedauern, das Be- und Entladen in der rush hour während unseres Spaziergangs nicht verfolgen zu können.

Hummer auf Papptellern

An der 16th Street befindet sich ein Abgang von der High Line mit Fahrstuhl, über den wir den Chelsea Market erreichen, ein den ganzen Häuserblock einnehmendes Fabrikgebäude, in dem einst Kekse produziert wurden. Es wurde im gleichen Jahr wie die High Line erbaut und besaß wie viele andere einen eigenen Gleisanschluss an die Bahn. Mit dem industriellen Niedergang der gesamten Gegend schloss auch die Fabrik und erst 1998 belebte sich das Gebäude erneut, als das komplette Erdgeschoss zu einem food court umgestaltet wurde und man die oberen Etagen als Büroräume vermietete. 2018 erwarb Google den Komplex zu einem absoluten Rekordpreis und zog zusammen mit YouTube in die oberen Etagen. Wir präferieren, lieber im Erdgeschoss zu bleiben und besuchen den mittlerweile auch schon mehr als 20 Jahre alten Fresstempel. Beeindrucken kann uns der aber längst nicht mehr, da Ähnliches mittlerweile in allen europäischen Metropolen, incl. unserer eigenen existiert. Charmant sind allerdings die vielen architektonischen Originalelemente des Industriezeitalters, die man geschickt in die shopping mall einbezogen hat.

Uns zieht es nur zu einem einzigen Geschäft, dem Lobster House, wo wir uns einen der berühmten Hummer aus Maine genehmigen wollen. Der Laden ist eigentlich eine überdimensionierte Fischhandlung, die Fische aus allen Weltmeeren zu stark überhöhten Preisen anbietet, aber eine Ecke darin ist mit schmalen Stehtischen für den Konsum reserviert. Hier kann man sich an einer Kochtheke die genannten Krustentiere frisch zubereiten lassen und bekommt sie, zusammen mit zerlassener Butter in einem Plastikschälchen, auf einem Pappteller (!) serviert. Im ganzen Laden gibt es kein einziges Stück Brot, mit dessen Hilfe man Butter und Lobster doch erst richtig genießen kann. Als wir versuchen, unsere großformatigen Pappteller auf dem kleinformatigen Tisch zu arrangieren, erregen wir die Aufmerksamkeit eines leicht mafiös aussehenden Mannes in wasserstoffblonder weiblicher Begleitung, der uns sofort anspricht, als er unsere Sprache gehört hat. Er stellt sich in ausgezeichnetem Deutsch als Pole vor, der Restaurants in mehreren europäischen Ländern unterhält, darunter auch in Berlin. Der Grund seines New York Besuches sei seine hier studierende Tochter. Die Tatsache, dass wir ebenfalls eine in Amerika studierende Verwandte haben und obendrein eines seiner polnischen Restaurants in Krakau bereits besucht haben, ermuntert ihn, Champagner zu bestellen, den wir – wie in diesem Etablissement nicht anders zu erwarten – aus Pappbechern trinken. Bei einem weiteren Besuch hier versuche ich, zwecks besserer Vorbereitung auf das Hummermahl, ein französisches Baguette bereits draußen zu erstehen. Beim Durchkämmen des Food Court stoße ich auf eine „originale“ Berliner Currywurstbude (deren Produkte im Aussehen und vermutlich auch im Geschmack keinerlei Ähnlichkeit mit den unsrigen haben, aber immerhin 8 $ kosten), in deren Nähe ich glücklicherweise mit einem knusprigen Brot fündig werde.

Whitney Museum of American Art

Die High Line, die neue Bebauung und die neuen Bewohner machen die Gegend des meat packing district außerordentlich attraktiv für die Kunstszene, weshalb hier ständig neue Kunstgalerien eröffnen. Aus diesem Grunde wurde wohl 2015 gerade hier, gegenüber dem Endpunkt der High Line an der Gansevoort Street, Renzo Pianos Neubau des Whitney Museum of American Art, angesiedelt. Das Whitney widmet sich der modernen amerikanischen Kunst und ist berühmt für seine umfangreiche Sammlung von Gemälden Edward Hoppers. Diese ikonischen Bilder der 30er bis 50er Jahre haben es uns angetan, weil der Künstler in seinem ganz eigenen Realismus die Einsamkeit des modernen Menschen so eindringlich abbildet. Er war stilistisch außerordentlich einflussreich, insbesondere die Filmregisseure des Film Noir und der Nouvelle Vague versuchten, die Stimmung seiner Gemälde filmisch umzusetzen. Die Aussicht auf ein bahnbrechend modernes Gebäude und die Hopper-Bilder haben uns hierher gelockt, aber eine leise Enttäuschung kommt bereits beim Betrachten des Museumsbaus auf. Er schwankt stilistisch unentschlossen zwischen dem Setzen eines eigenen Akzents und der Rücksichtnahme auf die gewachsene Architektur dieses alten Industrieviertels und wird deshalb beidem nicht gerecht. Die Stahlkonstruktionen Renzo Pianos fallen gegenüber denen der High Line stark ab, weil sie nur dekorativ gedacht sind. Aber auf die Spitze getrieben wird unsere Enttäuschung an der Kasse, nachdem wir 36 $ für die zwei Museumstickets bezahlt haben, als uns die Kassiererin beim Überreichen der Karten sagt, dass die 6. Etage leider geschlossen sei. Auf meine Frage, was denn dort gezeigt werde, erhalte ich die Antwort: Edward Hopper. Grummelnd begnügen wir uns mit den Werken ebenfalls berühmter Künstler wie Sidney Pollock, Mark Rothko und Cy Twombly. Ein halbes Jahr später stießen wir in Rom auf eine Sonderausstellung mit Hoppers Gemälden – aus dem Whitney Museum of American Art! Da hatten die Museumsleute des Whitney doch tatsächlich ihren attraktivsten Schatz kurz nach der Eröffnung des Museumsneubaus für ein Jahr auf Weltreise geschickt, wahrscheinlich um die Kosten für den Neubau wieder hereinzuholen. Ein Glück für uns, dass wir dadurch unseren ausgefallenen New Yorker Museumsbesuch schließlich noch im Innern des Altare della Patria im Herzen von Rom nachholen konnten.

16 Bildung

School

Das Thema „Schule“ nimmt bei unseren New York Reisen jedes Mal großen Raum ein, denn unsere drei Enkeltöchter befinden sich alle noch in der Ausbildung. Egal, ob es sich um Grundschule, Oberschule oder das Studium an einer Universität handelt – im amerikanischen Sprachgebrauch fallen alle Ausbildungen unter den Sprachbegriff school. Im Fall der Enkelinnen beziehen sich unsere aktuellen Erfahrungen auf die Highschool, das Universitätsstudium und die Promotion – und alles, was ich in diesem Umfeld mitbekommen habe, bestärkt meine Überzeugung, dass man die USA und besonders New York ohne Kenntnis des Ausbildungssystems nicht verstehen kann. Auf den ersten Blick wirken die Daten, die die NY-Schulbehörde über sich selbst ins Internet gestellt hat, beeindruckend, nämlich das viele Geld, das für den einzelnen Schüler ausgegeben wird, die gute Lehrer/Schüler Relation, die großen Schulgebäude und ihre gute Ausstattung, die Diversität der einzelnen Institute, die Sicherheit, die in ihnen herrscht und und und. Doch schaut man genauer hin, fallen einem viele Dinge auf, die den guten Eindruck relativieren. Trotz rechtlicher Gleichheit aller Schüler und Studenten ist der entscheidende Aspekt für gute Bildungschancen in New York, in welcher Neighborhood der Stadt man wohnt. Da gibt es schlecht ausgestattete Schulen in armen Migrantenvierteln, an denen sich kaum Schüler mit Englisch als Muttersprache befinden – gegenüber anderen in wohlhabenden Gegenden, wo engagierte Eltern die sowieso schon homogene Schülerschaft mit eigenem Geld zusätzlich fördern und ihre guten Beziehungen für die optimale Ausstattung „ihrer“ Schule einsetzen. Überhaupt spielt Privatinitiative in den USA eine viel größere Rolle als in Deutschland und speziell im Bildungswesen konkurrieren private Einrichtungen scharf mit staatlichen von der Pre-School über Elementary School, Middle School, High School bis zum College und der University. Das staatliche Schulsystem beginnt relativ spät für Fünfjährige mit dem Kindergarten (vergleichbar der Vorschule im deutschen System) und deshalb stehen sich sich bereits in der ersten Klasse zwei sehr unterschiedliche Gruppen gegenüber: Diejenigen, die vom Kleinkindalter an von ihren Eltern für teures Geld in private Pre-Schools (Kinderkrippe, Kita und Kindergarten) gesteckt wurden, wo sie eine umfangreiche Förderung genossen und jene, die erst als Fünfjährige mit zumeist mangelhaften Englischkenntnissen an die Public Schools (die Schulen des staatlichen Bildungssystems) kommen. Entscheiden sich die Eltern für das staatliche Schulwesen, so müssen sie die Elementary School, die ihrem Wohnort zugeordnet ist, akzeptieren. Wie schon gesagt, beginnt hier die Ausbildung mit dem Kindergarten und meistens tun sich in Migrantenvierteln bereits in der ersten Klasse große Probleme auf, da sich das hier vorhandene sprachliche Defizit der Kinder schwerlich in einem Jahr beheben lässt und viele in ihren Leistungen bald dem Durchschnitt hinterher hinken. Den betroffenen Eltern bleibt dann nur die Ergebung in ihr Schicksal, oder sie umgehen das Problem durch eine fingierte Adresse in einer „besseren“ Neighborhood oder melden ihr Kind gleich an einer teuren Privatschule an. Nach vier Schuljahren in der Elementary School steht der Wechsel auf die ebenfalls vierjährigen Middle Schools an. Diese können sich ihre Schülerschaft in der Regel selbst aussuchen und konkurrieren untereinander um begabte Schüler mit attraktiven Angeboten (wie Sport, Musik, Kunst, Naturwissenschaft oder Sprachen). Um aufgenommen zu werden, müssen diese ihre Begabung allerdings in einem Interview oder durch einen Test nachweisen. Die Bedauernswerten, die in in diesem „Wettkampf“ außen vor bleiben, werden von der Schulbehörde auf frei gebliebene Plätze verteilt, selbstverständlich an nicht so nachgefragten Schulen.

Unsere Enkelinnen wurden von ihren Eltern von klein auf darauf vorbereitet, im Wettrennen um gute Bildungsmöglichkeiten zu bestehen. Von welcher Bedeutung die Wahl der „richtigen“ Schule für das Kind ist, mussten die Eltern am Beispiel ihrer erstgeborenen Tochter allerdings erst lernen. Denn sie hatten das Kind naiver Weise an der für ihre Neighborhood zuständigen Middle School angemeldet, wo sich schnell herausstellte, dass hier bereits Achtklässlerinnen schwanger wurden und dass die „Fachkraft“ für Französisch mithilfe der Schüler ein einstudiertes Fake-Examen hinlegte – bis sich später herausstellte, dass sie des Französischen überhaupt nicht mächtig war. Diese Negativerfahrung brachte die Eltern dazu, ab jetzt nur noch nach Schulen mit besonderem Profil für ihre Kinder zu suchen, auf denen ein Ausleseverfahren existierte, wie oben beschrieben. Das bedeutete für die Älteste, dass sie noch während der verkorksten Mittelschulzeit auf den Besuch einer qualitätvolleren Highschool vorbereitet werden musste – durch intensiven Nachhilfe-Unterricht der Eltern! Allen drei Töchtern war ihrerseits bewusst, dass Pflichtbewusstsein, Fleiß und die Entwicklung spezieller Interessen quasi die Eintrittskarte in solch „bessere“ Schulen waren, im Falle der beiden jüngeren die Louis Armstrong Middle School in Queens. Dem Namen des Patrons entsprechend war sie künstlerisch ausgerichtet und für die beiden Mädchen, die sich frühzeitig in Musik bzw. Kunst engagierten, gab es keine Schwierigkeiten, hier angenommen zu werden. Die Jüngste ging noch einen Schritt weiter, indem sie ein Jahr nach der Aufnahme bei Louis Armstrong Vorbereitungskurse zur Qualifikation für die Hunter School belegte. Diese – jetzt städtische – Einrichtung wurde 1869 von dem Philanthropen Thomas Hunter, der sich speziell der Bildung von jungen Mädchen verschrieben hatte, als „The Female Normal and High School“ gegründet. Mittlerweile werden hier auch Jungen aufgenommen und die Schule versteht sich, zusammen mit dem Hunter College, einer städtischen Universität, als Bildungsstätte, an der alle begabten Kinder der citizens of New York unentgeltlich lernen können. Über besagte Aufnahmeprüfung können auch Schüler, die nicht von Anfang an bei Hunter angemeldet waren, noch nachträglich in die 7. Klasse aufgenommen werden und so geschah es mit Manon, unserer jüngsten Enkelin. Sie kam dadurch schon zwei Jahre früher quasi auf die „Oberschule“, während ihre Schwestern regulär nach der 8. Klasse auf die high school, die letzte vierjährige Station der amerikanischen Schullaufbahn, überwechselten. Dem Beispiel ihrer Mutter folgend, hatten sie sich an der LaGuardia High School of Music & Art and Performing Arts beworben und wurden auch angenommen. Die eine, weil sie sich seit der middle school intensiv mit Kunst beschäftigt hatte, die andere, weil sie seit Jahren schon sehr ambitioniert Klavier spielte und sich in der Middle School zusätzlich entschloss, Kontrabass zu lernen – zum späteren Einsatz im Sinfonie-Orchester ihrer künftigen Highschool. LaGuardia School wurde übrigens 1936 von dem legendären, namensgebenden Bürgermeister persönlich gegründet, der damit sicherstellen wollte, dass auch musisch begabte Kinder aus der Mittel- und Unterschicht staatlich gefördert werden und ihnen anschließend der Weg zur Universität offen steht. Die später in LaGuardia eingegliederte Abteilung für Tanz wurde 1980 durch den Film Fame weltweit bekannt und die im Lincoln Center – ganz in der Nähe von LaGuardia – ansässige Juilliard School, das New Yorker Konservatorium (und seit 1951 und 68 auch Tanz- und Schauspielschule), pflegt enge Kontakte zu LaGuardia und übernimmt regelmäßig deren begabteste Schüler. Das verblüffende künstlerische Niveau der Schule unserer Enkelin konnten wir bei einer fulminanten Aufführung von „La belle Hélène“ von Jacques Offenbach mitbekommen, leider ohne ihre Mitwirkung, da ihr Sinfonieorchester an der Aufführung nicht beteiligt war. Dessen Auftritte konnten wir leider nur in Aufzeichnungen sehen, die aber belegen, dass es sich auf demselben Niveau wie die Opernaufführung befand. Diese fand in der great hall der Schule statt, einem riesigen Saal mit professioneller Bühne und opulenter Ausstattung für das Stück. Es war schon gewöhnungsbedürftig, dass im sittenstrengen Amerika ein dermaßen „schlüpfriges“ Stück in einer Schulaufführung gegeben wird. Nicht etwa deswegen, weil hier Anzügliches gezeigt wurde (immerhin sang die Helena bei der Premiere in Paris nackt), sondern im Gegenteil durch die absolute Abwesenheit all dessen, was das Pariser Publikum vor 150 Jahren so entzückt hatte. So mussten sich die Protagonisten auf das Musikalische konzentrieren und das taten sie ausgesprochen gut.

Der Abschluss der High-School-Jahre stellt eines der überall in den USA zelebrierten Rituale dar, bei denen für teures Geld ein Talar (eigentlich ein Fetzen billiger Stoff) und ein albernes, dem Doktorhut ähnliches, Käppi gekauft werden – beides Gegenstände, die nach einmaligem Gebrauch in den Müll wandern. Dann muss eine opulente Party für die Empfänger des high school diploma ausgerichtet werden und diverse Geschenke werden fällig. Wegen der Größe amerikanischer Schulen (LaGuardia hat 2.700 Schüler) können bestenfalls zwei Familienangehörige am Ritual und der Party teilnehmen. Die Zeremonie findet überall in den Staaten am letzten Schultag statt, was das öffentliche Leben außerhalb des Schulbetriebs ziemlich lahmlegt. Anschließend geht das Geldausgeben für die Eltern erst richtig los, falls die Sprösslinge studieren wollen, denn so gut wie alle Hochschulen erheben Studiengebühren. Die Wahl der Ausbildungsstätte, College (für einfache Studienabschlüsse wie den Bachelor) oder University (für Bachelor, Master oder Doctor) bestimmt den Status der Absolventen. Es existiert ein US-weites Hochschul-Ranking und bei den führenden sind die Gebühren am höchsten. Die alteingesessenen, teilweise über 200 Jahre alten Universitäten wie Princeton, Harvard, Columbia und Yale zählen zur Ivy League, benannt nach den von Efeu umrankten alten Gebäuden, in denen sie lange Zeit residierten. Trotz des Stolzes auf die renommierten Institutionen leisten sich einige Staaten auch kostenlose State Universities, die aber in der Regel mit ersteren nicht mithalten können, die mit den eingenommenen Gebühren einen exzellenten Lehrkörper und aufwändige Forschungsvorhaben finanzieren. Um die weniger Wohlhabenden nicht ganz von der Universität auszugrenzen, existiert ein ausgeklügeltes Zuschuss-System, das Absolventen mit einem ausgezeichneten High School Diploma zugute kommt. Aus diesem Pool suchen sich die Hochschulen ihre Stipendiaten aus, die sie mit Teil- oder Vollförderung bedenken. Unsere volljährigen Enkelinnen hatten beide Glück, ein solches Vollstipendium zu erwischen, aber das deckte natürlich Kost und Logis nicht ab. Da die eine ihren Studienplatz am Hunter College in NY ergattert hatte, konnte sie zu Hause wohnen und somit die Kosten für die Eltern im erträglichen Rahmen halten. Fünf Jahre später gab es für die andere einen Platz an der Boston University, was bedeutete, dass pro Jahr ca. 20.000 $ Unterhaltskosten anfielen. In den ersten beiden Semestern sind die freshmen verpflichtet, auf dem Campus in einem Dormitorium (dorm) zu wohnen, wobei oben genannte Kosten entstehen. Sophomores (wie man sie ab dem 3. Semester nennt) und Seniors (höhere Semester) leben außerhalb des Uni-Campus, was die Angelegenheit aber nicht billiger macht, denn Studentenzimmer wie auch wie die Selbstverpflegung sind exorbitant teuer. In der Regel nehmen amerikanische Studenten für alle Studienkosten einen Kredit auf, den sie später jahrelang abstottern müssen, wenn sie erst einmal einen Job gefunden haben. Hätte unsere Enkelin sich nicht kurzerhand für ein Medizinstudium in Berlin entschieden, wären ca. 500.000 $ zurückzuzahlen gewesen!

Graduation Day

Selbstverständlich reisen wir zur graduation extra aus Berlin an und, obwohl sie in Boston und nicht in NY stattfindet, nehme ich sie in dieses Kapitel mit auf, weil sie exemplarisch für all das steht, was an diesem Tag auch in NY abläuft. Zuerst müssen wir die Jüngste mit dem Wagen an der Hunter School abholen, einem fensterlosen, bunkerähnlichen Komplex (ein ehemaliges Waffendepot (armory) der Polizei) im Norden Manhattans. Dann begeben wir uns auf den Highway nach Norden und stellen entsetzt fest, dass dichter Ausfall-Verkehr (wie jeden Tag!) herrscht und wir bald im ersten Stau steckenbleiben. Das hält über die gesamte Fahrt an und hat nur eine angenehme Unterbrechung, als wir auf dem Parkplatz einer Tankstelle unsere mitgebrachten Picknick-Schätze verputzen. Für mich ist sogar eine in Packpapier eingewickelte Bierflasche drin (öffentlicher Alkoholkonsum – d.h. ohne Packpapier um die Flasche herum – ist diesem Lande verboten). Bei Einbruch der Dunkelheit erreichen wir Boston, immer dem Navi folgend, das uns zielstrebig nach South Boston führt, der von der Schwiegertochter Julie so gefürchteten, kriminalitätsbelasteten, Slum-Adresse. Am Ziel Beach Street angekommen, finden wir eine hochfrequentierte, laut ratternde Eisenbahnlinie und dunkle verkommene Häuser, aber keins mit der Hausnummer unseres air bnb. Erst ein Anruf beim Vermieter offenbart, dass wir die Adresse Beach Street in Revere, einem Ort – thank God – nördlich von Boston gebucht haben und dies hier glücklicherweise der falsche Ort ist. In Revere sieht alles – soweit man das in der Dunkelheit sehen kann – viel angenehmer aus. „Unser“ Haus ist ein für Massachusetts typisches Holzhaus mit drei Etagen und einer porch mit einer kleinen Bank davor. Wir bewohnen die oberen beiden Geschosse und haben reichlich Platz für alle, auch für die aus Kalifornien anreisende älteste Enkelin und die am nächsten Tag eintreffenden russischen Großeltern aus NY. Alle „Amerikaner“ und wir unter einem Dach, das ist eine neue Erfahrung für uns – mal sehen.

Am graduation day begegnen uns scharenweise junge Menschen in roten Talaren mit den lächerlichen Kopfbedeckungen, bald werden wir sehen, dass auch unsere Enkelin so aussieht, allerdings mit high heels und gewagter Kurzbekleidung darunter. Der Saal für die Verleihung der Urkunden an die Studenten der Neurowissenschaft liegt im Keller; Renate hat uns bereits Plätze in der Saalmitte reserviert. Die Veranstaltung beginnt mit dem Einmarsch der „Gladiatoren/innen“ und einer routinierten Einführungsrede des offenbar bei den Studenten besonders beliebten Professors, eines bärtigen Mittfünfzigers mit schelmischem Gesichtsausdruck. Ihm folgt die erste Studentensprecherin, eine übergewichtige Person (wie so furchtbar viele in diesem Land!), die unter großem Beifall der Diplomanden die Besonderheiten dieses Studienjahrgangs hervorhebt und anschließend die presentation of awards, in der zu unserem Kummer der Name Erelle Fuchs wegen eines einzigen fehlenden Pünktchens nicht vorkommt. Die zweite Studentensprecherin wirkt etwas peinlich, weil sie die Demenz ihrer Großmutter als Motiv für ihr Studium der Neuro-Wissenschaft viel zu ausführlich ausbreitet, aber dann kommt es bereits zur presentation of diplomas: Nach einem erneuten Defilee durch den Saal werden die Studenten einzeln aufgerufen (unsere Enkelin unter der Aussprache Errill Fyooks für ihren Namen) und erhalten vor einer Leinwand, auf der jeweils ihr Name, ein Kinderbild und ein Erwachsenenfoto erscheint, vom schelmischen Professor die Urkunde ihres Diploms ausgehändigt. Nach den abschließenden Worten des Professors schenken wir uns die reception for graduates, family, and friends sowie die riesige Abschlussveranstaltung bei 12 Grad C im Freien, sondern kaufen beim Bäcker ausgiebig Kuchen und ziehen uns zur privaten Nachfeier in Erelles Apartment zurück. Es sind ihre letzten Stunden dort, denn mit dem Diplom endet auch ihr Mietvertrag (1000 $ im Monat für ein Zimmer!). Nach dem Kaffee werden ihre Habseligkeiten eingepackt und die Feiergruppe zerstreut sich wieder: Erelles Freundin mit ihren Sachen im Auto nach NY, Eden mit dem Flugzeug nach Kalifornien, Erelle und die russischen Großeltern im Flieger und wir restlichen fünf im Auto nach NY. Die Heimfahrt geht auch wieder über volle Highways, ist aber nicht so nervig wie auf dem Hinweg.

17 Lost New York

Zu unserer Identität als Europäer gehört es, dass die wichtigen und repräsentativen Bauten unserer Städte gewissermaßen für die Ewigkeit gebaut sind. Kathedralen, Königsschlösser, Rathäuser, bedeutende Bürgerbauten haben in großer Zahl die Jahrhunderte überdauert, sofern sie nicht Naturkatastrophen, Feuersbrünsten oder Kriegen anheim gefallen sind. Wir besuchen gerne Städte wie Rom, Florenz und Venedig, weil uns ihre Gebäude die gesamte Geschichte der Stadt über Jahrhunderte hinweg erzählen. Das ist in Amerika völlig anders: Die Mentalität, mit der die Immigranten hierher kamen, beinhaltete von Anfang an den Bruch mit dem Alten, die Suche nach Neuem, den Drang zu Weiterentwicklung und Verbesserung sowie den Glauben an Wachstum. Diese Mentalität beförderte auch den Kapitalismus, für dessen rasante Entwicklung die USA ja prototypisch sind. Kapitalismus und Fortschrittsgläubigkeit sind die Ursachen für das, was in diesem Kapitel unter Lost New York beschrieben wird und ein wenig traurig stimmt.

Die ersten Siedler in der Neuen Welt konnten gar nicht für die Ewigkeit bauen, denn sie schöpften nur aus bescheidenen Ressourcen, waren in geringer Anzahl und lebten unter recht unsicheren Verhältnissen. Kein einziges Gebäude von Nieuw Amsterdam ist heute noch erhalten, weil alle recht klein waren und aus Holz bestanden, was sie anfällig für Brände machte. Die Bescheidenheit der Architektur beförderte auch den schnellen Abriss, wenn man beschlossen hatte, etwas Neues zu bauen. Und Neues gab es ständig, weil die Bevölkerungszahl kontinuierlich stieg und sich die Wirtschaftsweise vom Agrarischen zum Handel fortentwickelte. Im 19. Jh. kam noch die Industrialisierung hinzu, die einen völlig neuen Gebäudetyp und neue Baumaterialien verlangte. So gehört es im Gegensatz zu uns zur Identität der Amerikaner, dass alles in einem kontinuierlichen Fluss und nichts für die Ewigkeit ist, sondern nur für den aktuellen Nutzen – wenn etwas dieser Einstellung nicht mehr entspricht, wird es eben beseitigt und durch Neues ersetzt. Einige Beispiele dazu habe ich bereits angeführt, wie die Ersetzung der elevated railways durch die Subway und die Konstruktion immer höherer Wolkenkratzer auf Kosten älterer Bauten.

Mansions

Das Zeitalter der Industrialisierung hatte etliche New Yorker unsagbar reich gemacht und voller Stolz darauf demonstrierten die Großindustriellen und Immobilienspekulanten ihren Reichtum durch einen feudalen Lebensstil, den es in Europa nach der französischen Revolution kaum mehr gab. Hier in New York bauten sie sich am Central Park und in der 5th Avenue schlossähnliche Anwesen, die europäischen aus der Zeit der Renaissance und des Barocks nachempfunden waren. In den mansions (Herrenhäusern) der Familien Astor, Vanderbilt, Gould, Schwab und Tiffany entfaltete sich ein luxuriöses Leben, das uns heute unvorstellbar erschiene, hätte sich nicht das Anwesen von Henry Clay Frick in der 5th Avenue neben dem Central Park mit allem Interieur und seiner exquisiten Kunstsammlung erhalten. Die Immobilienspekulation in Manhattan, die zu aberwitzigen Grundstückspreisen führte, hat alle oben genannten mansions wieder verschwinden lassen, denn selbst Multimillionäre konnten der Profitmaximierung nicht widerstehen, als sie ihre „Schlösser“ auf Abbruch zugunsten immer höher (und teurer) werdender Wolkenkratzer verkauften. So bleibt uns heute nur noch ein nostalgischer Blick auf alte Fotos von den Zeugnissen eines untergegangenen Lebensstils, sofern wir nicht für 20 $ Eintritt einen Besuch in der Frick Collection machen, was ich im Kapitel über den Räuberbaron auch tun werde.

Penn Station

Das wichtigste Gebäude von Lost New York, dessen Verschwinden auch heute noch als immenser Verlust empfunden wird, ist die Pennsylvania Station, die zur Erbauungszeit 1905 ein 3,2 ha großes Areal zwischen 7th / 8th Avenue und 31th / 33th Street einnahm. Weil die Endstation der bedeutenden Bahnlinie Pennsylvania Railroad (PRR) von New York nach Pittsburgh ein Stadtbild prägendes, repräsentatives Bahnhofsgebäude bekommen sollte, beauftragte man die renommierteste amerikanische Architekturfirma McKim, Mead, and White mit dem Bau. Ihre im historistischen Beaux Arts Stil gehaltenen Gebäude bestimmen noch heute das Stadtbild von New York: General Post Office, Hotel Pennsylvania, Public Library, Metropolitan Museum, Brooklyn Museum und Manhattan Municipal Building. Ihr Madison Square Garden II sowie das Savoy Plaza Hotel gehören wie die Pennsylvania Station zu den heutzutage so sehr beklagten Verlusten an historischer Bausubstanz, die – mit Ausnahme der Penn Station – damals gleichgültig hingenommen wurden.

Hier in Midtown errichtete das Architekturbüro drei eng beieinander liegende, bedeutende Großbauten: Die Penn Station, das General Post Office direkt gegenüber, sowie das Hotel Pennsylvania auf der Rückseite. Der mehrstöckige und untertunnelte Bahnhof war technisch ein absolut modernes Gebäude, kam äußerlich aber als antikes Bauwerk daher. Die Architekten, die in Rom auch die American Academy an der Via Veneto erbauten, hatten sich nämlich an den riesigen Hallen der Diokletiansthermen orientiert, die sie an der Stazione Termini oft zu Gesicht bekamen, übertrafen aber deren gewaltige Abmessungen noch um ein Vielfaches. Das Empfangsgebäude entstand nach dem Vorbild des Tepidariums der Thermen, das Michelangelo zur Kirche S. Maria degli Angeli umgebaut hatte, doch während deren Gewölbe eine (auch schon bemerkenswerte) Höhe von 28 m erreichten, waren es in der Penn Station 46 m! Der gesamte Bahnhofskomplex wies auf allen vier Seiten säulengeschmückte Fassaden auf, doch war man an den Bahnsteigen angekommen, offenbarte sich einem auch die Modernität der Anlage: Über der riesigen Bahnhofshalle erhob sich eine beeindruckende Stahl/Glas-Konstruktion und anders als zu dieser Zeit üblich, war Penn Station kein reiner Kopfbahnhof, sondern auch eine Durchgangsstation. Die Pensylvania-Eisenbahngesellschaft (PRR) hatte um die Jahrhundertwende zusätzlich noch die Long Island Railroad (LIRR) erworben, deren Gleise in Richtung Osten den East River unterquerten. Jetzt musste nur noch ein Tunnel unter dem Hudson gegraben werden (eine Brücke mit 2 km Spannweite war damals technisch noch nicht möglich) um Züge auch von Westen her in die Stadt hinein zu führen. Dieses Konzept machte Penn Station (trotz Grand Central Station, dessen Gleise aber nur nach Norden führen) zum bedeutendsten New Yorker Bahnhof.

Doch der Siegeszug des Automobils in den folgenden Jahrzehnten setzte den Eisenbahngesellschaften stark zu, die sinkenden Gewinne wirkten sich negativ auf Service, rollendes Material und Bahnhöfe aus. Der Zweite Weltkrieg verlängerte die Agonie des Eisenbahnwesens zwar noch ein wenig, aber die Alternative des Flugverkehrs brachte in den 50er und 60er Jahre das endgültige Aus für die Eisenbahngesellschaften: Zugverbindungen wurden eingestellt, Bahnhöfe verfielen und Zugfahren war überhaupt nicht mehr in. In diese Zeit fällt das Ansinnen der Betreiber des Madison Square Garden, ihr mittlerweile drittes Gebäude an der 8th Ave / 50th Street zugunsten des One Worldwide Plaza Wolkenkratzers abzureißen und auf dem Grundstück der Penn Station – nach deren Abriss – ein neues, noch größeres zu errichten. Die unter der Verkehrskathedrale existierenden unterirdischen Eisenbahnanlagen erachtete man als ausreichend für den immer weiter schrumpfenden Bahnbetrieb. Erstaunlicherweise kam jetzt erstmals größerer Protest gegen die Schleifung einer derartigen Ikone der New Yorker Architektur auf, aber leider setzte sich die Profitgier der beteiligten Privatfirmen durch. Ein Wahrzeichen New Yorks verschwand und wurde durch den banalen Komplex des jetzigen Madison Square Garden (IV) ersetzt, der aktuell auch schon wieder unter Abrissdruck steht. Die heutige unterirdische Penn Station mit ihren niedrigen Decken sowie überfüllten und engen Zugängen ist ein städtisches Ärgernis, zu dem ein Architekturkritiker sarkastisch bemerkte, dass man früher in die Stadt wie ein Gott einzog und heute wie eine Ratte hineinhuscht. Erstaunlich jedoch, was auf die Vernichtung der Penn Station folgte: Ein verbessertes Denkmalschutzgesetz, durch das man die ebenfalls vom Abriss bedrohte Grand Central Station rettete, der Wiederaufschwung des Eisenbahnverkehrs (unter der jetzt staatlich subventionierten AMTRAK) und ein Versuch der Wiedergutmachung an der Penn Station: Das gegenüberliegende General Post Office von McKim, Mead, and White, aufgrund der Digitalisierung des Briefverkehrs ein ähnliches Auslaufmodell wie der verschwundene Bahnhof, wurde unter Einsatz von 1,6 Mrd US $ zur neuen repräsentativen Eingangshalle für die Pennsylvania Station umgebaut. Dazu hat man das Gebäude entkernt und komplett mit riesigen Glasdächern versehen. Die eindrucksvollen Säulenfassaden des Postgebäudes erinnern ein wenig an den Glanz des untergegangenen Bahnhofs und an seiner ehemaligen Rückseite, der 8th Avenue, hat man sogar das Pennsylvania Hotel (einst das größte der ganzen Stadt) restauriert und wieder in Betrieb genommen.

Madison Square Garden II

Wie bereits am Madison Square erwähnt, hatte man dort den ersten Veranstaltungsbau, dem Namen entsprechend ein echter Garten unter offenem Himmel, abgerissen und 1890 mit dem Geld der reichsten New Yorker das damals weltweit größte Veranstaltungszentrum erbaut. Stararchitekt Stanford White von dem berühmten, allgegenwärtigen Architekturbüro lieferte die Pläne, die sich an spanischer Architektur orientierten. Aus dem von vielen Türmchen dominierten Baublock erhob sich an einer Ecke am Madison Square Park ein Wolkenkratzer, dem maurischen Glockenturm der Kathedrale von Sevilla (Giralda) nachempfunden. Mit 32 Stockwerken war er zur Bauzeit das zweithöchste Gebäude der Stadt und auf seiner Spitze stand wie in Sevilla eine vergoldete, drehbare Wetterfigur, hier eine nackte Diana. In der prüden, puritanisch geprägten Epoche, in der schon das Zeigen eines weiblichen Knöchels unter dem langen Rock in der Öffentlichkeit skandalös war, wirkte diese Figur schockierend und war Gesprächsstoff in der ganzen Stadt. In ihrer leichten und anmutigen Pose glänzte sie tagsüber in der Sonne, konnte entlang des Hudson River und sogar in New Jersey gesehen werden und war die erste Statue, die nachts elektrisch beleuchtet wurde.

Die 61 × 110 m große Haupthalle war mit 8000 festen Sitzplätzen und Stehplätzen für weitere Tausende die größte der Welt, hier wurden die Sechstagerennen populär gemacht, aber am berühmtesten waren die Boxkämpfe. Um den Garden rentabler zu machen, erweiterte man die Sitzplatzkapazität auf 13.000 und wandelte das riesige Amphitheater während der Sommermonate in ein Hallenbad um. Dieses Schwimmbad war ein Wunder der modernen Technik – das Becken weiß gefliest, 75 m lang und 33,5 m breit mit einem Inhalt von 16.800 m3 Wasser bei einer Tiefe von 0,90 bis 4,50 m, an seinem Ende ein Wasserfall von 7,6 m Höhe – wo man zur Erholung schwimmen, aber auch Amateur- und professionelle Schwimmwettkämpfe ansehen konnte. Ferner gab es ein Theater mit 1200 Sitzen, eine Konzerthalle für 1500 Zuhörer, das größte Restaurant der Stadt und ein Cabaret auf dem Dachgarten.

Hier befand sich auch das Refugium, das sich der Architekt des MSG genehmigt hatte. Stanford White war ein verheirateter Frauenheld mit einer Schwäche für sehr junge Mädchen. In seinem Apartment befanden sich jede Menge Spiegel für alle denkbaren Blickwinkel sowie eine rote Samtschaukel für seine jungen Gespielinnen. In einer Broadway Tanzshow fiel ihm die 16jährige Evelyn Nesbit auf, eine Lolita-hafte Schönheit, die den Lebensunterhalt ihrer vaterlosen Familie bisher mit Modellsitzen bestritten hatte. White machte sie mit Champagner gefügig, verführte sie und nahm in seinem Liebesnest erotische Fotos von ihr auf. Nach kurzer Zeit verließ er sie wieder wegen anderer junger Mädchen und sie fand Trost bei dem damals 22-jährigen Schauspieler John Barrymore, von dem sie auch schwanger wurde. Weil ihre Mutter Barrymore als nicht reich genug für ihre Tochter ansah, musste sie seinen Heiratsantrag ablehnen und wurde mit Whites Hilfe in einem Internat in New Jersey untergebracht, wo man einen als Blinddarmoperation getarnten Schwangerschaftsabbruch vornahm. Im Prozess stellte sich später heraus, dass Nesbit zu dem Zeitpunkt bereits zwei „Appendix-Operationen“ hinter sich hatte. Ihr nächster Mann, Harry Thaw, war der Mutter zwar endlich reich genug, jedoch ein kokainsüchtiger Sadist, der Frauen gern auspeitschte, so auch Evelyn Nesbit – dennoch heirateten die beiden im Jahre 1905. Der jähzornige Thaw war auf Nesbits frühere Verehrer extrem eifersüchtig und trug zur „Verteidigung seines Besitzes“ stets eine Pistole bei sich. Er ließ sich von Nesbit alle Details ihrer Beziehung zu Stanford White schildern, den er zunehmend mehr hasste und stets als „das Tier“ bezeichnete. Am 25. Juni 1906 besuchten sowohl Nesbit und Thaw als auch White das Dachtheater im Madison Square Garden. Mitten in der Aufführung des Stückes, während des Songs „I Could Love a Million Girls“, feuerte Thaw mit den Worten: „Du wirst diese Frau nie wieder sehen!“ drei Schüsse direkt auf Whites Kopf ab. Ein Teil von dessen Gesicht wurde weggerissen und der durch Schießpulver geschwärzte Rest war nicht mehr zu identifizieren. Die erste Reaktion der Menge war jedoch Belustigung, da man annahm, es handele sich um einen der damals üblichen Partygags. Erst als sich herausstellte, dass der Mord echt war, brach Panik aus. Im Prozess gegen Thaw gab Nesbit an, von White vergewaltigt worden zu sein, er selbst plädierte auf vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit und wurde zu fünfjähriger Haft in einem Hospital für psychisch Kranke verurteilt. Dort hatte er so weitreichende Bewegungsfreiheit, dass er die Anstalt Anfang 1913 einfach zu Fuß verlassen und sich nach Kanada absetzen konnte, von wo aus man ihn aber sofort wieder an die USA auslieferte. Doch schon Ende 1913 kam er als „vollständig geheilt“ frei und genoss danach das Ansehen eines Ehrenmannes, der einzig und allein die Schändung eines unschuldigen Mädchens gerächt hatte. Seine erste Handlung in Freiheit war die Scheidung von Nesbit, die während seiner mehrjährigen Abwesenheit ein Kind zur Welt gebracht hatte. Die belastenden Aussagen über White hatte sie unter Thaws Versprechen einer Zahlung von einer Mio US $ gemacht, von der sie aber nach der Scheidung keinen einzigen Cent sah.

Da der Madison Square Garden während seiner 35jährigen Existenz nie Gewinn gemacht hatte, verkauften die Besitzer – das Milliardärskonsortium – die Bauikone 1925 ohne viel zu fackeln auf Abriss. Das Veranstaltungszentrum zog einige Blöcke weiter nördlich auf das Gelände eines ehemaligen Straßenbahndepots und versuchte in einem schlichteren, aber mehr Zuschauer fassenden Bau ein erfolgreicheres Veranstaltungskonzept. Das hielt immerhin 40 Jahre, bis der verhängnisvolle Deal mit den Betreibern der niedergehenden Pennsylvania Railroad abgemacht wurde. Und am Madison Square wuchs der Wolkenkratzer des Met Life Insurance Building mit seinem goldenen Dach empor.

World Trade Center

Die Liste der aus Spekulationsgründen abgerissenen Bauten New Yorks ist endlos und der Prozess weiterhin anhaltend und unerfreulich. Da möchte ich mich lieber noch dem berühmt-berüchtigtsten Baukomplex der Stadt zuwenden, der ohne die Ereignisse von 9/11 heute noch stünde, dem alten World Trade Center (WTC) und seinen Twin Towers. Ihrer Erbauung war der kontinuierliche Abstieg von Süd-Manhattan nach dem Zweiten Weltkrieg vorangegangen: Die Hafenanlagen am Hudson und East River waren veraltet, die immer größer werdenden Containerschiffe legten jetzt in New Jersey an, der Passagierverkehr verlagerte sich vom Schiff aufs Flugzeug und die Wirtschaftsstruktur des Viertels war marode. Da kamen Pläne zu einer Neustrukturierung der Gegend ganz recht, die übrigens schon vor dem Krieg angedacht wurden. Ein globales Handelszentrum, das World Trade Center (WTC), sollte frischen Wind nach Manhattan bringen und gleichzeitig die Sanierung des herunter gekommene Stadtviertels sowie die Erneuerung der Verkehrswege nach New Jersey und die Wiederbelebung des New Yorker Hafens befördern. Insbesondere wegen des letzten Punkts sah man die staatliche Hafenbehörde (Port Authority of New York and New Jersey) als idealen Träger des Projekts an. Die Stadt übertrug ihr 1962 das Gelände und die Berechtigung, Enteignungen und Gewerbeumsiedlungen vorzunehmen, da der Bau des WTC einen öffentlichen Zweck erfülle. Mit dieser Begründung schmetterte man sehr schnell alle Klagen der Betroffenen ab, die sich durch sämtliche Instanzen zogen und schon 1966 konnte man den Grundstein legen.

Das Baugelände am Hudson in Lower Manhattan war durch frühere Anschüttungen (z. B. mit dem Aushub der Subway) entstanden und nicht besonders tragfähig, erst in 21 m Tiefe stieß man auf festen Grund. Zuerst konstruierte man eine riesige Betonwanne, die das Wasser des Hudson fern halten sollte und machte sich dann ans Ausschachten. Die enormen Mengen des Bodenaushubs schüttete man gleich nebenan in den Fluss und gewann dadurch den Baugrund für die Battery Park City und das World Financial Center. Ab 1968 wuchsen die Gebäude des WTC in die Höhe (insgesamt sieben waren geplant) und aus der gleichen Großspurigkeit wie in den 30er Jahren sollte wieder einmal der höchste Wolkenkratzer der Welt entstehen – wie üblich mit Hilfe eines Antennenmasts auf dem Dach (hier von mehr als 100 m Höhe!), der entscheidend zur Gesamthöhe von 526 m beitrug. Anders als vor dem Krieg wurden keine Architekturikonen mehr geplant (less is more!), sondern zwei nüchterne, fast identische Wolkenkratzer ohne Rücksprünge und Aufbauten, dafür mit schießscharten-ähnlich schmalen Fenstern, die der japanische Architekt Yamasaki angeblich einbauen ließ, weil er an Höhenangst litt. Einzig durch die Höhe und die Doppelung der Türme (deshalb twin towers) entstand doch noch ein charakteristischer Baukörper, der – besonders von Süden her – die Skyline von Manhattan dominierte. Gegenüber allem Unken wegen des Überangebots an Büroflächen wurde das WTC geschäftlich ein voller Erfolg, wozu auch das Restaurant im 107. Stockwerk des einen Turms und die Aussichtsplattform in über 400 m Höhe des anderen beitrugen. Die Einweihung erfolgte 1970/71, der Gesamtkomplex wurde 1987 mit der Eröffnung von 7 WTC vollendet.

Schon früh kam das WTC in den Fokus radikalislamischer Kreise, denn es verkörperte par excellence den „Großen Satan“, eine Bezeichnung, die Ayatollah Chomeini ab 1979 für das Regierungs- und Wertesystem der US-Politik, vor allem den Imperialismus und den „Götzen verehrenden Kapitalismus“ verwendet hatte. In der sechsgeschossigen Tiefgarage des World Trade Centers, direkt unterhalb der Twin Towers, explodierte am 26.2.1993 eine Bombe; islamistische Terroristen hatten einen mit 700 kg Sprengstoff und Druckgasbehältern voll Wasserstoff beladenen Transporter dort abgestellt und die Ladung ferngezündet. Die Detonation tötete sechs Menschen, die sich zu dem Zeitpunkt unten aufgehalten hatten und verletzte 1.000 weitere. Trotz der starken Sprengkraft der Bombe konnten die Untergeschosse der Explosion aber standhalten. Zwar wurde die Inneneinrichtung stark beschädigt, nicht jedoch die Statik der beiden Wolkenkratzer. Somit war der Anschlag gescheitert, denn beabsichtigt war gewisslich der Einsturz der Türme und die zusätzliche Zerstörung, den dieser in dem belebten Geschäftsviertel – mitten im Herzen des Kapitalismus – verursacht hätte. Experten sprachen von 100.000 Opfern, die eine solche Katastrophe hätte fordern können. Es ist heute nicht mehr nachvollziehbar, wieso nicht schon dieser Anschlag zu den Sicherheitsvorkehrungen gegen islamistischen Terrorismus geführt hat, die nach 9/11 ergriffen wurden. Hier war alles bereits vorgezeichnet, was acht Jahre später den schlimmsten Terroranschlag der Geschichte ausmachen würde: die Skrupellosigkeit der Täter, ihre völlige Gleichgültigkeit gegenüber Menschenleben und grenzenloser Hass auf die USA. Aber auch die Mängel bei der Ermittlung und die den westlichen Rechtsnormen Hohn sprechende juristische Aufarbeitung der Tat zeigen bestürzende Parallelen zu 9/11.

Alle, die den elften September 2001 damals miterlebt haben, werden die Bilder des Anschlags, die kurz darauf im Fernsehen erschienen, auf ewig in ihrem Gedächtnis bewahren: die brennenden Türme, aus denen schwarzer Rauch aufsteigt, der Feuerball beim Einschlagen des zweiten Flugzeugs im oberen Drittel des Turms, die aussichtslos von den Flammen Eingeschlossenen, die einen Sprung von der Aussichtsplattform in die Tiefe dem Ersticken oder Verbrennen vorziehen (Bilder übrigens, die danach nie wieder gezeigt werden durften), die zehn Sekunden des Einsinkens der Türme inmitten eines Infernos von Rauch, Staub und umherfliegenden Trümmern und die absurde Stille danach. Hunderte von Feuerwehrleuten, die ohne Kenntnis der wahren Ursache und des Ausmaßes der Katastrophe zu Hilfe geeilt waren und versuchten, Menschen aus dem Innern der brennenden Gebäude zu evakuieren, kamen bei dem Einsatz um, ebenso wie über 2500 andere, die keine Chance gehabt hatten, dem Desaster zu entkommen. Die Unmengen von Kerosin, die sich nach dem Einschlag der Flugzeuge im Innern entzündeten, verhinderten einesteils die Flucht aus den oberen Etagen und brachten anderesteils die Stahlträger der Gebäudekonstruktion zum Schmelzen, so dass der Nordturm nach 1 3/4 Stunden und der Südturm nach einer knappen Stunde einstürzten. Dabei wurden auch die übrigen Gebäude des WTC zerstört oder schwer beschädigt, ein weiterer Wolkenkratzer fiel am nächsten Tag in sich zusammen.

Erst in den folgenden Tagen wurde das Ausmaß dieses Anschlags auf die Vereinigten Staaten deutlich: Selbstmordattentäter hatten vier Fluzeuge zur gleichen Zeit entführt, um sie quasi als Bomben auf drei Symbole der USA zu lenken: Den Kapitalismus in Form des WTC (hier mit gleich zwei Flugzeugen!), das Militär im Pentagon und die Demokratie in Form des Kapitols. Der letztere Anschlag misslang zwar, aber die Flugroute und der Gesamtplan machen deutlich, dass auch Washington auf der Anschlagliste gestanden haben muss. Vielen, insbesondere schlichten Gemütern, war die Ungeheuerlichkeit von 9/11 (wie man es im amerikanischen Sprachgebrauch seither nennt) so unbegreiflich, dass sie lieber an die abenteuerlichsten Verschwörungstheorien glaubten, als an das, was wirklich geschehen war. So soll der Anschlag einerseits gar nicht stattgefunden haben, während er andererseits von den USA selbst oder von Israel oder von beiden gemeinsam begangen wurde und die Türme sollen nicht durch hineindonnernde Flugzeuge, sondern durch gezielte Sprengungen von innen zum Einsturz gebracht worden sein. Ich glaube, dass sich die USA psychisch bis heute noch nicht vom Trauma dieses Desasters erholt haben und viele Fakten stützen das: Die fehlende juristische Aufarbeitung des Verbrechens, die Beibehaltung des völkerrechtlich prekären Gefangenenlagers Guantanamo im Ausland (!) und die darin herrschenden Praktiken, die anhaltende Konjunktur der Verschwörungstheorien und der dramatisch schlechter gewordene Umgang der USA mit anderen Nationen, seien es Freunde oder Gegner.

Five Points

Zuletzt noch einige Worte zu einem Stück Lost New York, bei dem niemand bedauert, dass es nicht mehr existiert, nämlich das Armenviertel Five Points im Südosten Manhattans, wo sich heute Chinatown befindet. Es hatte seinen Namen von dem unregelmäßigen Fünfeck, das durch die umliegenden Straßen gebildet wurde. (Heute etwa Centre Street im Westen, Bowery im Osten, Canal Street im Norden und Park Row im Süden). Hier lag früher der Collect Pond, ein Teich vor den Toren von Alt New York, der die Gegend entwässerte, aber wegen seiner eigenen Quelle auch als Trinkwasser-Reservoir genutzt wurde. Mit dem Wachstum von Stadt und Gewerbe (insbesondere Gerbereien) wurde er zunehmend durch Abwasser verschmutzt und eine Quelle für Infektionen und Krankheiten, deshalb entschloss man sich 1820, ihn zuzuschütten. Zur Entwässerung der Gegend entstand ein Kanal, der an der Stelle der heutigen Canal Street verlief. Das zugeschüttete Areal war sumpfig, von Insekten verseucht und dünstete Methangas aus; dennoch wurde es mit billigen Holzhäusern dicht bebaut, ohne Kanalisation und ohne Straßenpflasterung.

Hier wohnten die Ärmsten der Stadt, anfangs Schwarze – einesteils Freie und zum anderen Teil noch Sklaven und mit ihnen beginnt die Geschichte des Schmelztiegels Amerika. Ihr erster Begräbnisplatz wurde kürzlich ganz in der Nähe ausgegraben und ist ebenfalls ein Stück Lost New York. Das beeindruckende Denkmal African Burial Ground an der Elk Street/Duane Street erinnert daran, dass viele der hier Ruhenden noch nach afrikanischem Ritus bestattet wurden. (Am Broadway 290 gibt es die Eingangsschleuse zum dazu gehörenden visitor center). Zu den Schwarzen kamen die katholischen Iren und trotz gravierender Unterschiede kamen beide Ethnien doch miteinander aus. Als Beweis dafür kann man die Entstehung des stepdance hier im Viertel sehen, der Einflüsse Afrikas, des Jazz und des irischen Tanzes vereinigt. Die Iren waren wegen Hungers in der Heimat massenhaft nach Nordamerika ausgewandert. Die great famine in Irland begann zwar erst 1845, aber bereits seit den 1820er Jahren trieben häufige Missernten die Menschen von der grünen Insel in die Emigration. In New York lebten sie auf engstem Raum in den armseligen Häusern der Five Points und hatten es schwer, eine qualifizierte Arbeit zu finden, da sie nur Landarbeiter und zum großen Teil Analphabeten waren. Um die Lebensbedingungen der Iren in Five Points zu verbessern, gründete Pater Felix Varela, ein Kubaner, 1827 die Kirche der Immigranten, The Church of the Transfiguration, die in einem Gebäude von 1801 heute noch an der Kreuzung Mott Street / Cross Street erhalten ist. Gewidmet dem römisch-katholischen Ritus, sollte sie als Identifikationsort für Katholiken im protestantisch geprägten New York dienen und sich der Nöte der Allerärmsten annehmen.

Ihr neuer Wohnort war einer der übelsten Slums der westlichen Welt, bezogen auf Bevölkerungsdichte, Krankheit, Kindersterblichkeit, Arbeitslosigkeit, Prostitution und Gewaltverbrechen; die tägliche Rate von Mordtaten blieb unübertroffen. Five Points war berüchtigt für die gangs, Gruppen von perspektivlosen jungen Männern, die sich neben der Kleinkriminalität als Broterwerb damit beschäftigten, gegen andere gangs zu kämpfen. Diese Auseinandersetzungen hatten oft den Charakter von Aufruhr und Unruhen und mussten von der Polizei niedergeschlagen werden, wie 1857 beim Kampf der Dead Rabbits gegen die Bowery Boys. Brisanter waren die draft riots gegen die Einberufung in den amerikanischen Sezessionskrieg. Als die Armen erfuhren, dass sich die Wohlhabenden gegen eine Zahlung von 300 $ davon freikaufen konnten, kam es überall zu Unruhen, die 120 Tote forderten und ihren Anfang in Five Points nahmen. Die politisch ahnungslosen irischen Einwohner des Viertels wurden bei Wahlen eine geeignete Beute für Politiker der Tammany Hall, die sie gleich zu mehreren Stimmlokalen karrten um mit diesen zusätzlichen Stimmen ihre Kandidaten durchzubringen. Wirkliche soziale Aktivitäten bezogen sich auf frühzeitige Forderungen nach Abriss des ganzen Viertels, wovon 1852 wenigstens der von The Old Brewery realisiert wurde, einer ehemaligen Brauerei, die man in eine fünfstöckige Mietskaserne umgewandelt und mit Menschen vollgestopft hatte. Allein in diesem von 1000 Menschen bewohnten Haus soll 15 Jahre lang jeden Tag ein Mensch umgebracht worden sein, was angesichts einer Gesamtbilanz von dann 5475 Opfern ziemlich unglaubwürdig klingt.

Nach einem Großfeuer riss man das Viertel aufgrund seines schlechten Rufs 1885 endlich ab, die schwarzen Bewohner zogen nach Harlem, die Iren nach Hell‘s Kitchen und in die Bronx. Alle alten Gebäude wurden beseitigt, ein neuer Straßenraster geschaffen und Mietshäuser mit einem etwas besserem Wohnstandard als vorher errichtet, in die aber wiederum überwiegend Minderbemittelte einzogen, diesmal vor allem Italiener und Chinesen, die dem Viertel ab jetzt ihren Stempel aufdrückten. Wo früher der Collect Pond gelegen war, entstanden zwei Grünanlagen, Columbus Park und Collect Pond Park. Five Points gehört endgültig der Vergangenheit an, lebendig sind nur noch die historischen Geschichten über die Gangs of New York, die auch Thema eines berühmten Films wurden, mit Leonardo di Caprio in der Hauptrolle und von Martin Scorsese als Regisseur, der als Kind hier selbst gewohnt hatte.

18 Hafenstadt NY

Über 150 Jahre lang war der New Yorker Hafen das bevorzugte Anlaufziel von Schiffen aus ganz Europa; Millionen von Emigranten aus Irland, Norwegen, Deutschland und Italien erreichten hier die Neue Welt. Ikonisch sind die Bilder der endlosen Schlangen von Immigranten auf Ellis Island, die Begrüßung der Queen Mary durch Fontänen der Feuerlöschboote und das Einlaufen der Kopie des norwegischen Gokstad-Schiffes in den New Yorker Hafen zur Erinnerung an die erste Landung der Wikinger in Amerika. Gehört aber der berühmte und durch die genannten Bilder in unserem Gedächtnis haftende Topos „Hafen von New York“ etwa auch schon zum verschwundenen New York, weil er heute unter den Top-Sehenswürdigkeiten der Stadt nicht mehr auftaucht? Kaianlagen, Kräne, Ozeanriesen und Containerschiffe, wie sie z.B. für Hamburg typisch sind, hatte ich bisher in NY gar nicht wahrgenommen. Erst nach mehreren New-York-Besuchen wird mir bewusst, dass der rege Schiffsverkehr bei South Ferry, den ich bisher immer mit dem Hafen assoziiert habe, New York gar nicht zum Ziel hat. Nur der Fährbetrieb nach Ellis Island, zur Freiheitsstatue und nach Staten Island ist auf die Stadt ausgerichtet. Da aber New Yorks Hafen im Lexikon als der drittgrößte der Vereinigten Staaten aufgelistet ist, muss er ja wohl irgendwo existieren. Topographie und Geschichte New Yorks helfen mir bei der Annäherung an diesen so wichtigen Teil von New York.

Größter Naturhafen der Erde

Schon die Entdecker und Kolonisatoren waren fasziniert von den Möglichkeiten, die die Landschaft New Yorks dem Seefahrer bot: Da gibt es die Mündung eines großen Flusses, des Hudson River, mit ausreichender Wassertiefe auch für größere Schiffe. Das östliche Ufer des Flusses nimmt die Insel Manhattan ein, auf der bereits die ersten Siedler wohnen und auf deren Ostseite sich wiederum die Insel Long Island erstreckt, die der Küste auf einer Länge von 190 km Schutz vor den Wellen des Atlantik gibt. Auf der Höhe Manhattans liegt Long Island so nah, dass der Meeresarm zwischen beiden Inseln wie ein Fluss wahrgenommen wird und deshalb von den Siedlern den Namen East River erhält. Im Norden geht er östlich in den Long Island Sound über, einen geschützten Seeweg zwischen der Insel und der Küste und westlich in den Harlem River, der die Verbindung zum Hudson herstellt und gleichzeitig Manhattan zur Insel macht. Im Süden bildet die Insel Staten Island eine Barriere vor dem offenen Atlantik, die Engstelle Verrazzano Narrows zwischen Staten Island und Long Island ist die Einfahrt in eine riesige Bucht, die Upper Bay. Südlich der Narrows, umgeben von Landzungen und Sandbänken, aber offener zum Meer, formt sich eine weitere, noch größere Bucht, die Lower Bay. Diese Landschaft, bestehend aus Flussmündungen und geschützten Buchten, bildet den New Yorker Hafen, einen der größten Naturhäfen der Erde. Aufgrund des riesigen Ausmaßes der Wasserflächen ist er bei Sturm nicht ganz ungefährlich, auch gibt es einige Untiefen trotz überwiegend tiefer Fahrrinnen. Deshalb setzte sich schon bald durch, dass der Hafen von New York nur mit Lotsen angefahren werden darf. Dieser riesige Anlaufpunkt für die Überseeschifffahrt war aber auch gleichzeitig ein Binnenhafen, denn über den schiffbaren Hudson River konnten Flussschiffe weiter nach Norden fahren und als 1825 der Eriekanal öffnete, war New York sogar mit den Großen Seen und dem St. Lorenz Strom verbunden, was die Bedeutung des New Yorker Hafens weiter erhöhte.

Die Anleger für die Schiffe wurden nordwestlich und nordöstlich der Südspitze Manhattans platziert, genau dort, wo das Zentrum der sich entwickelnden Stadt lag. Je größer sie wurde, desto mehr Kaimauern wurden gebaut. Legten die Schiffe anfangs längs des Ufers an, wurden später Piers ins Wasser hineingebaut, die das Festmachen quer zum Ufer und somit eine größere Kapazität an Schiffen ermöglichten. Mit der Ausdehnung der Stadt auf Brooklyn und Queens entstanden auch auf der östlichen Seite des East River neue Anleger, die sich immer weiter nach Norden fortsetzten. Gegen Ende des 19.Jh. bestand die komplette Wasserseite New Yorks aus Hafenanlagen, die die Stadt durch Piers, Kais und Lagerhäuser vom Wasser abriegelten. Für Passagiere entstanden große Terminals am Hudson und zur Kontrolle der Einwanderung wurde Ellis Island geschaffen, eine Insel vor Manhattans Südspitze, wo die Einwandererschiffe anlegen mussten und ihre Passagiere sich der komplizierten Prozedur (die mehrere Tage dauerte) der Immigration unterzogen. Auch im 20. Jh. setzte sich die Expansion des Hafens fort, neue Anlagen entstanden in Harlem, der Bronx und im südlichen Brooklyn. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg änderten sich die Bedingungen für die Schifffahrt grundlegend.

New York Harbor heute

Mit dem Ansteigen des Flugverkehrs sank gleichermaßen das Passagieraufkommen im Hafen von New York und auch die Art des Transports von Frachtgütern änderte sich. Ein großer Teil des Frachtaufkommens verlagerte sich auf die Straße, was die Binnenschiffahrt, die wegen der kalten Winter sowieso nur halbjährig betrieben wurde, obsolet machte. Der Großtransport erfolgte von nun an in Containern, für die man eine neue Generation von Frachtschiffen mit viel mehr Tiefgang entwickelte, die generell größer und vor allem immer höher wurden. Die vorhandenen Piers am Hudson und East River waren für diese veränderten Bedingungen in ihren Abmessungen ungeeignet, weil zu klein und viel zu eng aneinander gedrängt. Deshalb nahm man viele von ihnen außer Betrieb, schüttete dazwischen Land an und gewann auf diese Weise wertvollen Baugrund, wie z. B. für die Battery Park City und die Financial City. In weniger nachgefragten Gegenden in Queens und Brooklyn wurden die Hafenanlagen einfach außer Betrieb genommen und gammelten als Industriebrache Jahrzehnte lang vor sich hin. Um die Bedeutung des New Yorker Hafens trotz des Strukturwandels zu bewahren, beschlossen die beiden benachbarten Staaten New York und New Jersey, eine gemeinsame Hafenbehörde (Port Authority) zu gründen, die die Neuausrichtung des Schiffsverkehrs regeln sollte. Da von der Umstrukturierung nicht allein die Wasserwege betroffen waren, sondern auch die Bereiche Straßen- und Schienenverkehr sowie die Abwicklung alter und Schaffung neuer Infrastrukturen, übertrug man der Port Authority auch dafür die Verantwortung, wie auch für den Betrieb des neuen Bus-Terminals und des neuen Bahnhofs, den Santiago Calatrava unter dem WTC entwarf.

Ihre erste Maßnahme zur Umstrukturierung des Hafens war der Neubau eines Container-Terminals in New Jersey und die Konzentration des Frachtverkehrs auf zwei Standorte, Newark und Brooklyn Red Hook, wo noch genügend Platz für zukünftige Expansion vorhanden ist. Benutzt man heute die Fähre nach Staten Island, kann man ganz in der Ferne die Kräne der neuen Anlagen rechts am Ufer von New Jersey erkennen. Weit mehr als die Verlagerung des Hafenstandorts betreffen die neuen Arbeitsbedingungen die New Yorker Werktätigen. Gab es früher viele tausend Arbeitsplätze im Umfeld eines Hafens, so brachen diese jetzt drastisch ein. Ein Containerterminal gleicht einer Geisterstadt, weil die meisten Arbeitsprozesse vollautomatisch ablaufen und dadurch auch die traditionellen Handwerks- und Industriebetriebe im Umfeld eines Hafens obsolet geworden sind. Großschiffe werden jetzt in Fernost gebaut und gewartet, die Zubehörindustrie wird nicht mehr gebraucht. So geht heute ein ständig steigendes Frachtaufkommen mit ständig abnehmenden Arbeitsplätzen einher.

Passenger Terminals

Der Schiffspassagierverkehr hat sich in seiner Struktur ebenfalls enorm gewandelt. Kaum jemand fährt noch mit dem Ozeanriesen fünf bis sechs Tage über den Atlantik und zahlt dafür ab 2.500 €, wenn man mit dem Billigflieger in acht Stunden für 600 € in NY sein kann. Aber der Passagierverkehr existiert weiter, denn Kreuzfahrten haben seinen Platz eingenommen. Von hier aus führen viele in die Karibik, beliebt ist aber auch die kombinierte Atlantiküberquerung mit einem Flug und einer Passage. Die früher weiter südlich in Chelsea liegenden Piers für Passagierschiffe befinden sich in Hell‘s Kitchen nahe dem DeWitt Clinton Park und reichten ursprünglich von Nummer 84 bis 92, wovon aber nur zwei übrig blieben. Bei ihrer Erweiterung für Großschiffe genehmigten die Militärbehörden keine Verlängerung weiter in den Hudson hinein, deshalb hat man hier tatsächlich wertvollen Baugrund von Manhattan abgebaggert, um die für Ozeanriesen notwendige Länge hinzubekommen.

Pier 86 ist eine Museumsanlage, hier hat der 1974 außer Betrieb genommene Flugzeugträger Intrepid für alle Zeiten festgemacht. Das 1943 gebaute Kriegsschiff war im Zweiten Weltkrieg im Pazifik und während des Vietnamkrieges im südchinesischen Meer im Einsatz, seine spektakuläre Phase hatte es aber erst während des russisch-amerikanischen Weltraum-Wettlaufs, als es die Mercury- und Gemini-Kapseln im Pazifik und Atlantik wieder auffischte. Der Flugzeugträger ist heute Sitz des Intrepid Sea, Air & Space Museum, in dem diverses Kriegs-, Flug- und Weltraumgerät ausgestellt wird. Die spektakulärsten Ausstellungsstücke sind die Space Shuttle „Enterprise“, der Vorläufer aller weiteren Raumfähren und ein Exemplar der Concorde aus dem Besitz der British Airways. Dieses erste und einzige Überschall-Verkehrsflugzeug der Welt, von Briten und Franzosen gemeinsam entwickelt, sollte die Strecke von Paris und London nach New York in 3 1/2 Stunden bewältigen. Der Preis für die wahnwitzige Geschwindigkeit war (abgesehen vom teuren Flugticket) ein unvernünftig hoher Treibstoffverbrauch und eine nicht akzeptable Lärmentwicklung, die das Projekt über Jahre hinweg belasteten. Als 2000 eine von Paris nach New York bestimmte Maschine abstürzte, hatte man endlich einen triftigen Grund, das Projekt kurzerhand einzustellen. Dabei war der Absturz nur eine Verkettung unglücklicher Umstände gewesen: Ein in Paris auf der Fahrbahn liegendes Metallteil brachte den Reifen der Maschine zum Platzen, die Reifenteile wiederum durchschlugen den Tank des Flugzeugs, welches kurz darauf abstürzte, was jedem anderen ebenfalls widerfahren wäre.

Die Katastrophe der „Normandie“

Auf Pier 88 gab es während des Zweiten Weltkriegs ein spektakuläres Ereignis. Hier war das Flaggschiff der French Line, die „Normandie“ festgemacht, Trägerin des blauen Bandes für die schnellste Atlantiküberquerung und modernstes und gleichzeitig luxuriösestes Schiff seiner Epoche. Bedeutende Künstler hatten an der Gestaltung des Innern mitgewirkt wie Lalique, Ruhlmann und viele andere, so dass man es oft als „schwimmende Bühne des Art Déco“ und das „perfekte Passagierschiff“ bezeichnete. Ausgestattet mit allem, was heute beim Kreuzfahrt-Tourismus Standard ist – lichtdurchfluteter Speisesaal, Restaurants, Bars, Theater mit 380 Plätzen, Kino, Sauna, zwei Schwimmbäder, eines drinnen, das andere unter freiem Himmel, Kapelle, Tennisplatz, Klinik samt Zahnstation, Postamt mit Telefonzentrale und 80 m langer Ladenstraße – war ihm dennoch kein glückliches Geschick beschert. Seine Fertigstellung 1934 fiel noch in die Zeit der Weltwirtschaftskrise, in der selbst die Reichen kein großes Bedürfnis hatten, ihr Geld für Luxusreisen auszugeben, weshalb man die Jungfernfahrt auf 1935 verschob. Danach verblieben ganze fünf Jahre des Betriebs, in denen sich die „Normandie“ ihren legendären Ruf erwarb. Nach Kriegsausbruch 1939 blieb sie erst einmal an Pier 88 angedockt, während sich die Beziehungen zwischen den USA und Frankreich nach der Gründung des Vichy-Regimes drastisch verschlechterten. Auf die Rückforderung des Schiffes aus Vichy reagierten die USA ablehnend und übergaben es in die Obhut der Küstenwache, doch als sie nach Pearl Harbor 1941 selbst in den Krieg eintraten, beschlagnahmten sie es (gegen Zusage einer Entschädigung) und beschlossen, es zum Truppentransporter auszubauen. Das sollte ein deutliches Zeichen für das Engagement der Amerikaner im Kampf gegen diktatorische Regimes setzen und daraus erklärt sich auch die Umbenennung in „Lafayette“, zur Erinnerung an den französischen Kriegshelden, der die amerikanische Unabhängigkeit mit erkämpft hatte.

In New York gab es zu dieser Zeit kein ausreichend großes Trockendock, weshalb man beschloss, den Umbau am Pier 88 durchzuführen. Zwei Monate nach der Enteignung brach während der Arbeiten ein Brand aus, als hoch brennbare Rettungswesten durch Schweißbrenner entzündet wurden. Die sich daraus entfaltende Katastrophe wurde von Dilettantismus, Nachlässigkeit und Sicherheitsmängeln begünstigt. So existierten Betriebsanweisungen ausschließlich auf Französisch, es gab zu wenige Brandwachen und nicht genug funktionierende Feuerlöscher. Wegen starker Rauchentwicklung hatte man den Maschinenraum schnell evakuiert, so dass die sich selbst überlassenen Kessel nicht ausreichende Energie für die Lenzpumpen lieferten – und so füllte sich das Schiff allmählich mit Löschwasser und begann, sich zu neigen. Mit lautem Knall rissen die Haltetrossen ganze Poller aus ihrer Verankerung im Kai und schließlich legte sich die „Normandie“ unter ohrenbetäubendem Gerumpel komplett auf die Seite und beendete damit die Vision eines Truppentransporters „Lafayette“. Es war fast ein Wunder, dass bei dem ganzen Vorfall nur ein Mensch sein Leben verlor. Für die USA war das Unglück vor allen Dingen eines: Ausgesprochen teuer! Für elf Millionen Dollar musste das Schiff von den Decksaufbauten befreit und wieder aufgerichtet werden (den Plan, es einfach liegen zu lassen und mit Kies und Erde zu bedecken, hatte Bürgermeister Fiorello La Guardia sofort abgelehnt), dann schleppte man es an einen Pier in Brooklyn, wo es bis Kriegsende vor sich hindümpelte. Da Frankreich an einer Rückgabe des Wracks nicht mehr interessiert war, trat es bald seine letzte Fahrt zum Verschrotten an.

Manhattan Cruise Ship Terminal

Am Hudson River in Midtown, an den beiden Piers 88 und 90, befindet sich nun das Terminal, an dem Passagiere in New York City ankommen und abfahren und hier finde ich endlich die vor der Kulisse der Wolkenkratzer ankernden Ozeanriesen! Da das Kreuzfahrtaufkommen im Frühjahr deutlich geringer ist als im Sommer, ist mir dieser Anblick bisher entgangen. Außerdem ist das Manhattan Terminal nur noch auf eine Kapazität von drei Großschiffen gleichzeitig ausgelegt, so dass sich der Eindruck eines Großhafens wie z. B. im Piräus gar nicht einstellt. Auf das Anwachsen des Kreuzfahrttourismus hat die Port Authority jedoch mit dem Bau von zwei weiteren Terminals reagiert, in Bayonne, New Jersey und an der Außenseite des Atlantic Basin in Brooklyn. Dort ist auch der spektakuläre Ankerplatz der Queen Mary II, wenn sie nach New York kommt. Im Manhattan Cruise Ship Terminal hat die PA die zu kleinen Piers 92 und 94 verkauft (zusammen mit dem Empfangsgebäude werden sie für Ausstellungszwecke genutzt), doch fahren hier noch die Schiffe für Rundfahrten um Manhattan ab. An dieser Haltestelle kaufe ich mir ein Ticket um endlich das oben erwähnte Kulissen-Foto zu schießen.

South Street Seaport

Im südöstlichen Manhattan, direkt neben der Brooklyn Bridge, liegt das beeindruckendste Relikt des alten New Yorker Hafens, der South Street Seaport aus der Zeit um 1800. Es befindet sich im boomenden Financial District: Vor der Kulisse immer höher wachsender Wolkenkratzer und wie aus der Zeit gefallen, stehen an der Kreuzung Fulton Street/South Street plötzlich mehrere einfache, alte Backsteinhäuser, die zum originalen Umfeld des alten Hafens gehörten und früher von Handelshäusern, Schiffsausrüstern, Werkstätten, Absteigen, Saloons und Bordellen genutzt wurden. Direkt davor, aber abgeriegelt durch den F. D. Roosevelt Drive, die Hauptverkehrsader am East River, liegen die heute nicht mehr für den Hafenbetrieb genutzten Piers. Die Straße ist als Elevated Highway ausgebaut, den man zwar unterqueren kann, der aber die Blickverbindung zwischen den alten Häusern und den Piers am Wasser verstellt und obendrein ein Quell ständigen Lärms ist.

Schon 1625 gab es an der gleichen Stelle den ersten Anleger der Niederländischen Westindiengesellschaft, von dem aus Schiffe in alle Weltmeere aufbrachen. Seitdem ist wuchs der Hafen beständig und das Viertel passte sich kontinuierlich den jeweiligen wirtschaftlichen Veränderungen, so wurde z. B. Land im East River angeschüttet, um Platz für neue Hafenanlagen zu schaffen. Diese Maßnahme hat später ungewollt verhindert, dass auch der authentische Platz des South Street Seaport vom Hochhausboom verschlungen wurde. Fundamente eines Wolkenkratzers sind auf angeschüttetem Gelände wesentlich schwieriger und teurer zu legen als anderswo, deshalb zogen die Bauherren lieber den festen Grund im Innern Manhattans vor und vernachlässigten das Viertel am Ufer. Da das Fahrwasser am East River für die immer größer werdenden Schiffe nicht mehr tief genug war, verlor der Hafen an der South Street allmählich seine Bedeutung. Auch der Fulton Fish Market, wichtigster Handelsplatz für Fisch in New York, wurde von der South Street in die Bronx verlegt, da die Anlieferung von Fischen schon lange nicht mehr per Schiff erfolgte. Mit der Aufgabe der Hafenanlagen und des Fischmarktes zogen auch die Gewerbebetriebe weg, die Häuser verfielen und schließlich drohte dem Ganzen der Abriss.

Aber trotz des Niedergangs wurde bereits 1967 der Vorläufer des heutigen Museums gegründet und ab 1980 setzte sich eine Bürgerinitiative für die Erhaltung und Renovierung des historischen Viertels ein. Gelingen konnte das allerdings nur, wie in New York üblich, über eine profitable Umnutzung, die aber schwer in Gang kam, da das ganze Viertel 2012 vom Hurrikan Sandy verwüstet wurde. Die Umgestaltung sah – nicht sehr originell – die Errichtung eines Shopping Centers mit Food Court und Restaurants vor, die in einem Stahl-Glas-Neubau auf dem breiten Pier 17 nach dem Abriss des Vorgängerbaus entstanden. Auch der ehemalige Fulton Fish Market, dessen vergammeltes Blechkisten-Gebäude das Viertel seit zehn Jahren verschandelt, soll als Nobel-Seafood-Market in „originaler Architektur des 19. Jh.“ wieder erstehen. Der begrüßenswerte Synergieeffekt dieser zweifelhaften Maßnahmen kam mit dem Ausbau des South Street Seaport Museums und der Verschönerung seines Umfelds sowie der Gründung eines Vereins zum Ankauf und der Unterhaltung historischer Schiffe. Das Schicksal der vielen anderen, zwar herunter gekommenen, aber malerischen Backsteinhäuser an der South Street ist dagegen noch ungewiss, ihr Zustand lässt auf nicht Gutes hoffen.

Der renovierte Kai bietet wunderbare Ausblicke auf die Brooklyn Bridge, den hier sehr breiten East River und hinüber nach Brooklyn. Die Piers des alten Hafens wurden wieder belebt: Pier 17 ist besagte Shopping Mall, Pier 16 Ankerplatz für Schiffe des Oldtimer-Vereins, Pier 15 die East River Esplanade, ein kommerzfreier öffentlicher Raum zum Flanieren und Faulenzen auf den überall aufgestellten Liegen und 200 m entfernt, Pier 11 als Landestelle für Fähren in alle Richtungen. (Hier bestiegen wir die Ikea-Fähre nach Red Hook, von der ich im Brooklyn-Kapitel erzählen werde). Die entspannte Freizeitatmosphäre auf dem Kai wird nur durch das Knattern des Downtown Manhattan Heliport (noch weiter südlich auf Pier 6) gestört, über den die Heuschrecken des Financial District ihre Ziele staufrei per Hubschrauber erreichen. Als alter Seebär kehre ich lieber zum Pier 16 zurück und labe mich am Anblick der Schiffe, darunter ein Feuerschiff, mehrere Feuerlöschboote und zwei Segelschiffe, bei deren Anblick mir das Herz im Leibe lacht: Die „Peking“, ein imponierender 4-Master, schon ganz aus Stahl und die „Wavertree“ von 1885, einer der letzten Windjammer überhaupt, mit einer (für Segelschiffe) erstaunlichen Länge von fast 100 m.

19 Brooklyn

Unter dem Namen Breuckelen von den Bewohnern der Kolonie Nieuw Nederland auf Long Island gegründet, war Brooklyn 250 Jahre lang, bis 1898, eine eigenständige Stadt – mit zu diesem Zeitpunkt bereits einer Million Einwohner. In selbstbewusster Manier grenzte es sich vom benachbarten New York ab und suchte es in mancher Hinsicht sogar zu übertreffen. So legte man nach dem Vorbild des Central Park den Prospect Park an, in dem auch der Zoo, der botanische Garten und das Museum unterkamen. Letzteres, entworfen vom führenden Architektenbüro seiner Zeit, sollte – ähnlich wie das gerade fertig gestellte Metropolitan Museum – ein Universalmuseum werden und zudem das größte der Welt. Der Park wurde – wie sein Vorbild – mit Denkmälern und künstlichen Seen ausgestattet.

Die Anfang des 19. Jh. in Brooklyn entstehende industrielle Infrastruktur mit Schlachthöfen, Brauereien und Fabriken gab vielen Einwohnern Lohn und Brot. Dazu kam, dass sich der New Yorker Hafen schon längst auf das andere Ufer des East River ausgedehnt hatte, da hier genauso gute Anlegemöglichkeiten wie in Manhattan existierten, mit Buchten, Flussmündungen, Kanälen und Bassins. Und dazu noch – im Gegensatz zu jenem – mit jeder Menge Platz. Kein Wunder, dass das gesamte Gewerbe, das in irgendeiner Weise mit der Hafennutzung verbunden war, in Brooklyn – und dort besonders in Red Hook – konzentriert war: Werften, Stahlbetriebe, Seilereien, Zimmereien, Lager- und Kühlhäuser. Größere Industriebetriebe, die in Manhattan schon lange keine Grundstücke mehr fanden, zogen bevorzugt auf die andere Seite. Die soziale Zusammensetzung der Einwohnerschaft ergab sich für lange Zeit aus diesen ökonomischen Bedingungen: Neben Handwerkern und kleinen Unternehmern waren es vor allem Arbeiter, die – wie überall in der Neuen Welt – aus den Armutsgebieten Europas hierher kamen. Sie lebten in Brooklyn Heights, Greenpoint und Williamsburg in drei- bis vierstöckigen Backsteinhäusern aus der Mitte des 19. Jh., die direkt hinter den Hafenanlagen empor wuchsen. Ein großes Problem war Brooklyns Lage auf Long Island, die die Kommunikation mit Manhattan erschwerte, wo ebenfalls viele der in Brooklyn Arbeitenden wohnten. Nach dem Bau von Brücken, Tunneln, Eisenbahn- und Subwaylinien waren die beiden Städte schließlich so eng miteinder verbunden, dass 1898 die Vereinigung vorgenommen wurde und auch Brooklyn Teil des rasanten Aufstiegs zur Megacity wurde. Überall entstanden neue Wohngebiete, darunter riesige Siedlungen im sozialen Wohnungsbau, so dass die Zusammensetzung der Bevölkerung im mittlerweile auf 2,5 Mio Bewohner angewachsenen Borough immer problematischer wurde: Weiße waren in der Minderheit und viele der hier lebenden Latinos, Puertorikaner und Ostasiaten sprachen kaum Englisch. Außerdem begaben sich seit dem amerikanischen Bürgerkrieg unzählige Schwarze auf der Suche nach besseren Arbeitsbedingungen in den Norden. Da ihr Ausbildungsstand und die Bezahlung ihrer unterqualifizierten Arbeit nur gering war, gehörten auch sie bald zu dem Heer der Unterprivilegierten, die ganze Neighborhoods in Brooklyn bewohnen. Die größte unter ihnen, East New York, beherbergt 180.000 Menschen, davon mehr als die Hälfte Sozialhilfeempfänger, 3,5 % Weiße und der übliche Bevölkerungsmix aus Schwarzen, Puertorikanern, Hispanics, Ostasiaten und Russen. Dieser von Kriminalität, Drogensucht und gewalttätigen Auseinandersetzungen der Bewohner untereinander geprägte Bezirk gilt schon lange als no go area. Eine Besonderheit stellen die ultraorthodoxen Juden aus Russland und Osteuropa dar, die seit den 1970er Jahren massenhaft einwanderten und jetzt, abgeschottet und integrationsunwillig, in eigenen Neighborhoods nach eigenen Regeln leben.

Die Tragik der Brooklyn Bridge

Im 19. Jh. bewältigten diverse Fährlinien den Verkehr zwischen Brooklyn und New York, die aber oft von schlechten Wetterbedingungen wie Schnee, Eis und eingeschränkt wurden. Einem Brückenbau über den East River stellten sich zwei erhebliche Hemmnisse entgegen, zunächst einmal die Breite des Flusses (in Wirklichkeit eine Meerenge zwischen den Inseln Manhattan und Long Island) von über 600 m, die bisher noch nirgendwo auf der Welt überspannt worden war und dann die Höhe, die die Brücke haben musste, um nicht zu einem Hindernis für die Schifffahrt zu werden (immerhin fuhren zur Zeit ihrer Erbauung 1883 noch Segelschiffe mit 35 m hohen Masten!). Die Idee für den Bau der Brooklyn Bridge geht auf den Ingenieur Johann August Röbling zurück, der 1837 aus Thüringen in die USA eingewandert war und seinen Namen später in John A. Roebling amerikanisierte. Nach einem Studium an der Bauakademie in Berlin hatte er sich auf den Bau von Hängebrücken spezialisiert, bei denen die Fahrbahn an dicken Kabeln aufgehängt ist, die von zwei am Ufer stehenden Türmen (Pylonen) aus gespannt sind. Die Konstruktion solcher Kabel entwickelte er weiter und produzierte in seiner eigenen Seilerei Tragseile, die aus hunderten einzelner, zusammengedrehter Stahldrähte bestanden. Mit der Niagara Falls Hängebrücke von 1854, die eine Spannweite von 250 Metern aufwies, hatte er sich bereits ein gewisses Renommee in seinem Metier erworben und 1867 erreichte er mit den 304 Metern der Brücke über den Ohio River die damals längste Spannweite der Welt. Zur Überbrückung des East River reichte das jedoch noch keinesfalls aus.

In einem Schreiben an den Bürgermeister regte Roebling den Bau einer Hängebrücke zwischen New York und Brooklyn an, deren Seile an zwei riesigen, mitten im East River zu errichtenden Pylonen aus Granit hängen sollten. Diese sollten 486 m voneinander entfernt stehen, was eine um 180 m größere Spannweite als bei der bisher längsten Brücke ergab. Aus Sicherheitsgründen sah er eine Kombination aus Hänge- und Schrägseilbrücke vor: Die Fahrbahn hing einesteils an senkrechten Seilen, die an den Tragekabeln angebracht waren und andererseits an Schrägseilen, die direkt zu den Pylonen führten. Die leicht nach oben gebogene Fahrbahn war ein durch Stahlfachwerk ausgesteifter Kasten, der dadurch den hier herrschenden starken Winden trotzen sollte. Roeblings Pläne fanden bei den Verantwortlichen zwar großes Interesse, aber der amerikanische Bürgerkrieg, die hohen Kosten und die Konstruktionsprobleme sorgten dafür, dass zunächst nichts geschah. Erst als die Stadt – wiederum durch Roeblings Initiative – ein privates Konsortium mit dem Bau der Brücke betraute, konnte 1869 endlich begonnen werden. Doch noch vor dem eigentlichen Start der Bauarbeiten verstarb der Ingenieur auf tragische Weise. Bei einem der vielen Besichtigungstermine hatte er sich bei der Landung einer Fähre den Fuß eingequetscht, worauf ihm einige Zehen amputiert werden mussten. Da er als Anhänger der Homöopathie nichts von Arzneimitteln hielt und die Wunde nur mit Wasser behandelte, verstarb er am Wundstarrkrampf.

Die Leitung der Bauarbeiten ging nun auf seinen (bereits in den USA geborenen) Sohn Washington A. Roebling über, der von Anfang an dabei gewesen war und außerdem die väterliche Drahtseilfabrik in Trenton leitete. Er begann mit der Errichtung der beiden im Wasser stehenden Pylone, der größten Herausforderung des ganzen Projekts. Ihre Fundamente mussten in 14 m Tiefe auf New Yorker Seite und in 24 m auf Brooklyns Seite im East River gelegt werden; dazu bediente sich Roebling der in den USA zuvor noch nie angewandten Caisson-Technik: Riesige rechteckige, unten offene Kästen aus Holz oder Stahl wurden durch Gewichte auf den Grund des Gewässers gedrückt, ein Überdruck im Innern hielt das Wasser fern. Drinnen mussten die Arbeiter bei Licht von Gaslampen und Kerzen sowie in äußerst stickiger Luft und dem besagten Überdruck den Boden Zentimeter für Zentimeter ausschachten, bis fester Untergrund erreicht war. Insbesondere bei hartem (aber dennoch nicht tragfähigem) Boden zog sich das endlos dahin und deshalb entschloss sich Roebling – nach etlichen Versuchen – auch Sprengungen im Caisson vorzunehmen. Das riskante Verfahren beschleunigte die Ausschachtung immerhin und anschließend ging man an das Gießen der Betonfundamente. Die größte Gefahr bei all diesen Arbeiten stellte die so genannte „Caissonkrankheit“ (auch „Taucherkrankheit“) dar, die beim Wechsel von erhöhten Druckverhältnissen zu Normaldruck auftreten kann. Bei zu raschem Druckausgleich bilden sich Gasbläschen im Blut, wodurch Juckreize, Hautrötungen, aber auch lebensbedrohliche Gefäßverschlüsse (Gasembolien) ausgelöst werden können. Dieses Phänomen war damals noch nicht hinreichend bekannt, weshalb hunderte von Arbeitern – und auch Washington Roebling – schwerste gesundheitliche Schäden erlitten. Bei ihm führten sie dazu, dass er für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen musste und sich nur schwer konzentrieren konnte. Erst nach diesen Vorfällen ging man dazu über, den erhöhten Druck nach dem Arbeitseinsatz kontrolliert und vor allem langsam zu reduzieren – in extra eingerichteten Druckschleusen.

Insgesamt 20 Menschen verloren ihr Leben auf der Baustelle und die Unglücke setzten sich auch noch fort! Kurz vor Ende der Fundamentierungsarbeiten brach in einem der hölzernen Caissons ein Brand aus, der nicht gelöscht werden konnte. Als allerletzte Maßnahme ließ Roebling den Senkkasten fluten, was die Bauarbeiten erheblich verlängerte. Nach dem Verfüllen der Kästen mit Beton wuchsen dann die Pylone in die Höhe. Auch damit hatten die Rückschläge noch längst kein Ende: Beim Spannen der Haltekabel kam heraus, dass der Produzent einen minderwertigeren Draht geliefert hatte als vorgesehen. Eine Neuberechnung der Tragfähigkeit ergab allerdings, dass diese immer noch vier mal so hoch war wie nötig. Der Architekt wurde bei der Arbeit zunehmend von seiner Frau unterstützt, die sich im Verlauf des Brückenbaus das notwendige mathematische Wissen und die Ingenieurkenntnisse im Selbststudium beigebracht hatte. Als Bauleiterin setzte sie seine mündlichen und schriftlichen Anweisungen akkurat und umsichtig um – zusätzlich zur Pflege ihres immer weniger belastbaren Mannes. Ihre Stunde kam, als das Konsortium Roebling wegen Arbeitsunfähigkeit absetzen wollte: Souverän verteidigte sie seine Baupläne und zeigte, dass sie kompetent genug war, sie zu einem glücklichen Ende zu führen.

Da war es dann kein Wunder, dass bei der Einweihung von Washington Roeblings Lebenswerk, der er krankheitsbedingt fernbleiben musste, Emily Roebling die Ehrengäste anführte und die erste war, die das Wunderwerk überquerte. Auf den beiden Bronzetafeln, die an den Pylonen angebracht sind, wird ihr Verdienst um die Fertigstellung der Brücke gewürdigt. Trotz seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung erreichte Roebling übrigens ein biblisches Lebensalter von 89 Jahren und überlebte seine Frau um 23 Jahre. Am der Eröffnung folgenden Tag überquerten bereits Tausende von Menschen das Bauwerk, das sich in 41 m Höhe über dem East River erhebt. Viele waren sich allerdings unsicher, ob solch ein Riesenbauwerk auch allen Belastungen standhalten könnte und dieses Unsicherheitsgefühl führte zum ersten Unfall nach der Inbetriebnahme: Eine Passantin war mit ihrem Absatz im hölzernen Brückenbelag stecken geblieben und gestürzt, eine andere hatte laut aufgeschrien und schon brach allgemeine Panik aus, weil viele dachten, dass die Brücke jetzt einstürzen würde. Zwölf Leute wurden auf den Treppen zu Tode getrampelt, sieben schwer und 28 weitere leicht verletzt. Um dieses Desaster vergessen zu machen, veranstaltete der „Zirkuskönig“ P. T. Barnum 1884 eine Elefantenparade mit 21 Tieren von Brooklyn nach Manhattan, was den Passanten erneutes Vertrauen in das Bauwerk und dem Direktor eine kostenlose Werbeveranstaltung für sein Unternehmen bescherte. Am Columbus Day 1892 überquerten zur Feier des 400-jährigen Jubiläums der Entdeckung Amerikas 250.000 Menschen die Brooklyn Bridge.

Selling Brooklyn Bridge

Wer sie benutzen wollte, musste an einer Kontrollstelle anfänglich 1 Cent als Fußgänger, 5 Cents als Reiter und 10 Cents für Pferd und Wagen bezahlen. (Auch Nutztiere waren mautpflichtig, 5 Cents für eine Kuh, und 2 Cents für ein Schwein oder Schaf). Die Fußgänger-Maut fiel bereits 1891 und der Rest 1911. Auch heute noch ist die Benutzung frei, im Gegensatz zur Washington Brücke im Norden und der Verrazzano Brücke im Süden mit (happigen) 15 – 17 $ pro Fahrt. Die Vision, ein durch Brückenzoll profitables Objekt an Dumme zu verkaufen, rief viele Betrüger auf den Plan, darunter den berüchtigtsten von allen, George C. Parker (1870 – 1936). Er pirschte sich an wohlhabende Touristen heran (oftmals hatte er sie bereits bereits bei der Ankunft am Hafen ausgespäht) und präsentierte ihnen beeindruckende Dokumente, die ihn als Besitzer des jeweiligen Bauwerks auswiesen. Seine Seriosität unterstrich er mit einem eigenen Büro, in dem die Verkaufs-Transaktion vollzogen wurde. Der Erfolg dieser Betrügereien speiste sich aus dem naiven Glauben vieler Reisender an die USA als Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Parkers Geschäfte liefen so gut, dass er die Brücke mehrere Jahre lang zwei Mal wöchentlich verkaufte. Die Polizei bekam sofort mit, dass er erneut einen Blödian gefunden hatte, wenn sie wieder einmal die vom neuen „Besitzer“ errichteten Kontrollschranken auf der Brücke abreißen musste. Parker jedoch wurde immer dreister, in seinem Portfolio befanden sich nunmehr auch der Madison Square Garden, die Freiheitsstatue, das Metropolitan Museum of Art und das Mausoleum von Ulysses S. Grant (Abraham Lincolns General im Bürgerkrieg und späterer Präsident). Dieses größte Grabmonument Nordamerikas verkaufte er, indem er vorgab, der Enkel des Heros zu sein. Natürlich wurde er oftmals gefasst und auch dreimal wegen Betrugs verurteilt, aber er konnte von den lukrativen Betrügereien nicht ablassen; als Quittung erhielt er nach seiner letzten Verurteilung 1928 lebenslange Haft in Sing Sing. In den restlichen acht Jahren seines Lebens war er bei Wärtern und Mitgefangenen gleichermaßen populär, da kein anderer solch unglaubliche Storys im Repertoire hatte. Und obendrein wurde die Brooklyn-Bridge-Posse sprichwörtlich, weil man einem Leichtgläubigen auch heute noch sagt: „… I have a bridge to sell you“.

Zu Fuß über den East River

Die beiden Rampen bis zum Ufer verleihen der Brooklyn Bridge eine Länge von 1053 m, setzen sich allerdings noch weiter auf beiden Ufern fort, da sie bis zur Absenkung auf das Bodenniveau endlose Auffahrten benötigen. Für ihren Bau mussten in den beiden Stadtteilen an der Landung der Brücke sehr viele (auch historische), Häuser abgerissen werden. (Auf Manhattans Seite z. B. das Haus, in dem George Washington während seiner Präsidentschaft in der damaligen Hauptstadt gewohnt hatte). Der Fußgänger kommt sich hier ausgesprochen diskriminiert vor, weil er inmitten von Autoabgasen lange Wege und viele Treppen bewältigen muss, bis er endlich, hoch oben auf der Brücke, den Fluss überqueren kann. Dann allerdings wird er reich belohnt: Fußgänger und Radfahrer haben die obere der zwei Verkehrsebenen ganz allein für sich, während darunter unablässig der mehrspurige Autoverkehr tobt. Früher ging es da wesentlich ruhiger zu, als neben den Fußgängern nur die Pferdekutschen der betuchten New Yorker über die Brücke rollten. Gleise für die Pferdebahn (und später die Subway) leiteten dann das Zeitalter des Massenverkehrs ein, während wir uns heute bereits in der Endphase des automobilen Verkehrs befinden. Da ist es tröstlich zu wissen, dass die Überquerung zu Fuß immer dieselbe geblieben ist.

Besonders bei schönem Wetter ist es auf der Brücke immer voll, 4000 Menschen nehmen jeden Tag den Fußweg auf sich – überwiegend Touristen, aber auch Jogger und Radfahrer, die hier schon einmal einen vorgegebenen Parcours von mindestens 2 km vorfinden. Die Touristen sind entzückt vom Bilderbuchblick, den sie hier auf Manhattan haben, aber auch vom Bauwerk selbst, einem der top sights von NY: Da gibt es die zwei imposanten Granittürme mit ihren gotischen Spitzbögen, die unglaublich dicken Tragseile, die sich in weiter Kurve über die Breite des East River schwingen, die bis zur Mitte hin sanft ansteigende Fahrbahn mit dem darüber liegenden Fußweg, beides in Schwindel erregender Höhe über dem Fluss mit den von hier aus klitzekleinen Schiffen – und die jedes Jahr beachtlicher werdende Skyline von Brooklyn.

Umbruch

Die Neighborhood am anderen Ufer, Brooklyn Heights, bietet einen merkwürdigen Anblick, da sich die niedrigen Häuser und Speicher am Wasser – aus dem Ende des 19. Jh. – unter der riesigen Zufahrtsrampe der Brücke ducken. Hier ist anstelle von Hafenpiers und der Station der Fulton Ferry nach Manhattan mittlerweile ein völlig gentrifiziertes Stadtviertel entstanden – mit allem, was dazu gehört: Parks, sündhaft teuren Apartments in schicken Wohnblocks, entworfen von namhaften Architekten, dazu entsprechende Szenekneipen und Geschäfte in aufgemotzten alten Industriebauten. Das gilt auch für das benachbarte, unter den Auffahrten der Brooklyn- und Washington Bridge liegende Stadtviertel Dumbo (Down Under Manhattan Bridge Overpass), das durch den neuen Brooklyn Bridge Park am Ufer des East River mit Brooklyn Heights verbunden ist. Schon von der Brücke aus kann man den vom französischen Stararchitekten Jean Nouvel entworfenen Glaskubus sehen, der Jane’s Carousel beherbergt. Das ist ein historisches Kinderkarussell von 1922 mit 48 geschnitzten Pferden, das erste, das je unter Denkmalschutz gestellt wurde und 60 Jahre lang in einem Vergnügungspark in Ohio aufgebaut war. Nach dessen Schließung wurde es 1984 auf einer Auktion für 385.000 $ von einem reichen Brooklyner Ehepaar erworben. 27 lange Jahre dauerte die Restaurierung, bis es die Besitzer – zusammen mit dem Pavillon – dem Borough of Brooklyn schenkten. Kurz nach seiner Aufstellung im Park von Hurrikan Sandy schon wieder beschädigt, steht es nun nach erneuter Restaurierung für das neue Brooklyn. Denn die Zusammensetzung der hiesigen Bevölkerung hat sich in den letzten 40 Jahren gewaltig verändert: Mit der Umstrukturierung des Hafens ging ein Niedergang in vielen gewerblichen Bereichen einher, im Schiffsbau, in der Metallverarbeitung und im Betrieb von Hafenanlagen und Lagerhäusern. Viele Arbeitsplätze gingen verloren, Werktätige und Betriebe zogen aus Brooklyn weg in die Bronx und hinterließen Industriebrachen und leerstehende Mietshäuser. Das wiederum zog Immobilienspekulanten an, die das wieder verwendbare Alte restaurierten und mit luxuriösem Neuem ergänzten – nur für eine völlig andere Klientel, nämlich die der Karussellbesitzer.

Das angrenzende Viertel Downtown Brooklyn ist das ehemalige Stadtzentrum der einst selbstständigen Stadt, hier stehen an der Cadman Plaza die Brooklyn Borough Hall (das ehemalige Rathaus, ein schöner klassizistischer Bau von 1848 und ältestes öffentliches Gebäude) und gepflegte Wohnbauten. Es gibt auch einen kuriosen Trinity Park, der nur als Aufmarschfläche für die Rampen der Manhattan und Brooklyn Bridge dient.

Die zwischen Manhattan Bridge und Williamsburg am East River gelegene Neighborhood Vinegar Hill ist ein gutes Beispiel für Brooklyn im Umbruch. Entstanden im 19. Jh. als Wohnviertel irischer Hafenarbeiter (sein Name erinnert an die gleichnamige Schlacht in Irland von 1798, die die einheimischen Aufständischen gegen die Engländer verloren) war es durch Werften und Industrieanlagen vom Wasser abgeriegelt. Der am östlichen Ende des Viertels gelegene Brooklyn Navy Yard, einstmals die größte Militärwerft der USA, wurde 1801 von der Regierung der USA erbaut; 160 Jahre lang entstanden hier die Kriegsschiffe der US Navy, bevor man die Produktionsstätte 1966 aufgab. In den riesigen Trockendocks werden heute zwar noch einige (zivile) Schiffe gebaut, aber der größte Teil des Geländes befindet sich im Prozess der Umnutzung oder liegt still. Das trifft auch auf den Rest der Uferzone zu, eine trostlose Industriebrache mit Ruinen von Fabrikhallen, Tanks und heruntergekommenen Gebäuden. Aber überall im Viertel gibt es noch die mit Kopfstein gepflasterten Straßen, gesäumt von denkmalgeschützten zwei- und dreistöckigen Wohnhäusern aus der Mitte des 19. Jh. Hierhin, wo sich vor 150 Jahren illegale irische Schnapsbrennereien breit machten, zieht es die neuen, gut situierten Bewohner, während die Arbeiter längst in billigere Viertel abgezogen sind. Am östlichen Rand von Vinegar Hill, gut sichtbar von der Evans Street, aber eingeschlossen in einem kleinen privaten Park, liegt ein verborgenes Juwel Brooklyns: Commandant’s House, ein palaisartiges klassizistisches Holzhaus von 1801, erbaut für den jeweiligen Kommandanten des Brooklyn Navy Yard. 1840 wohnte hier Commodore Matthew Calbraith Perry (1794-1858), der „Erfinder“ der Kanonenboot-Politik. Während der berühmt-berüchtigten Perry Expedition 1852-54 erzwang er die Öffnung der japanischen Häfen für amerikanische Handelsschiffe und begründete damit eine amerikanische Außenpolitik, die uns bis heute Sorgen bereitet. Das ovale Arbeitszimmer im Innern des Gebäudes soll verblüffende Ähnlichkeit mit dem Oval Office des Weißen Hauses aufweisen, aber das kann ich leider nicht überprüfen. Warum dieses historisch und künstlerisch wertvolle Kleinod unbewohnt und unzugänglich vor sich hin gammelt, erscheint einem angesichts der um sich greifenden gentrification Brooklyns einfach nur rätselhaft.

Auf dem Rückweg nach Manhattan orientiere ich mich an der Silhouette der Brücke und verwechsele dabei Washington- mit Brooklyn Bridge, erst dabei fällt mir auf, um wieviel schlanker und eleganter Washington Bridge ist, obwohl sie länger ist und wesentlich mehr Verkehr darüber läuft. Im Dreieck zwischen East River und den beiden Brücken, mitten in Dumbo, verirren wir uns gewaltig und es erscheint unmöglich, Brooklyn Bridge zu Fuß zu erreichen. Hier bekommen wir am eigenen Leibe mit, wie stark die nur für Autos vorgesehenen Brückenauffahrten das Viertel zerschneiden und den Fußgänger ausschließen. Ein von uns angesprochener freundlicher Autofahrer (mit familiären Wurzeln im Deutschland des 19. Jh., wie sich im Gespräch herausstellt) lässt seinen Wagen stehen und begleitet uns persönlich zu einem absolut versteckten Aufgang zur Brooklyn Bridge, den wir ohne seine Hilfe nie gefunden hätten.

Historische Neighborhoods: Williamsburg

Williamsburg, seit 1903 durch die gleichnamige Brücke mit Manhattan verbunden, galt in den letzten 20 Jahren als „Geheimtipp“ unter den New Yorker Neighborhoods. Die Nähe zum sehr teuer gewordenen Manhattan motivierte Studenten, Kunstschaffende, junge Ehepaare, aber auch Anwälte und Finanzjongleure dazu, sich in dem nur wenige Subway-Stationen von Manhattan entfernten Quartier niederzulassen. Überall schossen Bistros, Espressobars und Antiquitätengeschäfte aus dem Boden und abends entfaltete sich eine lebendige Musikszene, aber – wie überall auf der Welt – sorgt der Geheimtipp-Status auch dafür, dass die paradiesischen Zustände schnell wieder verschwinden. Williamsburg z. B. erlebt gerade einen heftigen Prozess der Gentrification, der sich in steigenden Mieten, explodierenden Immobilienpreisen und Vertreibung der Altansässigen bemerkbar macht.

Seine frühere Bezeichnung Dutchtown ist nicht von den Niederländern abgeleitet, sondern bezieht sich in verballhornter Form auf die Deutschen, die hier im 19. Jh. bevorzugt wohnten, zum Beispiel Karl Pfizer, der 1848 den gleichnamigen Pharmakonzern gründete. Später gesellten sich noch deutsche Juden und Iren dazu, die in den niedrigen Backsteinhäusern von 1880 lebten, die heute noch überall in Brooklyn herumstehen. Die neu ankommende Schickeria bezeichnete diese Häuser fälschlich als „Brownstones“, was ihren Wert schlagartig in die Höhe trieb. Dabei sind solche, in New York Kultcharakter genießende Gebäude mit den Mietshäusern Brooklyns gar nicht zu vergleichen. Ein Brownstone ist ein zwei- bis dreistöckiges schmales Reihenhaus aus Ziegeln, das mit rötlich-braunen Sandsteinen in gleichem Format verkleidet ist. In der Regel führt eine steile Außentreppe (stoop) von der Straße bis zum Eingang im Hochparterre, unter dem ein ebenfalls bewohntes Souterrain liegt. Brownstones sind Einfamilienhäuser, auf deren Rückseite sich ein schmales Gärtchen befindet. „Dank“ der Gentrification blättern gut Betuchte schon mal 7 Mio Dollar für solch ein Häuschen hin. Zu den Prominenten dieser Preisklasse in Williamsburg gehören der Autor Henry Miller (1891–1980), der Regisseur und Schauspieler Mel Brooks (* 1926), die Musiker Barbra Streisand (* 1942), Barry Manilow (* 1943) und Peter Criss (* 1945 Mitglied der Band Kiss), der Comiczeichner Will Eisner (1917–2005) und die Autorin Deborah Feldman (* 1986), die sich mit dem Leben als orthodoxe Jüdin im Viertel auseinandersetzt. Aber auch „Bugsy“ Siegel (1906–1947), legendärer Gangster und Mörder im Dienst der Kosher Nostra stammte von hier.

Unser Sohn hat einen Freund, dessen dänische Frau ihr Land bei der UNO vertritt und für diese auswärtige Mission die Miete in einem Brownstone (10.000 $ im Monat) vom dänischen Staat finanziert bekommt. Es liegt in einer jetzt sehr schicken Ecke von Williamsburg und bei einem Familienfest haben wir die Gelegenheit, es von innen zu sehen. Aber zunächst erfahre ich auf meine Nachfrage, warum die Familie denn nicht die Monatsmiete kassiert und sich eine billigere Unterkunft nimmt, dass der dänische Staat so etwas nicht gestattet. Seine Bediensteten müssen, um das Ansehen des Landes zu wahren, in „standesgemäßen“ Immobilien untergebracht sein, auch wenn das 120.000 $ im Jahr kostet – eine Stange Geld für solch ein kleines Land. Im Innern des Häuschens ist es eng, die Zimmer gehen in der Regel von der Front bis zur Rückseite durch – wie in den „Railroad Apartments“ in Manhattan, die pro Stockwerk nur ein (endlos langes) Zimmer besitzen. Aber dafür gibt es drei Stockwerke und das Souterrain. Wir kommen auch in den Genuss des Gartens, denn dort wird gegrillt – eine Lieblingsbeschäftigung der dänisch-deutschen Familie.

Unsere Enkelin hat ihre Studentenbude ebenfalls in Williamsburg und durch sie bekommen wir den „normalen“ Wohnstandard im Viertel mit. Sie bewohnt ein fake brownstone, das in den letzten 50 Jahren keine Renovierung mehr gesehen hat. In einer WG hat sie das kleinste Zimmer mit Abmessungen von kaum größer als ihrem Bett. Das musste sie, bei niedriger Deckenhöhe(!), zum Hochbett umbauen, damit wenigstens ihr Schreibtisch darunter passt und als Arbeitsplatz dienen kann. Eine Zentralheizung hat die Wohnung nicht mehr, seit sie vom landlord herausgerissen wurde, um die Wartungskosten zu sparen. (Dass die englische Sprache eine solch noble Bezeichnung für habgierige Miethaie hat, erzürnt mich). Anstelle der Zentralheizung gibt es ineffiziente Elektroheizkörper, die von den Mietern auf eigene Kosten betrieben werden. Unsere Enkelin zahlt für ihr „begehbares Bett“ 650 $ plus Heizkosten! Da man sich in ihrer „Wohnung“ nicht aufhalten kann, zeigt sie uns stolz ihre Neighborhood und wir bekommen ein wenig davon mit, was die New Yorker gut daran finden. Am East River hat man auf ehemaligen Industrieanlagen den East River State Park angelegt, von dem man einen fantastischen Blick auf die Skyline von Manhattan bis hin zum UN-Gebäude hat.

International bekannt geworden ist Williamsburg durch die hier wohnenden ultraorthodoxen Juden. An ihrem Beispiel kann man die durchaus befremdlichen Auswirkungen gewollter Nicht-Integration im Schmelztiegel New York studieren. Anfänglich lebten hier deutsche liberale Juden (Reformjuden), die am neuen Wohnort schnell integriert waren, sich aber nach dem Massenzuzug orthodoxer (chassidischer) Juden aus Polen und Russland bald in „bessere“ Stadtviertel absetzten. Denn den von ihnen als Ostjuden bezeichneten, am Kaftan und den Schläfenlocken erkennbaren Neuankömmlingen ging es vorrangig darum, das gleiche Leben, das sie in der Heimat in ihrem „stetl“ geführt hatten, in Amerika unbedrängt und in Freiheit fortzusetzen. Da sie an ihrer Sprache (Jiddisch) und ihren Gebräuchen strikt festhielten, fiel ihnen die Integration schon deutlich schwerer, als den Juden der ersten Generation. Während des Zweiten Weltkriegs und danach erreichte eine weitere Welle jüdischer Einwanderer das Viertel, diesmal Ultraorthodoxe aus Ungarn und Rumänien, die vor dem Holocaust geflüchtet waren oder ihn überlebt hatten und nun dem Kommunismus zu entkommen suchten. Vor allem die aus dem heute rumänischen Satu-Mare stammenden, streng gläubigen Satmarer zog es in das bereits von jüdischem Leben geprägte Quartier jenseits des East River, zwischen Division Avenue, Broadway, Heyward Street und dem Brooklyn Navy Yard. Hier leben sie seitdem voll und ganz im Glauben, schotten sich von allem Weltlichen ab und pflegen nur wenig Kontakt zu Andersgläubigen. Sogar dem Zionismus stehen sie ablehnend gegenüber, weil eine Heimstätte für das jüdische Volk nach ihrer Ansicht erst mit dem Erscheinen des Messias verwirklicht werden darf. In Williamsburg finden sie geeignete Bedingungen für ihre streng reglementierte Lebensweise: Zu Hause, in den (jüdischen) Schulen und Talmudinstituten wird ausschließlich jiddisch gesprochen, auf den Straßen und in den Geschäften hört man gelegentlich auch Ungarisch, Englisch ist dagegen eine Fremdsprache. (Da sich das Jiddische aus dem Mittelhochdeutschen entwickelt hat, ist es für Deutsche übrigens ganz gut verständlich. Auf einer Tafel neben dem Ausgang eines Shtibl [Betstübchens] findet sich die Aufforderung: „Der Letzter, wus geht arois, soll oislesch’n die Lichter“). Überall im Viertel sieht man Schilder mit hebräischen Lettern (aber in jiddischer Sprache) und wo es etwas zu Essen gibt, wird durch „koscher“ Zertifikate signalisiert, dass es den jüdischen Speiseregeln entspricht. Kneipen, vertraute Restaurantketten und Kinos fehlen dagegen völlig.

Die Männer tragen zumeist lange Bärte und sind, abgesehen von einem weißen Hemd, schwarz gekleidet. Viele der jüngeren studieren an der Jeschiwa, der jüdischen Hochschule und wollen Rabbiner werden. Sie stehen jeden Morgen um sechs Uhr auf, lesen den ganzen Tag lang den Talmud und lernen alles über die 613 Gesetze, nach denen ein Jude leben soll. Blutjunge und züchtig angezogene Frauen, die zur Bedeckung ihres Haars eine Perücke tragen, schieben Kinderwagen vor sich her. Sie kümmern sich um die vielen Kinder, in der Regel sechs pro Familie – und wegen der großen Kinderzahl wächst die jüdische Bevölkerung rasant: In nur zehn Jahren um vierzig Prozent. Das hat zur Folge, dass die Hälfte der jüdischen Bevölkerung in Williamsburg jünger als siebzehn Jahre ist; von den ungefähr 220.000 Einwohnern sind etwa 80.000 Juden. Die meisten leben von Sozialhilfe, 55 Prozent gelten als arm, weitere 20 Prozent bezeichnen sich als bedürftig. Williamsburg ist nicht die einzige Hochburg der Ultraorthodoxen in Brooklyn, auch in Crown Heights und in Borough Park existieren solche Gemeinden, die sich allerdings scharf voneinander abgrenzen. Als religiös indifferenter Besucher fühlt man sich in diesen Stadtvierteln beklommen, obwohl man keine Feindseligkeiten seitens der Bewohner mitbekommt.

Greenpoint und Red Hook

Um polnische Lebensmittel einzukaufen, wollen wir jetzt noch ins benachbarte Greenpoint, einen Arbeiterbezirk wie so viele andere in Brooklyn auch. Hier wurden im Verlauf des 19. Jh. viele Betriebe für Holzverarbeitung, Schiffsbau, Druckereien, Keramik und Metallbau gegründet und wie immer waren die Beschäftigten Immigranten, in Greenpoint Deutsche, Iren und Polen. Von letzteren gibt es hier noch so viele, dass man diese Neighborhood durchaus als Polenviertel bezeichnen kann – polnische Läden, Restaurants und viele Schilder auf Polnisch belegen das. An den Straßen quer zum Ufer stehen noch viele Häuserzeilen aus der Erbauungszeit, von denen viele im nationalen Denkmalregister verzeichnet sind. Auch hier ist die Herkulesaufgabe der Stadtverwaltung die Konversion der ehemaligen Industrieflächen, die insbesondere die Uferzone verschandeln. Ein Plan sieht in Greenpoint und Williamsburg die Umwandlung von 93.000 m² Industrieareal in 175 Blocks günstiger Mietwohnungen mit ca. 16.700 Bewohnern vor.

Unser Sohn Vincent hat geschäftlich in Brooklyn zu tun und ermuntert uns zu einem ganz wunderbaren Ausflug: Während er auf seiner Baustelle in Red Hook arbeitet, sollen wir von South Street Seaport die IKEA-Fähre nehmen und ihn nach Arbeitsschluss dort treffen. Vorher aber wollen wir noch der Einladung seiner Nachbarin Ingrid folgen, sie in ihrem Restaurant in Lower Manhattan zu treffen und gemeinsam etwas zu essen. Ingrid kam vor etlichen Jahren zusammen mit ihrem amerikanischen Mann aus dem Schwarzwald in die USA und ging, nachdem dieser sich davon gemacht hatte, nach NY um dort in der Gastronomie zu arbeiten. Obwohl eine exzellente Köchin, machte sie doch Karriere als Restaurant-Managerin, da organisatorische Fähigkeiten in ihrer Branche noch gefragter sind als Kochen. Merkwürdigerweise entwickelt sie diese nur im Beruf, denn zu Hause ist sie oft auf Vincent angewiesen, um Dinge geregelt zu bekommen. Solche Einladungen wie heute sind immer ihr Dankeschön für seine nachbarschaftliche Hilfe. Ihr Café Select (das nur so heißt, aber keines ist) liegt unweit der Subway Spring Street am Joseph Petrosino Square, benannt nach dem ersten Italiener im New Yorker Polizeidienst, von dem ich unter Little Italy schon berichtet habe. Ingrid, eine korpulente, energische und durchsetzungsfähige Frau, erwartet uns bereits und serviert uns einen Querschnitt durch ihre Speisekarte. Diese firmiert unter Swiss Cuisine, was erstaunt, denn das einzige Schweizerische im gesamten Angebot sind Rösti. Sie klärt uns darüber auf, dass das ohne Bedeutung ist, denn wichtig sei einzig die Kategorisierung: Swiss Cuisine hat ein Alleinstellungsmerkmal im von chinesischen und italienischen Restaurants dominierten SoHo. Wir verputzen Lobster Rolls, die gut, aber auf keinen Fall schweizerisch schmecken und machen uns dann auf den Weg, weil wir die nur stündlich verkehrende Fähre nicht verpassen dürfen. Sehr schnell bekommen wir mit, dass es schwierig ist, Manhattan mit der Subway von Westen nach Osten zu durchqueren. Nach einigen Fehlversuchen wird die Zeit schon so knapp, dass ich für das restliche, kurze Stück ein Taxi ordere. Das befördert mich endgültig zum Loser, denn wegen der Einbahnstraßenregelung in der Lower Eastside müssen wir uns mäanderförmig im Schneckentempo dem Ziel entgegen kämpfen. Nur weil ich schon vorgerannt bin, gelingt es, auf den letzten Drücker noch die Fährtickets zu erstehen.

Die Überfahrt nach Brooklyn ist etwas ausgesprochen Schönes und man begreift, dass erst dann ein bleibendes Bild von New York in der Seele entsteht, wenn man die Ansicht vom Wasser aus erlebt hat. Man kann das auf verschiedene Weisen bewerkstelligen, per Wassertaxi, per Manhattan-Rundfahrt oder mit unserer Fähre. (Mal abgesehen von der Staten Island Ferry). Vom Anleger Pier 11 im South Street Seaport führt die Route über den East River, der sich allmählich zur Upper Bay aufweitet. Vorbei an Governor‘s Island geht es nach Brooklyn, dessen Uferzone mit Hafenbecken, Piers, Speichern und Industrieanlagen zugebaut ist, die sich alle in verwahrlostem, teilweise außer Betrieb befindlichem Zustand präsentieren. Ganz anders wirkt der Blick auf Manhattan: Immer wieder wechselnde, großartige Ausblicke auf Brooklyn- und Manhattan Bridge, die Skyline und, als wir um Governor‘s Island herum sind, auf die Freiheitsstatue und Ellis Island. Governor’s Island wurde erst kürzlich umgestaltet und der Liste der städtischen Parks hinzugefügt. Mit unserer Nussschale biegen wir jetzt in das riesige Hafenbecken des Erie Basin ein, in dem es noch Überbleibsel industrieller Tätigkeit gibt und steuern auf den Anleger von IKEA zu. Unsere Unternehmung stellt die absolut preiswerteste Methode in New York dar, einen Ausflug zu machen und anschließend Essen zu gehen: Für 5 $ auf der IKEA-Fähre eine Seereise buchen, im Möbelhaus in der Cafeteria – vor einem Panoramafenster mit der Skyline von Manhattan – etwas zu Essen bestellen und beim Bezahlen den Preis für den Fahrschein wieder einlösen. Leider werden hier – wie überall auf der Welt in diesem Etablissement (hier aber Aikia ausgesprochen) – nur schwedische Spezialitäten serviert, wie z. B. Köttbullar, die vom Geschmack her sehr gewöhnungsbedürftig sind. Es gelingt uns tatsächlich, Vincent hier zu treffen und anschließend zeigt er uns seinen Arbeitsplatz und den Stadtteil Red Hook. Der teilt das Schicksal der anderen Neighborhoods von Brooklyn, die wir schon besucht haben und wartet auf bessere Zeiten, wenn die Umgestaltung vom Industriebezirk in ein reines Wohngebiet einmal gestemmt ist. Wie auch in Williamsburg und Greenpoint stimmen einen die ersten Versuche optimistisch, das Ufer am East River durch kleine Parks für die Allgemeinheit zu öffnen, wie im Louis Valentino Park und am Waterfront Park, beide nördlich von IKEA. Wenn man auf der Louis Valentino Pier steht und auf die riesige Wasserfläche hinausschaut, mag man gar nicht glauben, dass das noch nicht das offene Meer ist, sondern nur die Upper Bay!

20 Queens

Von Manhattan kommend, erreicht man Queens zu Fuß oder mit dem Auto via Roosevelt Island auf der Queensboro Bridge. Diese Stahlfachwerkbrücke ist, wie alles in Queens, nicht von ausgesprochener Monumentalität, aber parallel zu ihr verläuft eine interessante Seilbahn, in der der Fußgänger spektakulär über dem East River schwebt und auf Roosevelt Island aussteigen kann. Früher befanden sich auf der schmalen, 3,5 km langen Insel Straf- und Krankenanstalten sowie die berüchtigte, von Charles Dickens beschriebene Irrenanstalt New York City Lunatic Asylum. Anfang der 1970er Jahre musste das alles der Umgestaltung der Insel in ein weitgehend autofreies, reines Wohngebiet weichen, welches besonders im Norden sehr luxuriös ausgefallen ist. Vom Lunatic Asylum blieb nur das Octagon, sein achteckiges Zentralgebäude, das in ein besonders schickes Apartmenthouse umgebaut wurde.

Die Gentrifizierung, die überall in der Stadt um sich greift, existiert auch auf der anderen Seite des East River, in Queens, obwohl gerade dieses Viertel als Heimat der „durchschnittlichen“ New Yorker gilt, nämlich derjenigen, die nicht so viel verdienen, die einen Migrationshintergrund haben und die in Sozialwohnungen bzw. relativ preiswerten Behausungen leben. Doch geht man an der waterfront von Long Island City spazieren, der Neighborhood nördlich von Brooklyn und südlich der Queensboro Bridge, bekommt man einen Eindruck, in welche Richtung sich auch Queens entwickeln wird, insbesondere in den Partien am Wasser. Direkt gegenüber dem UN Headquarters bildet sich jetzt auch auf dem Ostufer des East River eine Skyline heraus, die im Gegensatz zu Manhattan nur aus Wohngebäuden mit Luxusstandard besteht. Seit 2001 wird hier ehemaliges Industriegelände in ein schickes Wohnviertel verwandelt, 41 neue Hochhäuser entstanden allein zwischen 2010 und 2017. Wie überall ging die Aufnobelung des Viertels mit der Anlage von Uferparks und der Eröffnung von Kunstgalerien, Museen und Studios einher. An der Stelle eines alten Hafengeländes und einer Pepsi-Cola-Abfüllanlage entstand der 16 ha große Gantry Plaza State Park, in den mehrere alte Portalkrane des Hafens integriert wurden. Innerhalb des Parks befinden sich zahlreiche Sitzgelegenheiten, alte Piers und eine Promenade am Wasser. Das 37 m lange und 18 m hohe Pepsi-Werbeschild der Abfüllanlage, das sich früher auf dem Dach befunden hatte, wurde im Park wieder aufgestellt und ist heute sein Wahrzeichen.

Aschenputtel Queens

Ich möchte mich aber lieber „unserem“ Queens widmen, dem Viertel, in dem wir wohnen, wenn wir im Big Apple zu Besuch sind – dem flächenmäßig größten Stadtviertel von New York. Es kommt mir ein wenig vor wie das Aschenputtel unter den boroughs der Metropole, denn es besitzt keine spektakulären Sehenswürdigkeiten und liegt auch von seiner Bedeutung her im Schatten von Manhattan und Brooklyn. Ausnahmen mögen die beiden Flughäfen JFK und La Guardia sein, über die der Reisende in der Regel New York erreicht und für Sportfreunde das Turnier von Flushing Meadows, bei dem jedes Jahr die Weltelite des Tennis zu Gast ist. Architektonisch hat Queens wenig zu bieten, keine imposante Skyline und keine prachtvollen Beaux Arts Gebäude wie in Manhattan, weder monumentale Platzanlagen noch bedeutende Einzelgebäude. Zwei Straßenzüge, die das ganze Viertel durchqueren, spiegeln für mich den Charakter von Queens am besten. Zum einen Northern Boulevard, eine breite Magistrale, die den Verkehr von der Queensboro Bridge quer durch das Viertel nach Norden aus New York heraus auf Long Island führt. Alles andere als ein „Boulevard“, gesäumt von schäbiger, zumeist zweistöckiger Randbebauung mit banalen, billigen Gebäuden, zieht er sich schier endlos durch den Bezirk. Und zum anderen Roosevelt Avenue, auf deren Mitte die verwahrloste Hochbahntrasse der Linie 7 nach Flushing verläuft. Die Wohnhäuser stehen so dicht an der Bahn, dass die Züge gleichsam durchs Schlafzimmer donnern. Hier wird deutlich, warum Fiorello LaGuardia in den 1940er Jahren den Abbau der elevated lines in Manhattan durchsetzte, denn sie sind gesunden Wohnverhältnissen absolut abträglich: Fährt ein Zug, ist es so laut, dass man sein eigenes Wort nicht versteht, die breite Trasse verdunkelt die ganze Straße und unter ihr tobt unablässig der stinkende Autoverkehr. Beide Straßenzüge sind von einer ununterbrochenen Reihe kleiner Geschäfte gesäumt, in Roosevelt Avenue die von lateinamerikanischen Ladenbesitzern mit immer dem gleichen Angebot. In den 1960er und 70er Jahren, als durch gelockerte Nachzugs-Regelungen eine Welle von Latinos in das Viertel hinein schwappte, spielte sich über sie der Drogenhandel ab, aber womit diese Läden in den Zeiten von zero tolerance ihren Gewinn erwirtschaften, bleibt unerfindlich.

Queens liegt auf Long Island, sowohl nördlich von Brooklyn als auch östlich davon und reicht bis zu der im Süden der Insel gelegenen Halbinsel Rockaway. Von Brooklyn ist es durch den Newtown Creek getrennt, einen Meeresarm des East River, der in den letzten 200 Jahren so intensiv für Hafen- und Industriezwecke genutzt wurde, dass er heute zu den am meisten verschmutzten Gewässern der Stadt gehört. In der Zeit der niederländischen und englischen Besiedlung lagen auf dem jetzigen Stadtgebiet nur einzelne Dörfer wie Vlissingen = Flushing, Middenburg oder Newtown = Elmhurst, Yameco = Jamaica und Maspeth. Der Name von Queens County, benannt nach Queen Catherine of Braganza, der Ehefrau Karls II. von England, ging mit der Zeit auf das sich nur langsam entwickelnde Stadtgebiet über. Nach der Eingemeindung in Greater New York im Jahre 1898 und dem daran anschließenden Ausbau der Verkehrsverbindungen nach Manhattan begann endlich der Aufstieg des Borough zur Großstadt.

1909 errichtete man die Queensborough Bridge, die über Roosevelt Island nach Manhattan führt und 1910 wurde der Tunnel der Long Island Railroad (LIRR) unter dem East River eingeweiht. Daraus ergab sich eine solche Dynamik, dass Queens um 1930 bereits eine Million Einwohner hatte. Genau wie in Brooklyn entstand am East River ein Industrieviertel mit Hafenanlagen, Fabriken, Speichern, Kraftwerken, Öltanks und Kleingewerbe, während das Gebiet östlich davon zum Wohnen genutzt wurde. Ohne größere Planung (bis auf wenige Ausnahmen) schossen überall Wohnblocks in die Höhe, in welche Arbeiter aus Manhattan einzogen um den dortigen armseligen Lebensbedingungen zu entkommen. Dieser Prozess, der die weniger Bemittelten ständig dazu zwingt, sich neue Wohnorte zu suchen, hält immer noch an und ist die Ursache dafür, dass in New York jeden Tag Millionen von Menschen unterwegs sind – von der Wohnung zum weit entfernten Arbeitsplatz und wieder zurück. Die Gentrifizierung ganzer Neighborhoods verschärft die Situation noch, weil die Alteingesessenen wegen der unerschwinglich werdenden Preise fürs Wohnen wegziehen müssen.

Eine wichtige Rolle im Management des Wohnproblems spielt die 1934 von Fiorello LaGuardia gegründete New York Housing Authority (NYCHA). Sie besitzt in der ganzen Stadt 2.500 Gebäude mit 180.000 Apartments für etwa 400.000 Menschen, fast fünf Prozent aller New Yorker. Anspruch auf eine Wohnung haben nur Einwohner mit Einkünften unterhalb einer bestimmten Grenze. Als Miete zahlen sie höchstens 30 % ihres Einkommens und kommen so auf eine monatliche Durchschnittsmiete von 397 $ (2009), gegenüber 2.700 $ im Durchschnitt für ganz New York. In Queens sind die von der NYCHA betriebenen Queensbridge Houses die grösste zusammenhängende Sozialsiedlung der Vereinigten Staaten mit mehr als 3000 Wohnungen in 96 Gebäuden. Stellt schon allein die Zusammenballung von ca. 10.000 Sozialhilfeempfängern auf so engem Raum ein erhebliches Problem dar, so wurde dieses durch das verfehlte NYCHA Management noch verschärft. Die strikte Auslegung der Bestimmung, dass berechtigte Bewohner nur maximal 3.000 $ im Jahr verdienen dürfen, führte zur Umsiedelung derjenigen, die knapp darüber lagen, in Wohnprojekte für Bezieher von mittleren Einkommen. Die wegziehenden waren überwiegend Weiße, für die Schwarze und Latinos nachrückten, wodurch Queensbridge Houses zu einem sozialen Brennpunkt mit Rassentrennung, Armut, Kriminalität und Drogenmissbrauch herabsank. Andererseits entwickelte sich aber auch die Alternativkultur von Rap, Hip Hop und Breakdance gerade in solchen Vierteln.

Geflüchtete und Weggezogene fanden zu allen Zeiten Aufnahme in Queens, das deswegen der multikulturellste Stadtteil nicht nur New Yorks, sondern vermutlich der ganzen Welt geworden ist. Ungefähr die Hälfte der 2,4 Millionen Einwohner sind nicht in den USA geboren und weit weniger als die Hälfte spricht zu Hause Englisch. Die Mehrheit der Einwohner sind Lateinamerikaner, darunter mehrheitlich Portorikaner, Mexikaner, Dominikaner, Salvadorianer, Ecuadorianer und Kolumbianer. Aber auch die Asiaten sind stark vertreten, 40% aller Chinesen New Yorks leben hier, daneben noch Inder, Koreaner, Filipinos, Bangladeshi und Pakistani. Russische Juden stellen die drittgrößte Bevölkerungsgruppe, während die einstmals klassische Einwanderung aus Europa fast zum Erliegen gekommen ist. Der Prozentsatz von deren Nachfahren aus Italien, Irland, Deutschland, Polen, Russland und Griechenland nimmt im Vergleich mit den vorher genannten Nationen beständig ab. Die WASP-Bevölkerung (White-Anglo-Saxon-Protestant) ist in Queens mit 17 % in der Minderheit, was nicht unproblematisch ist, denn Rassismus, Trumpismus und Fremdenfeindlichkeit finden in dieser Klientel ihre Anhänger.

Der positive Nebeneffekt des Aschenputtel-Daseins von Queens liegt darin, dass es (noch) nicht als hip gilt und viele Künstler jenseits des Mainstreams es genießen, sich hier eher unauffällig zu entfalten. Nicht von ungefähr hatte der Punk mit The Ramones in diesem Borough seine Wurzeln wie auch aktuell viele Musiker der Techno-Szene und des Hip Hop hier heimisch sind. Auch früher schon bevorzugten berühmte Künstler diesen Wohnort wie die Jazzer Louis Armstrong, Charlie Parker und Ella Fitzgerald, der Fotograf Robert Mapplethorpe und der Regisseur Francis Ford Coppola. In Astoria befinden sich die gut ausgelasteten New Yorker Filmstudios, um die aber bedeutend weniger Wind gemacht wird als um Hollywood. Und solange das Queens abseits der Waterfront nicht hochgehypt wird, wie es in Brooklyn gerade geschieht, kann es weiterhin den Geringverdienern als willkommenes Refugium dienen, egal ob sie in der Off-Szene tätig sind, zu den weniger bekannten Musikern und Künstlern gehören, Angehörige der LGBTQ-Community sind oder schlicht zu den „Normalbürgern“ zählen.

Flushing

Im Stadtteil Flushing, dessen Name von Vlissingen abgeleitet ist (dem Herkunftsort der ersten niederländischen Siedler), konzentrieren sich die wenigen „Sehenswürdigkeiten“ von Queens: Das Ausstellungsgelände, der Park und die Sportanlagen. 1939/40 sollte es zum ersten Mal eine Weltausstellung in New York geben, wobei aus Platzgründen von vornherein klar war, dass sie außerhalb Manhattans stattfinden würde. Die Flushing Meadows, sumpfige Wiesen im Norden der Neighborhood, die jahrzehntelang als Asche- und Mülldeponie die Einwohner belästigt hatten, boten nach der Sanierung ausreichenden Baugrund für die Ausstellung und auch noch Platz für das Projekt eines großen Landschaftsparks. Die Weltausstellung war für eine Rekord-Besucherzahl ausgelegt, litt aber stark unter dem Beginn des Zweiten Weltkrieges und der Nichtteilnahme von China (weil im Krieg mit Japan befindlich) und Deutschland (Boykott der „jüdischen“ Ausstellung) und endete mit einem erheblichen Defizit. Wegen fehlender Investitionen kam eine anschließende Nachnutzung des Ausstellungsgeländes auch nicht in Gang und es begann der allmähliche Verfall. Immerhin diente wenigstens noch eine Halle von 1946 – 50 als Versammlungsort der neu gegründeten United Nations. Nach dem Auszug der UN bezog das Queens Museum dieses eine Gebäude und präsentiert hier das riesige Stadtmodell von New York, während die anderen weder genutzt noch unterhalten wurden und außerdem das Parkprojekt unverwirklicht vor sich hin dümpelte.

Diese unerfreuliche Situation nahm man zum Anlass, 1964 erneut eine Weltausstellung zu veranstalten und bei ihrer Verwirklichung die Fehler der ersten zu korrigieren. So wurde die geplante Parkanlage nun tatsächlich realisiert, aber nicht – wie großmäulig versprochen – als „Central Park des 20. Jh.“ von ganz New York, sondern als kommunales Projekt. Flushing Meadows Corona Park mit seinen zwei künstlichen Seen liegt eingeklemmt zwischen zwei Highways; westlich und östlich davon befinden sich als kleinere Anlagen der Zoo und der Botanische Garten, nördlich das Ausstellungsgelände und die Sportstätten. Die neuen Ausstellungsgebäude wurden von Anfang an als temporäre Bauten konzipiert, die nach dem Ende wieder demontiert werden sollten. Als Wahrzeichen der neuen Expo entwarf ihr Architekt Gilmore David Clarke die “Unisphere”, einen riesigen Globus aus 350 Tonnen Stahl, Symbol für das Motto der Ausstellung: „Peace Through Understanding“. Jedesmal auf unserem Weg vom und zum JFK Airport kommen wir an dieser Skulptur vorbei und konnten neulich, nach dem Besuch des Central Parks, am Columbus Circle feststellen, dass dort noch eine Unisphere steht – allerdings viel kleiner. Von der Straße am Park aus sieht man verwahrloste Gebäude aus dem Gelände herausragen. Lediglich zwei Hallen und drei dazugehörige Türme blieben nach der Expo stehen, teilten aber sehr bald das Schicksal ihrer Vorgänger aus der ersten Weltausstellung, weil man sie ebenfalls vernachlässigte und selbst noch den Abriss für zu teuer hielt. Angebliche Sicherungsmaßnahmen richteten weitere Schäden an und als sich Obdachlose in den Ruinen breit machten und zudem eine spektakuläre Gewalttat verübt wurde, riss man kurzerhand eine der Hallen ab. Derzeit wird über die Zukunft des letzten verbliebenen Originals – des NY State Pavilion – diskutiert, eines von stählernen Stützen umgebenen Rundbaus, über dem ein spektakuläres Dach aus Plexiglasplatten an Stahlseilen aufgehängt war. Das futuristische Ensemble von Philip Johnson, zu dem auch die drei ruinösen, jetzt nicht mehr begehbaren Aussichtstürme gehören, ist nur noch ein Fragment, nachdem das marode Dach abgetragen wurde. Trotz der Beschädigungen steht das Ganze seit 2010 unter Denkmalschutz, was wegen der brüchigen und rostigen Bausubstanz hoch problematisch ist und Baustoffe (wie Asbest, Bleifarbe und sonstige giftige Lacke) verarbeitet sind, die als außerordentlich gesundheitsschädlich gelten.

Der dritte Tragpfeiler der Anlagen in Flushing Meadows sind die Sportstätten, die von Anfang an Teil der Planungen waren. Da gibt es das 45.000 Zuschauer fassende Citifield, ein 2009 erneuertes Stadion für New Yorks Baseball Team, die New York Mets, ferner das Arthur Ashe Stadion mit einer Kapazität von 22.500 Zuschauern, das größte Tennisstadion der Welt, in dem jährlich die Endspiele der US Open ausgetragen werden. Da sich in den Zeiten des Verfalls die New Yorker Skaterszene auf dem Gelände bereits illegal breit gemacht hatte, sorgte die Stadtverwaltung nun für einen offiziellen Scate Park, in dem jedermann diesem Hobby nachgehen kann. Und nicht zuletzt steht in der Nordostecke des Ausstellungsparks ein Schwimmstadion, in dem auch unsere Enkelin als Teenager bei Wettkämpfen gestartet ist; ihre finanziell höchst erfolgreichen Schwimmstunden gab sie dagegen in einem Schwimmbad in Brooklyn. Im Winter kann man in der selben Anlage in Queens auch Schlittschuh laufen.

Jackson Heights

In der Neighborhood Jackson Heights, die von der Roosevelt Avenue im Süden und dem Astoria Boulevard im Norden begrenzt wird, wohnt unsere Familie. Südlich des Northern Boulevard, der das Viertel in der Mitte durchschneidet, plante die Queensboro Corporation Anfang der 1920er Jahre eine Muster-Wohnsiedlung in der Absicht, Angehörige der gut situierten Mittelschicht aus Manhattan nach Queens zu locken. Seit dem Bau der Subway-Linien zwischen den beiden Boroughs betrug die Fahrzeit ins Zentrum zwar nur noch wenige Minuten, aber trotz dieser Verbesserung bedurfte es einiger zusätzlicher Anreize, Pensionäre, gut verdienende Angestellte oder grundsätzlich Angehörige des Mittelstands zum Umzug nach Queens zu bewegen. Northern Boulevard, die Ausfallstraße aus Manhattan, hieß damals noch Jackson Avenue und der Name „Jackson Heights“ sollte signalisieren, dass die neue Siedlung draußen, in bevorzugter Lage auf einer Anhöhe läge. Es gibt zwar in der ganzen Neighborhood keine einzige Erhebung, aber das fiel damals den wenigsten auf. Als Klientel war grundsätzlich nur die WASP-Gemeinschaft erwünscht: Schwarze, Latinos und Juden (und sogar Griechen und Italiener) sollten außen vor bleiben. Bei der Bauplanung orientierten sich die Bauherren an zwei europäischen Prinzipien: Der Gartenstadt-Idee von Ebenezer Howard aus England und dem deutschen Genossenschaftsbau. Vor Baubeginn unternahm eine Kommission der Queensboro Corporation deshalb sogar eine Europareise und besichtigte in Berlin einige Siedlungen, die das Architektenbüro Mebes und Emmerich für den Beamten-Wohnungs-Verein errichtet hatte.

In Jackson Heights führten die Erkenntnisse dieser Reise zum Bau einer vorbildlichen Wohnanlage mit 5 bis 6-geschossigen, klinkerverblendeten Wohnblocks, die als Randbebauung jeweils eine ganze Insel zwischen zwei Avenues und Streets einnahmen und in der Mitte Platz für einen gemeinschaftlich genutzten Garten ließen. Zuvor hatte die Gesellschaft das Land parzelliert, Straßen und Bürgersteige angelegt und sogar für die Versorgungsleitungen für Wasser, Abwasser und Elektrizität gesorgt. Der größte Teil von Jackson Heights ist heute von solchen Blocks geprägt, die die Queensboro Corporation mit unterschiedlich großen Häusern bebaute. Im Falle unserer Familie mit 20 Wohnungen pro Gebäude, die zum größten Teil nach dem co-op Modell betrieben werden. Die potenziellen Bewohner mussten damals – wenn sie den oben genannten Kriterien genügten und von der Genossenschaft akzeptiert worden waren – einen höheren (aber dennoch bezahlbaren) Betrag in die Kooperative einzahlen, der das Anrecht auf eine Wohnung sicherte. Dieser Anspruch (nicht aber die Wohnung, die im Besitz der Kooperative verblieb) konnte unter der Voraussetzung weiter verkauft werden, dass die Wohnungsbaugesellschaft auch den neuen Käufer akzeptierte. Bei großer Nachfrage stieg der Verkaufspreis der Anrechte, im entgegengesetzten Fall konnte er auf ein so niedriges Niveau sinken, dass das Projekt plötzlich auch für eine andere als die anvisierte Klientel erschwinglich wurde. Es gibt in New York noch ein anderes Betreibermodell, das Condominion, welches eher den europäischen Eigentumswohnanlagen gleicht. Hier ist der Bewohner Eigentümer seiner Wohnung, die er frei verkaufen oder vermieten kann, obwohl auch hier Einschränkungen durch die Eigentümerversammlung möglich sind.

Die Gebäude von Jackson Heights sind ansprechend gestaltet, mit historischen Architektur-Zitaten geschmückt (bevorzugt im englischen Tudor-Stil) und von gepflegten Grünanlagen umgeben; der Garten im Innenhof ist nur den hier Wohnenden zugänglich. Die Treppenhäuser sind mit Travertin ausgekleidet und besaßen von Anfang an Fahrstühle. In den Apartments finden sich Parkettfußböden, helle Räume, ein Kamin und Badezimmer mit eingebauten Badewannen. Neben den Wohnblocks blieb hinreichend freier Platz für Sportanlagen, wie Tennisplätzen und sogar einem Golfplatz sowie Parkgaragen, was später allerdings ebenfalls der Bebauung anheim fiel, als die Baugesellschaft in finanzielle Schwierigkeiten geriet. Ihr Gewinn-Konzept ging nämlich niemals auf, da längst nicht alle Wohnungen an den Mann gebracht werden konnten. Aus diesem Grunde senkte man die Preise, bebaute das Areal dichter und lockerte die Vergabebedingungen, was einen Teufelskreis zur Folge hatte. Einströmende Migranten und die damit einhergehende soziale Degradierung der Neighborhood bewirkten, dass die Preise für die Anrechtscheine weiterhin fielen und noch mehr, im Betreiberkonzept nicht vorgesehene, Bevölkerungsgruppen in das vorher gutbürgerliche Viertel einsickerten. Seither bestimmen die in den 1970er Jahren nach Queens eingewanderten Latinos das Image von Jackson Heights. Für unsere Familie hatte dieser „Niedergang“ des Viertels den Vorteil, dass sie an eine Wohnung herankamen, die sie sich sonst nie hätten leisten können. Heute, nachdem man die Vorteile der menschenfreundlichen Bauweise der 20er Jahre wieder allgemein schätzt, ist sie ein mehrfaches des damals eingezahlten Betrages wert. Die luxuriöseren der Queensboro Apartments wie „The Château“ und „The Towers“ mit doorman, großen, luftigen Wohnungen und von den anderen abgehobener Architektur (französische Renaissance) strahlen heute wieder gediegenen Wohlstand aus. Dazu passen die baumbestandenen Straßen und die gute Infrastruktur, die aus Jackson Heights wieder eine ansprechende Neighborhood machen. Meine Lieblingsorte sind die 37th Avenue mit ihren multikulturellen Läden und dem unter Denkmalschutz stehenden Postgebäude sowie das niedliche, zweistöckige Einkaufszentrum aus der Entstehungszeit der Siedlung im Stile des Historismus, welches an der Hochbahnstation Jackson Heights / 82nd Street liegt.

Anstelle der fehlenden Monumentalbauten bietet Queens eine Fülle kleiner, sympathischer Details. Als erstes ist die kulinarische Szene zu nennen, denn jede der unzähligen Ethnien des Stadtteils betreibt hier eigene Restaurants. Charakteristisch für Queens sind sie einfach und preiswert – so wie die an einer Straßenkreuzung von Elmhurst, wo unterschiedlichste ostasiatische Restaurants Tür an Tür liegen. Ein mehrgängiges Mahl bekommen wir hier für einen Spottpreis; in Manhattan hätte man für dieses Geld überhaupt nichts bekommen! Zweitens gibt es hier PS1, die Außenstelle des MoMA, die in einer stillgelegten öffentlichen Schule (Public School One) untergebracht ist. Es ist kein protziger Museumsbau wie in Manhattan, sondern nichts anderes als ein etwas heruntergekommenes, jetzt leer gezogenes Schulgebäude. Die Ausstellungen präsentieren keine weltberühmten, schon etablierten Künstler, sondern solche, die Neues entwickeln, was wiederum ganz typisch für diesen Stadtteil ist. Im Falle von Queens bedeutet „typisch“ immer, dass alles ganz normal und unprätentiös daherkommt und einem nichts einfällt, was es ausschließlich hier gibt. Zutreffende Adjektive wären: Multikulturell, architekturlos, bunt, rumplig, laut, ungeordnet, ärmlich, jung, voll, …

21 New Yorker Museen

In NY existieren Hunderte von Museen, über die man allein ein ganzes Buch schreiben könnte, deshalb ist der Titel dieses Kapitels ein wenig irreführend. Schon ihre Aufzählung würde bereits dieses Kapitel füllen. Da die Absicht dieses Buch aber nur ein Blick durchs Kaleidoskop auf New York ist, will ich mich auf die „buntesten“ Museen beschränken und beginne mit denen, die bereits vom Äußeren her beanspruchen, die bedeutendsten der Stadt zu sein: Den drei Beaux Arts Gebäuden des Metropolitan, Brooklyn und Natural History Museum (Die beiden ersteren entworfen von McKim, Mead, and White, den New Yorker Stararchitekten).

Das Metropolitan Museum of Art (im Schnelldurchgang)

Bei jedem meiner Aufenthalte in NY ist ein Besuch im Metropolitan Museum of Art ein festes Ritual. Dieses Universalmuseum, das den Weg der Kunst von der Antike bis heute nachzeichnen will, ist mit erstrangigen Exponaten aller Epochen dermaßen vollgestopft, dass es eigentlich unmöglich ist, alles auf einmal zu sehen. Diese Erkenntnis bei der ersten Besichtigung brachte mich dazu, in den folgenden Jahren immer nur themenbezogene Besuche zu machen, beispielsweise die Bestände der Antike, des Mittelalters, der altmeisterlichen Malerei oder des Impressionismus zu erkunden. Auf solche Weise vertraut mit den einzelnen Abteilungen, habe ich mir diesmal vorgenommen, einen Gesamtüberblick vom Met zu gewinnen – davon möchte ich hier berichten.

An einem Tag mit Temperaturen von 32 Grad will meine Familie an den Strand nach Jones Beach, was mich überhaupt nicht reizt, weil das Wasser des Atlantik traditionell noch sehr kalt ist und mich die glühend heiße Sonne am schattenlosen Strand abschreckt. Da ist ein Besuch im klimatisierten Museum doch viel attraktiver und deshalb trenne ich mich von der Familie und begebe mich ins angenehm kühle Innere des Met um das oben genannte Programm durchzuziehen. Allen bedeutenden Kunstwerken dieses Schatzhauses möchte ich heute meine Reverenz erweisen, ohne irgendwelchen Tiefgang natürlich, denn das würde die Zeit gar nicht hergeben. Ich beginne bei den Alten Griechen und bleibe trotz meines Vorsatzes gleich am Anfang bei den kykladischen Statuetten hängen. Sie sind aber auch dermaßen faszinierend ob ihres Alters (5000 Jahre!) und ihrer perfekten Abstraktion, die schon viele moderne Künstler inspiriert hat! Dann weiter an der „edlen Einfalt und stillen Größe“ der griechischen Skulpturen vorbei in die hellenistischen Abteilung. Auch hier wird es nichts mit dem einfachen Durchgehen, denn ich war ja gerade mit meiner Hamburger Enkelin in München, den Barberinischen Faun studieren, über den sie ihre Masterarbeit schreibt. Da liegt es nahe, die Bezüge der hiesigen hellenistischen Statuen und Statuetten zu „ihrem“ Kunstwerk zu eruieren und ihr gleich eine E-Mail über das Ergebnis zu schicken. Dann geht es aber wie geplant durch die römische Abteilung, die Imperatoren mit „salve“ grüßend, in die große Eingangshalle mit der Mittelalter-Abteilung. Hier ist, wie schon gestern in „The Cloisters“ die Hölle los, weil auch diese Ausstellung mit von Modeschöpfern designten (für mich abartigen) Kleidern dekoriert ist, aufgezogen auf gewöhnliche Schaufensterpuppen. Nervigerweise wird man hier auch noch mit pseudo-mittelalterlicher Musik zugedudelt.

Deshalb flüchte ich ganz schnell zu den Gemälden und zwar in die Privatsammlung im Lehman Wing, die ich früher zugunsten der (einen ebenfalls fast erschlagenden) regulären Gemäldegalerie im ersten Stock stets ausgelassen habe. Sie geht auf die Donation von Robert Lehman zurück, einem frühen Eigner des Bankhauses Lehman Brothers, das 2008 unter Hinterlassung weltweiten und maximalen Schadens pleite ging. Mitte des 19. Jh. als bayerische Juden eingewandert, hatten die Lehmans ihre Privatbank zu einer der größten amerikanischen gemacht. Robert Lehman aus der nächsten Generation hatte bereits so viel Privatkapital in seinem Besitz, dass er sich zwei der kostspieligsten Hobbies widmen konnte, der Vollblut-Pferdezucht und dem Kunstsammeln. Es ist seine Sammlung, die den Lehman Wing ziert und in ihr die französischen Impressionisten, die das Highlight bilden. Vor einigen Jahren hatten wir in Berlin die Ausstellung „Die schönsten Franzosen kommen aus New York“, in der uns der exorbitante Bestand an impressionistischen Gemälden aus den USA präsentiert wurde und erst auf dieser Reise habe ich den Grund dafür gefunden, warum so viele „schöne Franzosen“ aus NY kommen: Der Impressionismus ist per se eine „schöne“ Kunst, die sich auch den weniger kunsthistorisch Gebildeten schnell erschließt. Als die ersten Bilder der französischen Impressionisten in NY auftauchten, löste das unter den amerikanischen Kunstsammlern einen regelrechten run auf diese Kunstrichtung aus. Schon bald explodierten die Preise, so dass nur noch Millionäre in der Lage waren, die Kunstwerke zu kaufen und folgerichtig kam eine erhebliche Menge impressionistischer Gemälde gerade in die Geldhauptstadt der USA. Als die erste Sammlergeneration alt wurde, gingen viele ihrer collections als donation an öffentliche Museen, oder wurden, wie im Falle der Frick-Collection in ein eigenständiges Museum umgewandelt. Der Lehman Wing ist ein Beispiel für ein Museum im Museum, alle hier gezeigten Kunststile finden sich ein weiteres mal in den einzelnen Abteilungen des Met-Museums. Ich nehme aus dem Teil der Ausstellung, den ich gesehen habe, die Erkenntnis mit, dass Lehman einfach alles sammelte, was teuer war.

Schon trunken von den Impressionisten im Lehman Wing will ich mich jetzt den Alten Meistern im Obergeschoss widmen, aber das ist die einzige Enttäuschung des heutigen Tages: Dieser Flügel ist wegen des Aufbaus einer (später gewiss) hochkarätigen Renaissance-Show fast komplett geschlossen. Aber italienischer Barock ist noch zu sehen und so kann ich meine drei geliebten Caravaggios, die Musikanten, die hl. Familie (die aber keineswegs echt ist!) und die Verleugnung Petri genießen. Auch die bemerkenswerte Sammlung ausgezeichneter Caravaggisten, der zahllosen begabten Maler, die nach der Begegnung mit Caravaggios Kunst nicht anders konnten, als zu malen wie er, ist präsent und findet meine Würdigung. Dann begebe ich mich in die Gemäldesammlung des 19. Jh. und begrüße meine guten alten impressionistischen Bekannten Monet, Manet, Renoir, Dégas und alle anderen. Ich habe das Gefühl, heute allein 50 verschiedene Monets gesehen zu haben. Mein Besuch bei Caspar David Friedrich, Dahl und Menzel wird dagegen vom Museum vereitelt, weil unsere deutschen Romantiker für nicht wertvoll genug erachtet werden, sie ganztägig durch Museumswärter zu bewachen. Ihre Räume sind von Kordeln abgesperrt und die Kunstwerke zu klein, als dass man sie vom Eingang des Saales aus sehen könnte.

So nehme ich noch schnell die Skulpturen der Renaissance, des Barock und des Klassizismus mit – von Algardi über Bernini bis zu Canova und Rodin – , bevor ich mich, zurück im Erdgeschoss, erneut der Antike widme, jetzt den Ägyptern und Mesopotamiern. Immer wieder erstaunlich und für mich ein wenig ärgerlich, welche Menge von Kunst des vorderen Orients amerikanisches Geld nach NY versetzt hat, darunter ganze Grabkammern, unzählige Sarkophage mit Mumien und Reliefs. Der komplett erhaltene Tempel von Dendur macht eine Ausnahme, denn er ist ein Geschenk der ägyptischen Regierung für die großzügige amerikanische Hilfe bei der Rettung der im Assuan-Stausee versinkenden Tempel von Abu Simbel – am originalen Ort! In der babylonischen Abteilung habe ich ein Wiedersehen mit einem Ausstellungsstück aus Berlin, einem Fabelwesen vom Ischtar Tor, das aufgrund der guten Beziehungen der Staatlichen Museen Berlin mit dem Met als Dauerleihgabe hier gelandet ist. Die Ostasiatische Abteilung durchstreife ich viel zu schnell, da mir die Gegenstände mangels Vorbildung wenig sagen – was wohl auch auf die New Yorker zutrifft, denn die einzigen Anwesenden außer mir sind Chinesen.

Unbedingt muss ich noch in die Musikinstrumentenabteilung um die für mich so bedeutende Hauser-Gitarre zu sehen und hier habe ich Glück: Die Ausstellung ist zwar wegen Neuaufbaus größtenteils geschlossen, aber einige Highlights zeigt man dennoch, darunter die von Andres Segovia dem Museum gespendete Gitarre des bayrischen Instrumentenbauers Hermann Hauser, auf der Segovia seine berühmtesten Konzerte gegeben hat. Da ich ebenfalls ein solches (allerdings von seinem Enkel gefertigtes) Instrument besitze, ist meine Reverenz vor diesem hier ein absolutes Muss. Andere Schmuckstücke sind einige unglaublich reich dekorierte Jazzgitarren von d’Acquisto und d’Angelico (viele 100.000 $ wert), Meisterwerke amerikanischer Gitarrenbaukunst und bei den Streichinstrumenten mehrere originale Stradivaris. Bei denen braucht man nicht traurig zu sein, dass sie, in der Glasvitrine eingesperrt, dem Geigenvirtuosen zum Konzertieren entzogen sind. Kaum ein Solist würde eine Original-Stradivari im Konzert spielen wollen, weil ihm die Klangqualität nicht ausreichte. Alle heute noch im Gebrauch befindlichen Stradivaris wurden bereits im 19. Jh. umgebaut (sie bekamen einen höheren Steg und einen steileren Halswinkel) um den von den Solisten gewünschten „großen Klang“ zu produzieren.

Um nichts auszulassen, muss ich noch in den Keller des Met hinunter, wo eine reißerisch beworbene Sonderausstellung sakraler Gegenstände aus dem Vatikan zu sehen ist. Es heißt, dass sie für die Präsentation in Amerika zum ersten Mal ihren originalen Standort verlassen hätten, aber wozu eigentlich? Die ausgestellten vatikanischen Gewänder aus dem 19. Jh. weisen keinen allzu großen Kunstwert auf, da sie nur Repräsentationsmaterial des Papsttums aus einer Zeit sind, als es sich bereits im Niedergang befand. Sie prunken vordergründig mit kostbarem Stoff und reichen Stickereien und das ist es dann auch schon. Überdies stehen auch hier wieder die albernen Puppen in Designer-Kostümen herum, stören aber in diesem Umfeld (merkwürdigerweise) nicht so sehr.

Sehr hochfahrend muten die Tiaren an, dreistufige Papstkronen, die den Träger als „Vater der Fürsten und Könige“, als „Haupt der Welt“ und als „Statthalter Jesu Christi“ überhöhen. Sie entstammen der Zeit Pius‘ IX., als der Kirchenstaat wegen der Gründung des italienischen Nationalstaats aufgelöst wurde. Pius belegte damals sämtliche Politiker des Landes mit dem Kirchenbann, was aber überhaupt nichts mehr bewirkte. Interessant: Seine Krönungs-Tiara wurde von einem deutschen Juwelier namens Deibel gefertigt (nomen est omen?).

Eigentlich ist meine Kapazität, Kunst aufzunehmen schon total ausgeschöpft, aber es zieht mich doch noch in die islamische Abteilung des Met, die ähnlich gut bestückt ist, wie die im Museum für islamische Kunst in Berlin. Das reich dekorierte Damaskus-Zimmer aus einem syrischen Palast, die Olifante und Elfenbeikästchen aus Sizilien, die Gebetsnischen seldschukischer Moscheen und kostbaren Alltagsgegenstände aus den Häusern der Reichen im Orient sind Kunstschätze der gesamten Menschheit, die in den teils fundamentalistischen, teils vom Bürgerkrieg zerrissenen Herkunftsländern gar nicht mehr oder nur noch unter großer Gefahr zu sehen sind. Auf dem Weg zum Ausgang durch die Völkerkundeabteilung, die ich aus Ermattung keines Blickes mehr würdige, zeigt mir ein Blick auf die Uhr, dass heute sechs Stunden in der Schatzkammer Metropolitan Museum verflogen sind, ohne dass ich das auch nur gemerkt habe!

The Cloisters

Ausgerechnet am Memorial Day, dem Tag des Gedenkens an die Kriegstoten, haben wir uns vorgenommen den Geburtstag unserer Enkelin in „The Cloisters“ zu begehen. Aber das wunderbare Wetter und die Schwierigkeit gemeinsamer Aktionen bei Menschen mit so unterschiedlichen Tagesabläufen wie in unserer Familie, gaben den Ausschlag es an diesem Feiertag zu versuchen. Der Memorial Day war ursprünglich als Versöhnungstag nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs konzipiert: Durch das Gedenken der Toten beider Seiten wollte man die zerbrochene amerikanische Einheit erneut beschwören. Nach dem Großen Krieg, wie der Ersten Weltkrieg damals hieß, dehnte man den Feiertag auch auf die Gefallenen von 1914/18 aus, obwohl mit Veterans Day auch noch ein separater Gedenktag für gefallene Soldaten existiert. Heute ist Memorial Day für Amerikaner nur noch aus der Freizeit-Perspektive interessant: Er wird traditionell nach dem letzten Wochenende im Mai gefeiert und fordert geradewegs dazu auf, sich mit Hilfe von Brückentagen ein paar zusätzliche Urlaubstage in der schönen Jahreszeit zu verschaffen.

Der 21. Geburtstag der Enkelin soll, seiner Bedeutung entsprechend, in einem außergewöhnlichen Rahmen zelebriert werden und dem entspricht „The Cloisters“ zweifellos. Die Außenstelle des Metropolitan Museum of Art wurde geschaffen um den Unmengen von Architekturteilen aus dem Mittelalter, die das Met im Laufe der Jahre zusammengerafft hat, einen würdigen Rahmen zu geben. Dazu errichtete man eine pseudo-mittelalterliche Klosteranlage auf einer Anhöhe im Fort Tryon Park und verwendete die Spolien aus dem Besitz des Museums zum Aufbau ganzer Gebäude oder Teile davon, wie z. B. der berühmten Kreuzgänge aus Südfrankreich, die dem Komplex seinen Namen gaben. (Auf einer unserer Frankreichtouren waren wir bereits vor Jahren nach Cuxa, einem der geplünderten Originalorte in den Pyrenäen, gekommen und hatten uns vor Ort weidlich über den Kulturimperialismus der Amerikaner aufgeregt).

Im Auftrag des Museums bereiste Anfang des 20. Jh. ein Kunstagent das Languedoc und beschwatzte Gemeinden mit verfallenen romanischen und gotischen Kirchen, diese doch besser auf Abbruch an ihn zu verkaufen, als weiterhin die teuren Unterhaltungskosten zu tragen. Als sich diese Ankaufstaktik in Frankreich herumsprach, brach ein Sturm der Entrüstung los und die französische Regierung bereitete ein Gesetz vor, das dem ungehemmten Export von nationalen Kunstwerken Einhalt gebieten sollte. Als es nach den in der Politik üblichen Verzögerungen endlich in Kraft trat, hatte der clevere Agent seine Beute längst in Sicherheit gebracht. Diese war so reichlich, dass sie die mittelalterliche Sammlung des Met-Museums sprengte und der Plan für eine Außenstelle im Norden Manhattans entstand. Auch wenn man die Art und Weise des Erwerbs der Kunstwerke kritisieren muss, kann man sich doch nicht der Bewunderung entziehen, wie effektvoll die Objekte hier präsentiert werden. Das beginnt schon mit der Umgebung: Der Fort Tryon Park am Ufer des Hudson ist wie eine Gebirgslandschaft gestaltet, die von dem „Kloster“ gekrönt wird. Der Milliardär Nelson D. Rockefeller spendete eine gewaltige Summe um auch das gegenüberliegende Ufer von Bebauung freizuhalten und dadurch der Eindruck einer rundum naturbelassenen Landschaft zu schaffen, obwohl sich die von hier aus nicht sichtbare Metropole noch in allen vier Himmelsrichtungen jenseits des Parks ausdehnt.

Am heutigen Tag ist der ganze Park bereits am Morgen voller Menschen (bei all den vorherigen Besuchen war hier nie etwas los), doch das ganze kulminiert noch im Museum. Da liegt daran, dass hier (und gleichzeitig im Metropolitan Museum) z. Zt. eine ungemein populäre Sonderausstellung mit Objekten berühmter Modeschöpfer stattfindet und die Menschenmassen in beiden Museen lieber die Pariser Haute Couture Entwürfe sehen wollen als die berühmten mittelalterlichen Exponate des Museums. Die Modeobjekte entstanden unter der Inspiration von mittelalterlicher und religiöser Kunst und wurden von so illustren Designern wie Gaultier und Versace geschaffen. Das Erstehen der Eintrittskarten gestaltet sich kurios: Das Met-Museum – angeblich fast pleite – ist von seiner benutzerfreundlichen Praxis abgewichen, den Besuchern zu überlassen, wie viel Eintritt sie bezahlen wollen. Die freundliche Regelung gilt jetzt nur noch für NY residents, wenn sie das mit einer ID card nachweisen können, alle anderen müssen 25 $, ermäßigt 17 $ zahlen. Unser Sohn stellt sich also an der Kasse an und bestellt 5 Eintrittskarten. Die Kassendame forderte dafür forsch 125 $ und Vincent antwortet knapp: „O.K., ich zahle fünf!“. Anstandslos – aber mit sehr schiechem Blick der Verkäuferin – bekommt er dafür seine tickets und wir haben 120 $ gespart – sehr angenehm angesichts der Kosten, die noch auf uns zukommen!

Aufgrund der Menschenmengen drinnen entsteht ein völlig anderer – und nicht einmal schlechterer – Eindruck als ich ihn aus den letzten Jahren gewohnt bin: Die romanischen Kreuzgänge aus Cuxa und St. Guilhem le Désert quellen über von Menschen, die sich an der Bepflanzung mit Klosterkräutern erfreuen und die ebenfalls romanischen Kapellen sind endlich wieder mit der Personenanzahl gefüllt, für die sie einst gebaut wurden. Aber überall stehen Schaufensterpuppen herum, bekleidet mit freakigen Gewändern, die krampfhaft versuchen (meiner Meinung nach vergebens), einen Bezug zum Mittelalter herzustellen. Sie sind die Stars der Sonderausstellung und die so überaus wertvollen juwelenbesetzten Sakralgegenstände aus Gold und Silber, die kostbaren Tapisserien mit der Einhornjagd und die vielen Sulpturen und Gemälde aus dem Mittelalter, die den eigentlichen Schatz von The Cloisters darstellen, bekommen durch den Trubel leider nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit.

Ich muss noch rasch der Enkelin das berühmte Mérode-Tryptichon erklären, dessen verschlüsselten Inhalt man nicht ohne fremde Hilfe deuten kann und werde dabei sofort wieder an die skandalöse Geschichte seines Erwerbs durch das Met-Museum erinnert: Das sich seit Jahrhunderten im Besitz der belgischen Adelsfamilie de Mérode befindliche Altar-Tryptichon war nach einem Erbfall plötzlich auf dem Kunstmarkt aufgetaucht. Obwohl der belgische Staat es als nationales Kunstwerk unbedingt in Belgien halten wollte und bereits Geld für den Ankauf aquirierte, ging es ans Metropolitan Museum, weil dessen Agenten schneller waren und einen Betrag zahlten, der damals noch nie für ein mittelalterliches Kunstwerk geboten wurde (heute 2,2 Mio €!) Eine Welle nationaler Entrüstung brandete in Belgien auf und in einem Artikel der Brüsseler Wochenzeitung „Pourquoi pas?“ wurde angeregt, den Amerikanern für die Rückgabe des Kunstwerks – im Geiste schöner Gegenseitigkeit – das uralte Modell eines amerikanischen „Einarmigen Banditen“ zurückzuschicken, das im Automaten-Museum von Crupet aufbewahrt wird.

Im Kreuzgang von St. Guilhem (an dessen originalem Standort im Languedoc mein Freund Udo und ich bereits vor vierzig Jahren die amerikanische Praxis des Erwerbs von Kunstwerken diskutiert haben) räche ich mich dafür mit der genussvollen Betrachtung des pseudo-romanischen Wandbrunnens auf den das Museum 1935 glatt reingefallen ist und nicht nur einen überhöhten Betrag für das Falsifikat bezahlte, sondern es so fest eingebaut hat, dass es nur mit erheblichem finanziellen Aufwand wieder abzubauen wäre. So steht es hier weiterhin als Museumsstück mit der Beschriftung: Wandbrunnen, Marmor, Frankreich frühes 20. Jh. (!), (romanischer Stil).

Unser persönlicher Feiertag soll mit einem Geburtstagsdinner im „The Leaf“ gekrönt werden, dem Restaurant im Fort Tryon Park, das im Stil an The Cloisters anklingt und in dem wir bereits früher in angenehmer Atmosphäre gespeist haben. An diesen Tag kann es unsere hochgespannten Erwartungen jedoch nicht erfüllen, da es uns die typisch amerikanische Restaurantkultur im Übermaß demonstriert. Gleich zu Beginn nervt der schnöselige Restaurantleiter, weil er uns trotz vieler freier Plätze nicht vor der gebuchten Zeit einlässt und uns nach halbstündiger Wartezeit am schlechtesten Tisch des Lokals platziert. Auf Intervention unseres Sohnes gewährt er uns dann gnädig doch noch einen Plätz im zauberhaften Zelt im Garten, wo wir von Anfang an sitzen wollten. Das Essen entspricht – ausgerechnet am Feiertag – überhaupt nicht dem Ambiente, dem Anspruch des des Hauses und dem Preis, lediglich ich komme mit einem Batzen Rindfleisch, exakt auf den Punkt gebraten, gerade noch davon, allerdings erst, als sie mein zum Steakschneiden völlig ungeeignetes stumpfes Messer ausgewechselt haben. Es bewahrheitet sich wieder einmal der von uns ständig zitierte Spruch: „Zu Hause isst man einfach besser!“

Alles neu im Brooklyn Museum

Am Rande des Prospect Park erhebt sich das riesenhafte Brooklyn Museum. Als es die Architekten McKim, Mead, and White 1885 entwarfen, war Brooklyn eine noch selbstständige Millionenstadt und sein Museum sollte das (vom gleichen Büro gebaute) Metropolitan Museum of Art nicht nur an Größe übertreffen. Wie jenes sollte es als Universalmuseum die Kunst der gesamten Welt präsentieren, aber im Gegensatz zum Met besaß man in Brooklyn erst wenige Exponate. Deshalb war man auf Spenden und donations betuchter Bürger angewiesen, die eigentlich auch eher in Manhattan saßen. Nach dem Zusammenschluss der five boroughs gab Brooklyn den Anspruch auf das größte Museumsgebäude sehr schnell auf und führte den Bau in reduzierter Form zu Ende. Was aber im Laufe der folgenden Jahre an Exponaten zusammenkam, verdient Bewunderung. 1916 wurde z. B. durch die Schenkung eines berühmten Ägyptologen eine Ägypten-Abteilung eingerichtet, die heute weltweit zu den umfangreichsten und wertvollsten dieser Art zählt. Die Sammlung des Brooklyn Museum ist heute die zweitgrößte New Yorks und eine der bedeutendsten in den USA. 2003/2004 wurde das Museumsgebäude für 60 Millionen Dollar umgebaut und erhielt im Eingangsbereich einen modernen Glaspavillon als Vorbau.

1988 wurde hier das Gemälde L’origine du monde von Gustave Courbet (1819–1877) weltweit erstmals öffentlich präsentiert. Das 1866 für einen türkischen Sammler gemalte Bild eines nackten weiblichen Unterkörpers mit detailliertem Geschlechtsteil wurde 120 Jahre unter Verschluss gehalten und ausgerechnet im prüden Amerika ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. Von einem Eklat darüber ist nichts bekannt, aber der unter dem großen Erfolg dieser Ausstellung unterdrückte Unmut brach vermutlich elf Jahre später durch, als Rudy Giuliani völlig überzogen auf eine Ausstellung junger britischer Künstler im Brooklyn Museum reagierte. Die dort gezeigten, durch Gewalt und sexuelle Motive provozierenden Bilder, in deren Zentrum eine schwarze – mit Elefantenkot als dunkler Farbe gefertigte – Madonna stand, die von sexuellen Symbolen umgeben war, erzeugten einen Eklat. Der Bürgermeister schäumte, bezeichnete das Werk als „krankhaft“ und verlangte dessen Entfernung. Er strich dem Museum Zuschüsse in Höhe von 7,2 Millionen Dollar, konnte sich damit aber nicht durchsetzen, denn ein Gericht wies die Streichung der Mittel mit dem Verweis auf die Freiheit der Kunst wieder zurück. Als sich die Erregung (sehr schnell) gelegt hatte, wurde das Skandalobjekt vom Museum of Modern Art sogleich angekauft.

Die Bestände des Brooklyn Museum, die wir zusammen mit der kunstbegeisterten Enkelin anschauen wollen, sind auf vier Etagen verteilt. Gleich beim Eintreten bekomme ich mit, dass sich das Museum in einer Umstrukturierung befindet, in der die Exponate völlig neu präsentiert werden. Zeigte man sie vorher in der kunstgeschichtlich üblichen Weise nach Epochen, Kunstgebieten und Regionen sortiert, möchte man jetzt das Verbindende, Übergreifende aber auch Konfrontative der Kunst herausstellen.

Schon in der Eingangshalle im Erdgeschoss wird das deutlich gemacht, da man uns hier mit einem cross-departmental survey auf das Museum einstimmt. Unter dem Titel „Infinite Blue“ zeigt man einen Querschnitt aller hier ausgestellten Epochen in Form blauer Objekte der asiatischen, afrikanischen, ägyptischen, amerikanischen, indianischen und europäischen Kunst in Form von Bildern, Skulpturen, Drucken, Zeichnungen, Kunstgewerbe, illuminierten Manuskripten, Büchern und zeitgenössischer Kunst – eine blöde Idee! Die Beliebigkeit des Ganzen wird aus der wahllosen Anordnung der Epochen und Artefakte ersichtlich und orientiert sich an den Gewohnheiten Jugendlicher beim Schauen von Instagram-Fotos.

Im ersten Stock sah man früher asiatische Kunst aus Indien, China und Japan sowie islamische Kalligraphie. Diese Ausstellung wird offensichtlich gerade dem neuen Konzept angepasst, weshalb z. Zt. nur die neu geschaffene Abteilung koreanischer Kunst zu sehen ist.

Die zweite Etage ist eigentlich der Antike gewidmet, ich stoße auch sogleich auf die (schon erwähnte) beeindruckende Abteilung ägyptischer sowie assyrischer Kunst, aber die auch auf diesen Stock gehörenden Exponate griechischer, römischer, nahöstlicher und koptischer Herkunft fehlen – weitere Opfer der gerade stattfindenden Umstrukturierung. Dafür gibt es jetzt eine Focus Gallery, in der jeweils ein herausragendes Kunstwerk präsentiert wird, aktuell ein sehr buntes Majolika-Relief aus der Renaissance, von Giovanni della Robbia. 1899 aus dem Besitz der Florentiner Wein-Dynastie Antinori erworben, wurde es gerade mit Unterstützung derselben Famile restauriert. Und den Innenhof nimmt der Beaux Arts Court ein, der die angestrebte neue Art der Präsentation bereits deutlich zum Ausdruck bringt: Europäische Kunst von der Frührenaissance bis zum Zweiten Weltkrieg, wobei die Gemälde und Skulpturen sakrale Kunst, Porträts, Landschaftsmalerei und Stilleben repräsentieren. Dazu kommen überraschender Weise Werke amerikanischer Künstler, die in Europa arbeiteten oder europäisch beeinflusst wurden und vier Skulpturen von Auguste Rodin, darunter drei der Bürger von Calais. Ich glaube, dass der Wunsch sich vom Metropolitan Museum abzusetzen – welches noch ganz dem gewohnten kunstgeschichtlichen Prinzip verhaftet ist, Kunstwerke nach Chronologie, Ländern, Stilen und Kunstschulen zu ordnen – Vater des Wirrwarrs dieser Neupräsentation in Brooklyn ist. Ich persönlich kann mit solch einem Konzept wenig anfangen, die Amerikaner aber schon eher, wie ich bereits im Isabella Stewart Gardner Museum in Boston festgestellt habe.

In der dritten Etage befindet sich – glücklicher Weise unverändert – die kunstgewerbliche Abteilung mit 25 vollständig eingerichteten amerikanischen Räumen aus der Zeit von 1715 bis 1880 (so genannte period rooms) sowie Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens aus jener Zeit. Der Rest dieser Etage ist dem Elizabeth A. Sackler Center for Feminist Art gewidmet und hier blüht unsere 14jährige Enkelin auf, denn das Kunstwerk „The Dinner Party“ von Judy Chicago, das einen großen Teil der Ausstellungsfläche einnimmt, wurde in ihrer Schule gerade im Kunstunterricht durchgenommen und hat sie sehr begeistert. Warum es an einer Eliteschule wie ihrer nicht möglich ist, statt in einer Unterrichtsstunde darüber zu reden lieber einen Besuch beim originalen Objekt zu machen (nur 30 Subwayminuten entfernt), bleibt mir als Pädagoge unerfindlich. Die „Dinner Party“, Ikone der feministischen Kunst der 70er Jahre, besteht aus einem dreieckigen Bankett, das für 39 Personen gedeckt ist und jedes Gedeck einer geschichtlich bedeutenden Frau gewidmet ist, wie aus der Tischkarte hervorgeht. Der Tisch steht auf einem Kachelfußboden, in dessen Fliesen weitere 999 Namen berühmter Frauen in goldenen Lettern eingebrannt sind. Die kostbare Tischdekoration mit gestickten Platzdecken, goldenen Kelchen, mit Schmetterlings- und Vulvamotiven bemalten Porzellantellern und goldenem Besteck wurde komplett von der Künstlerin entworfen. Der Pädagoge blüht auf, kann er doch der Enkelin die eine oder andere historische Frauenpersönlichkeit etwas näher bringen, wird aber durch eine „herstory“ Projektion unterstützt, die auf die weniger bekannten 999 Frauen eingeht, die auf den Fußboden verewigt sind. Nach diesem beeindruckenden Werk kann ich leichten Herzens auf die Präsentation der Kunst beider Amerikas auf der letzten Etage verzichten, insbesondere als ich lese, dass auch diese bereits nach dem neuen Ausstellungskonzept organisiert ist.

Museum of Natural History

An der Ecke Central Park West / 79th Street, direkt gegenüber dem Park, befindet sich das American Museum of Natural History, New Yorks Naturkundemuseum. Diese Art von Museen scheint in den USA besonders beliebt zu sein, denn in vielen amerikanischen Städten gibt es welche und die meisten davon sind riesig. Ich mag sie schon aus dem Grunde, dass sie viel weniger dem Kulturimperialismus verhaftet sind, als die Kunstmuseen. Ihr Hauptanliegen ist nicht, große Schätze anzuhäufen sondern Verständnis und Interesse an der Erforschung der Natur zu wecken. Sympathisch ist auch, dass solche Museen stets von Scharen von Kindern bevölkert sind. Von außen beeindruckt den Besucher die schiere Größe des Gebäudes, das vier ganze Häuserkarrees einnimmt. An der Fassade zum Central Park ist dem Museumsbau von Calvert Vaux (dem Planer des Central Parks) ein gigantischer römischer Triumphbogen vorgeblendet, eine der erstaunlichsten Gedenkstätten der USA. Die Theodore Roosevelt Memorial Hall ist nämlich sowohl Denkmal für den Präsidenten und Friedensnobelpreisträger als auch Haupteingang des Naturkundemuseums. Neben seiner politischen Tätigkeit, in der er – seiner Zeit weit voraus – eine fortschrittliche Umweltpolitik betrieb, war Roosevelt auch aktiver Forschungsreisender. Da seine Expeditionen mit den Forschungen des Museums in Verbindung standen, sahen die Verantwortlichen die Kombination von Denkmal und Museum als besonders geeignet für die Ehrung des populären Ex-Präsidenten. Gleich nach Roosevelts Tod 1919 setzte der Staat New York eine Kommission zur Schaffung eines Memorials ein. Den Architektenwettbewerb gewann John Russell Pope, der Schöpfer vieler neoklassizistischen Bundesbauten in Washington wie der National Archives, des Jefferson Memorial und des Westflügels der National Gallery of Art. Er plante den überdimensionierten Triumphbogen als Ausgangspunkt einer „Intermuseum Promenade“, die – quer durch den Central Park – bis zum Metropolitan Museum führen sollte. Glücklicher Weise wurde diese den Park zerstörende Schneise nie angelegt und dadurch bleibt auch das Memorial nur von der Straße Central Park West – also direkt davor – sichtbar, was angesichts seiner aufdringlichen Größe nur wünschenswert ist.

Gemeinsam mit unserer jüngeren Enkelin, die – heute mal anders herum – für uns die Museumsführung macht, betreten wir die riesige Eingangshalle, vorbei an der Bronzestatue des Präsidenten. Im Innern der riesigen, tonnengewölbten, mit Wandmalereien aus Roosevelts Leben ausgemalten Halle (seine Afrikareisen, die Verwirlichung des Panama-Kanals und seine Friedensmission im russisch japanischen Krieg) herrscht ob der vielen Schulklassen fröhlicher Lärm und Trubel. Zum „Anfüttern“ der jugendlichen Besucher sind gleich am Eingang einige enorme Dinosaurierskelette aufgebaut, die Appetit auf die große Dinosaurier-Abteilung im Obergeschoss machen sollen und die – wie überall in Naturkundemuseen – die größte Besucherattraktion ist. Auf drei Etagen wird der unermessliche Bestand (30 Mio einzelne Objekte) an naturwissenschaftlichen Exponaten ausgebreitet, von dem es im Führungsblatt heißt, dass man ihn unmöglich an einem einzigen Tag bewältigen kann. Deshalb lassen wir es ruhig angehen und besuchen eher stichprobenartig die Hallen, die die Entwicklung der Pflanzen, der Tiere und des Menschen im Verlauf der Evolution aufzeigen. Es ist schwer zu glauben, dass in dem gleichen Land, das solch überzeugende Naturkundemuseen präsentiert, unzählige Kreationisten leben, die wortwörtlich an die Schöpfungsgeschichte in der Bibel glauben.

Obwohl es am Broadway noch ein spezielles Museum of the American Indian gibt, nehmen die hiesigen Ausstellungen über die Vielfalt und die Lebensweise der Indianer einen großen Raum ein, ein 19,2 Meter langer Einbaum aus Zedernholz, der den Haida Indianern als Kriegskanu diente, ist ein Höhepunkt dieser Ausstellung. Drangvolle Enge herrscht in den beiden anderen Attraktionen des Museums, dem Rose Center for Earth and Space mit dem Hayden Planetarium im Untergeschoss und der Milstein Hall of Oceanic Life mit einem lebensgroßen Modell eines Blauwals im Erdgeschoss. Viele Abteilungen wie die Sammlung von Mineralien und Meteoriten müssen wir mangels Fassungsvermögens einfach auslassen. Aber Naturkundemuseen sind ja auch nicht für einen einmaligen Besuch konzipiert.

22 New York am Meer

Liegt New York am Meer? Aber natürlich, denn es ist eine bedeutende Hafenstadt, seine Wirtschaft ist seit Jahrhunderten auf das Meer ausgerichtet, seine Bewohner kamen aus Übersee und gehen im Sommer im Meer baden. Aber irgendwie auch nicht, denn im Stadtgebiet finden wir nur Flüsse: den Hudson, den Harlem und den East River, sowie eine rundum vom Land umgebene Bucht, die Upper Bay. Wenn man in South Ferry oder Red Hook auf die weiten Wassermassen hinausblickt, glaubt man nur, sich am offenen Meer zu befinden, aber dieses liegt weit draußen, ca. 50 km entfernt und die Stadt ist durch die Upper Bay und auch noch die Lower Bay von ihm getrennt. Überdies riegelte sich das gewaltig wachsende New York des 19. Jh. mit seinen Industriebauten vom Wasser geradezu ab. Überall in Manhattan, Brooklyn und Queens war die Wasserseite von Speichern, Docks, Fabriken und Hafenanlagen zugestellt. Dieser Fehlentwicklung wird zwar durch die aktuelle Umstrukturierung begegnet, bei der man die Uferzonen durch hochwertige Wohnbebauung und Parks wieder zurück gewinnt, aber trotzdem muss man auch heute weite Wege zurücklegen, um in New York wirklich ans Meer zu gelangen und diese möchte ich in diesem Kapitel gehen.

Coney Island

Am einfachsten kommt man zum Baden im Meer, wenn man mit der Subway nach Coney Island fährt. Zwar liegt diese Sandbank im Süden Brooklyns noch in der Lower Bay und ist überdies teilweise durch die Halbinsel Rockaway vom offenen Meer abgeschirmt, aber ihre ausgedehnten Sandstrände und der Massen-Badebetrieb im Sommer vermitteln schon den Eindruck eines richtigen Seebads. Zur Zeit der Stadtgründung durch die Niederländer war die heutige Halbinsel noch eine echte Insel, die durch den Coney Island Creek vom Festland getrennt war; im Nordosten und Nordwesten der Halbinsel sind noch Reste davon erhalten. Die Niederländer gaben ihr den Namen Conyne Eylandt, Kanincheninsel, woraus sich später der heutige Name entwickelte. Nachdem 1824 die erste Brücke den Creek überspannte, kamen um 1830 auch die ersten Touristen und ein Hotel entstand, das vorwiegend von gut betuchten New Yorkern frequentiert wurde. Sie kamen mit der eigenen Pferdekutsche, was einen halben Tag in Anspruch nahm, deshalb nahm der Tourismus erheblich zu, als eine Dampfschifflinie nach Manhattan in Betrieb genommen wurde. Dies wiederum führte zu weiteren Investitionen, wobei eine breite Strandzone angeschüttet wurde, weil der Coney Island vorgelagerte Breezy Point eine natürliche Sandvorspülung verhinderte.

Der ständig steigende Tourismus führte zur Gründung von Brighton Beach, einer Gemeinde im westlichen Coney Island. William A. Engelman, ein Kriegsgewinnler des amerikanischen Bürgerkriegs, hatte für quasi ein Trinkgeld ein großes Strand-Grundstück erworben, das er unter dem Namen des englischen Seebads Brighton, dem populären Erholungsziel der British Royalty and der Aristokratie, vermarktete. Dem Bau der ersten Eisenbahnlinie, die Tagestouristen aus Brooklyn heranschaffte, folgten bald zwei weitere, die zusammen mit der Landstraße, dem Ocean Parkway und der Dampferlinie, für die Engelman eine große Pier errichten ließ, zum weiteren Aufschwung beitrugen. Damit die Touristen auch über Nacht blieben, baute er 1871 das Ocean Hotel, das direkt über den Ocean Parkway erreichbar war. Zum Hotel gehörte eine 1878 eingeweihte Badeanstalt, der Grand Brighton Beach Bathing Pavilion and Ocean Pier für 1,200 Badegäste. Der Badebetrieb unterschied sich gewaltig vom heutigen, denn die vornehme Kundschaft begab sich im teuren „Badekostüm“ an die Wasserlinie, plantschte und spritzte dort mangels Schwimmkenntnissen ein wenig herum und frönte anschließend – wieder standesgemäß bekleidet – den Vergnügungen, die der Unternehmer für sie bereitstellte. Juden und Schwarze (von denen viele die Halbinsel bewohnten) blieben vom Badebetrieb ausgeschlossen und die reichlich vertretene Polizei achtete peinlich genau auf die Einhaltung der guten Sitten und den korrekten Schnitt der Bademode.

Der Eisenbahnmagnat Austin Corbin beschloss nach einem Besuch in Engelmans Etablissement diesem Konkurrenz zu machen und erwarb ein eigenes Strandstück, das er Manhattan Beach nannte, wohl um vorwiegend reiche New Yorker anzulocken. Hier errichtete er das damals luxuriöseste Strandhotel für 1.500 Gäste mit eigenen Läden und Feinschmeckerrestaurants, das direkt von seiner eigenen Bahnlinie bedient wurde. Ex-Präsident Ulysses S. Grant war unter den Eröffnungsgästen und der berühmte Militärkomponist Sousa, der Erfinder des Sousaphons, dirigierte das Orchester. Das ließ William A. Engelman nicht ruhen und er reagierte darauf mit Gründung eines Konsortiums, das 1878 das Brighton Beach Hotel errichtete. Der riesenhafte Holzbau direkt am Strand sprengte alles bisher dagewesene: 5000 Gäste sollten täglich die Badeanstalt, die Läden und Restaurants, sowie die Luxuszimmer des Hotels frequentieren.

Schon zehn Jahre später war das Hotel vom Untergang bedroht: Die See trug die Strandlinie vor dem Hotel beständig ab und es lief Gefahr, vom Wasser verschlungen zu werden. Doch Engelmans Sohn ließ parallel zur Wasserlinie über die gesamte Breite des Gebäudes Schienentrassen verlegen und zog das komplette Bauwerk mithilfe von Dampflokomotiven mehrere hundert Meter landeinwärts. Eine solche Hybris trug gewiss bereits den Keim des Verfalls in sich. Doch zunächst musste erst einmal das Unterhaltungsangebot für die riesigen Menschenmengen ausgeweitet werden: Neben der Brighton Beach Music Hall und einem Theater entstanden Pferde- und Hunderennbahnen, auf denen die männliche Kundschaft ihrer Wettleidenschaft frönen konnte. Käufliche Damen hatten hier eine gute Gelegenheit, sich an ihre Kundschaft heranzupirschen und gemeinsam mit aus dem Boden schießenden Spielcasinos und Revuetheatern verlor Brighton Beach allmählich seinen aristokratischen Charakter. Bei sinkenden Preisen – um die vielen Zimmer überhaupt loszuwerden – bekamen jetzt auch andere als die gewohnten Kunden Zugang zum Hotel, was viele der Stammkunden vertrieb und den Niedergang dieser Freizeitgestaltung der besseren Kreise beschleunigte. Ein Gesetz gegen Pferde- und Hunderennen-Wetten gab dem Ganzen den Rest.

Paradoxer Weise nahm der Run auf Coney Island jedoch noch zu, nachdem die ärmeren Schichten entdeckt hatten, dass man mit den neu erbauten Bahnen bereits für einen Nickel (5 Cent) an die See fahren konnte. Aus dem Programm für die nun massenhaft einströmenden armen Tagesbesucher entwickelte sich das Nickel Imperium, ein Kompendium von Billig-Angeboten an Jahrmarkt-Attraktionen wie Glücksspiel an Automaten, Fressbuden, Fahrgeschäften und Kuriositäten wie Dr. Couneys Säuglingsinkubatoren (die aus einer Rummelattraktion zu einem seriösen medizinischen Gerät wurden), einer Zapfanlage in Gestalt einer „Kuh, der nie die Milch ausgeht“ oder der ersten Rolltreppe von 1895, die als inclined elevator (schräger Aufzug) eine Höhe von 2,10 m am Eisernen Pier bewältigte. Auch exotische Tiere wie Löwen, Kamele oder Elefanten gab es zu sehen, sowie die berüchtigten Monstrositätenkabinette, in denen gegen Eintrittsgeld deformierte Menschen zur Schau gestellt wurden. Im „Congress of the World’s Greatest Living Curiosities“ waren etwa riesen- und zwergwüchsige Menschen und die „Frightfully Fat Lady Trixy“ mit angeblichen 311 Kilo Körpergewicht ausgestellt. Berühmt war auch die „Halbdame Violetta“, die, ohne Gliedmaßen zur Welt gekommen, sich alleine anziehen und ihre Haare zurechtmachen konnte. Alle Attraktionen gruppierten sich in drei großen amusement parks: Steeplechase Park, Luna Park und Dreamland, wovon Steeplechase eine längere Lebensdauer hatte (von 1897 bis 1964), die anderen beiden jedoch durch Brand und Pleite schon im ersten Drittel des 20. Jh. wieder verschwanden.

Zur gleichen Zeit verfielen auch die Hotelpaläste, wurden nach und nach abgerissen und durch vielgeschossige Wohnungsbauten ersetzt, in die aber aufgrund des schlechten Rufs von Coney Island nur eine unterprivilegierte Klientel einzog. Aus den Bahnlinien waren in den 20er Jahren Subwaylinien geworden und die Station Coney Island – Stillwell Avenue wurde mit acht Gleisen zum weltgrößten Subway Bahnhof, heute halten hier die vier Linien D, F, N und Q. An den Wochenenden kamen an diesem Bahnhof Tausende an, die die Vergnügungsparks mit ihren Attraktionen wie dem Riesenrad, einer gigantischen Achterbahn und einer Vielzahl von neu entwickelten Fahrgeschäften besuchten. Der bauliche Wildwuchs und die zunehmenden sozialen Probleme riefen Stadtplaner wie den berühmt-berüchtigten Robert Moses auf die Szene, der Coney Island einen radikalen facelift verordnete. Er kaufte auf eigene Kosten den Strandabschnitt der Halbinsel und schenkte ihn der Stadt. Unter seinem Chef Fiorello LaGuardia wurde die ganze Halbinsel Planungsgebiet der Stadt, die mit menschenfreundlichen Absichten, aber ohne großen Erfolg ein Erholungsgebiet und gleichzeitig billigen Wohnraum für Minderbemittelte schaffen wollte. Es entstanden riesige Badeanstalten mit bathhouses, der Boardwalk, eine 3,5 km lange Promenade, die Strände wurden vergrößert, Buhnen und Dämme gebaut und dahinter gewaltige Blöcke mit Sozialbauten. Den Coney Island Creek schüttete man zu und bebaute ihn mit einem parkway, einer autobahnähnlichen Straße, wie sie Moses so schätzte. Auch ein Teil der Vergnügungsanlagen wurde restauriert, aber alles war kostenpflichtig, was sich die Bevölkerung während der großen Depression überhaupt nicht leisten konnte. So sparten die Besucher durch mitgebrachtes Essen und Trinken, zogen sich in Privatwohnungen um und kehrten in der Subway als drippers – mit den nassen Badesachen unter der Kleidung – wieder heim. Das Gewerbe litt unter diesem Verhalten, viele gingen pleite und mit der Zeit geriet ganz Coney Island in einen desaströsen Zustand des Verfalls, der von vielen Künstler-Fotografen dokumentiert wurde. Durch die zunehmende Wasserverschmutzung brachen Krankheiten aus und brachten auch den Badebetrieb zum Erliegen.

Heutzutage hat sich das Viertel ein wenig erholt und bei unserem Besuch sieht es gar nicht mehr so gruselig aus, da die meisten Ruinen des Vergnügungsparks beseitigt wurden. Durch Kläranlagen hat sich die Wasserqualität wieder verbessert und die Strandzone sieht aufgeräumt aus. Es entstanden ein neuer, deutlich kleinerer Luna Park, die Riesen-Achterbahn Cyclone, der Astro Tower und Deno’s Wonder Wheel. Robert Moses hatte bereits in den 50er Jahren dafür gesorgt, dass neue Attraktionen Coney Island aufwerteten: Das New York Aquarium erhielt hier seinen Sitz, der KeySpanPark entstand als Stadion für das Farmteam der NY Mets, aber auch für Konzerte und ein Wahrzeichen der Stadt, der Parachute Jump, kam vom verfallenen Ausstellungsgelände in Flushing hier an den Strand. Der 76 m hohe Turm diente während der ersten Weltaustellung als Fallschirm-Sprungturm und war das einzige nicht militärische Objekt dieser Art. Nach der Ausstellung kaufte ihn der Betreiber des Steeplechase Park und ließ ihn in Coney Island wieder aufstellen, wo er das Schicksal des Vergnügungsparks teilte. Das Fallschirmspringen wurde eingestellt und der Abriss des heruntergekommenen Bauwerks erwogen. Doch glücklicher Weise erkannte man noch rechtzeitig den Wert des „Eiffelturms von Brooklyn“ und setzte ihn auf die Denkmalliste. Fallschirmabsprünge gibt es aus Sicherheitsgründen zwar keine mehr, aber er dient jetzt dem „ball drop“ in der Silvesternacht und wird durch tausende kleiner Lampen illuminiert. Die Halbinsel zerfällt heute in die vier Neighborhoods Manhattan Beach, Brighton Beach, Seagate und Coney Island. (Von O nach W).

Brighton Beach als multikulturelles Viertel ist jetzt die Hauptattraktion: Die ersten Zugezogenen waren Flüchtlinge aus Europa, die vor dem Europäischen Faschismus in den 1930er und 1940er Jahren geflohen waren, aktuell besteht die Gemeinde allerdings zum größten Teil aus russischen und ukrainischen Juden, welchen (gegen Kopfgeld!) seit den 1970er und 1980er Jahren die Ausreise aus der Sowjetunion gestattet wurde. Das Straßenbild der Sitwell Road ist durch viele russische Restaurants und Läden aller Art geprägt, was dem Viertel zugleich den Beinamen Little Odessa eingebracht hat. Es wird kolportiert, dass sich die Juden aus Odessa bevorzugt hier am Meer niederließen, weil sie das an ihre alte Heimat erinnerte. Neben den russischen Einwanderern gibt es in Brighton Beach aber auch noch Georgier, Armenier, Pakistani, Afghanen, Polen, sowie Schwarze, Hispanics und Türken in den Neighborhoods weiter westlich. Ihre massenhafte Unterbringung auf Coney Island (und Rockaway Beach) geht auf die Stadtentwicklungspolitik von Robert Moses zurück, der neue Sozialsiedlungen bevorzugt am Stadtrand errichten ließ, wo der Baugrund noch billig war.

„Kein Omelett ohne Eier zu zerschlagen“

An dieser Stelle drängt sich ein Exkurs über Robert Moses auf, den einflussreichsten Chefplaner New Yorks über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren. In Fachkreisen verglich man seine Bedeutung stets mit der von Baron Haussman, dem Schöpfer des modernen Paris. Aber obwohl für einen großen Teil des heutigen Erscheinungsbildes von New York verantwortlich, geriet er im Laufe der Zeit weitgehend in Vergessenheit. Als Sohn deutsch-jüdischer Eltern 1888 in Connecticut geboren, wuchs er in Manhattan auf und studierte in Yale, Oxford und Harvard; seine Karriere begann er als Chef kleinerer Bauprojekte. 1934 wurde er von Bürgermeister LaGuardia zum Parkbeauftragten berufen und behielt diesen Posten bis 1960. Von 1934 bis 1968 leitete er zusätzlich noch die Triborough Bridge Authority, zuständig für Hunderte von Großbauprojekten. Über Jahrzehnte war er in vorderster Front für Städtebau, Sozialwohnungsbau und das größte „Slum-Beseitigungsprogramm“ der USA verantwortlich, dazu kamen noch zahllose Straßen, Brücken, Tunnel, Parks und Gebäudekomplexe, ohne die New York heute undenkbar wäre. Darunter befinden sich die Verrazzano Bridge, die Triborough Bridge, der Brooklyn-Battery Tunnel, der Long Island Expressway, der Battery Park, das Gelände der Weltausstellungen 1939 und 1964 in Flushing, das Lincoln Center und das Uno-Hauptquartier am East River. Massenhaft genutzte Spielplätze, Schwimmbäder und Strandanlagen, von denen die New Yorker keine Ahnung haben, wem sie sie verdanken, gehörten ebenfalls zu seinem Programm. Kompromisslos und diktatorisch übte Moses seinen Job aus und überlebte dabei fünf Bürgermeister politisch. Der Masterplaner, der am liebsten mit Luftbildern arbeitete, wird heute überwiegend kritisch gesehen: Rund 500.000 Menschen wurden aus ihren (zugegebener Maßen verfallenen) Sozialwohnungen vertrieben und der Neubau von 1009 Kilometern Highways ist mit verantwortlich für das heutige Verkehrschaos in der City. Sätze wie „Städte wurden von und für den Verkehr geschaffen“ und „Du kannst kein Omelett herstellen, ohne Eier zu zerschlagen“ waren typisch für seine Denkweise und erleichtert kann man konstatieren, dass einige seiner stadtzerstörendsten Projekte unverwirklicht blieben, wie der Mid-Manhattan Expressway, ein sechsspuriger Highway auf Betonstützen vom East River bis zum Hudson, quer durch Manhattan, sowie die meilenlange Hängebrücke über den New Yorker Hafen, die Brooklyn-Battery Bridge, die an ihrem Landepunkt Lower Manhattan ausradiert hätte. Obwohl ein großer Liebhaber von Parks, konnte er sich eine Verlängerung der Fifth Avenue quer durch den Washington Square Park vorstellen, was aber durch den Protest der Anwohner verhindert wurde. Ein ungewollt positiver Nebeneffekt seiner Verkehrsprojekte war, dass sich an ihnen erstmalig Kritik an der „autogerechten Stadt“ entzündete.

Bleibenden Verdienst hat sich Moses aber mit seinen Seebädern erworben. Überzeugt von dem Gedanken, dass es die ärmeren Schichten dringend nötig hatten, ihren Elendsquartieren zu entkommen und die Freizeit auch in Licht, Luft und Sonne am Strand zu verbringen, setzte er sich mit aller Kraft für die Verwirklichung der Projekte Jones Beach Park, Coney Island und Rockaway Beach ein. Allerdings sollte sich die Anzahl der Benutzer dieser Anlagen stets in Grenzen halten, denn die überfüllte Enge von Slums war ihm ein Gräuel. Deshalb setzte er gleich nach seiner Berufung zum Parkbeauftragten eine Benutzungsordnung durch, die das Miteinander so vieler Erholungssuchender regelte. Am Strand war es jetzt verboten, menschliche Pyramiden zu bauen, Reden zu halten und Plattenspieler, Zeitungen und Badelaken mitzubringen. Er sorgte für die Einstellung von Rettungsschwimmern, vergrößerte die Strände durch Sandanschüttungen und erneuerte den viel besungenen Boardwalk in Coney Island, eine auf Pfählen stehende Strandpromenade, mit Millionenaufwand. Der Boardwalk war gesäumt von Papierkörben, Trinkbrunnen und Erste Hilfe Stationen. Allerdings zeichnet Moses auch verantwortlich für die überdimensionierte Anzahl von Sozialbauten, die aus Coney Island ein problematisches Viertel machten. Seine Pensionierung zögerte er heraus, bis er über 80 war und musste noch erleben, das Gouverneur Rockefeller eine seiner vielen Rücktrittsdrohungen, mit denen er so manches Projekt durchgedrückt hatte, einfach annahm. Er verstarb 1981 mit 93 Jahren.

Rockaway Beach

Die zu Queens gehörige Halbinsel Rockaway (der Name hat nichts mit irgendwelchen Felsen zu tun, sondern stammt aus dem Indianischen) ist der einzige Teil New Yorks, der sich direkt dem offenen Atlantik zuwendet. Nirgendwo ist man so weit weg von Manhattan wie hier und auch mit der zentralen und schnellen Subway Linie A braucht man anderthalb Stunden von Harlem bis auf die 17 Kilometer lange Halbinsel. Unser Zug fährt, nachdem er den JFK Airport passiert hat, das letzte Stück mitten durch die Vogelschutzgebiete der Jamaica Bay, bevor sich auf Rockaway die Linie A teilt und alternierend die Wohngebiete und Strände der Weißen im Süden oder der Schwarzen im Norden erreicht. Auch an diesem Strand existierte einst ein Vergnügungsviertel wie auf Coney Island, es gab eines der größten Hotels der Welt, Villen für Magnaten und Reihenhäuser für die Mittelschicht. Doch seitdem haben Hurricanes, Großbrände und vor allem die radikalen Stadtbaureformen von Robert Moses ganze Neighborhoods ausgelöscht. Sie mussten anonymen Neubauten mit DDR-Tristesse weichen und deren Bewohner haben das nördliche Rockaway mittlerweile zu einer No Go Area gemacht. In den südlichen Gebieten von Belle Harbor und Breezy Point scheint die Welt noch in Ordnung zu sein und auch Spuren des alten Charme finden sich noch überall – verwitterte Strandhütten und bröckelnde Belle-Époque-Häuser – direkt neben banalen Mietskasernen. Das Strandleben auf Rockaway funktioniert im Sommer noch wie in alten Zeiten, die Handschrift von Moses erkennt man aber an den überdimensionierten Parkplätzen für Besucher mit Platz für über 40.000 Fahrzeuge. Doch schon nach dem Labor Day am ersten September-Wochenende räumen die Bademeister ihre Hochsitze und da das Schwimmen ohne ihre Aufsicht nicht erlaubt ist, bedeutet es das Ende der Saison. Ganz in der Nähe, vor der Kulisse trister, braun und beige gestreifter Sozialwohnungen kämpfen Surfer im Herbst gegen die mächtigen Wellen an, die zu dieser Jahreszeit von Stürmen aus tropischen Regionen aufgetürmt werden. Auf dem knappen Stück Atlantikküste in der Nähe der 81st Street, direkt vor dem genannten größten städtebaulichen Fiasko der letzten fünfzig Jahre, gibt es die nach Malibu in Kalifornien höchsten Brandungswellen Amerikas.

Jones Beach Park

1928 startete Robert Moses seine Karriere als Landschaftsplaner mit dem Projekt von Jones Beach Park auf einer der vielen, Long Island vorgelagerten, Sandbänke. Als großer Befürworter der Auto-Mobilität hatte er gerade damit begonnen, Long Island mit drei Parkways auszustatten (Northern, Central und Southern State Parkway). Das waren Autobahnen frei von Schwerlastverkehr, die den Großstädtern die schnelle Verbindung ins Umland sichern sollten. Um das überfüllte Coney Island zu entlasten, lag es nahe, mithilfe dieser Schnellstraßen weitere sea side resorts für die Großstädter zu erschließen und Jones Beach ist ein besonders gelungenes Beispiel dafür, weil hier die Natur im Vordergrund steht und auf Wohnbebauung und Vergnügungsparks verzichtet wurde. Die wenigen bereits existierenden Wohnhäuser wurden umgesetzt und der Park lediglich mit zwei Schwimmbädern plus Badehäusern, einem Freilichttheater, einer Konzertmuschel, dem berühmten Wasserturm im venezianischen Stil, ein paar Restaurants und diversen Parkplätzen bebaut.

Der Besuch von Jones Beach ist für uns jedesmal ein must do, weil im Frühjahr der Wechsel von der überfüllten, lauten und stinkigen Großstadt in die menschenleere Weite des Parks am offenen Meer besonders eindrucksvoll ist. Schon die Anfahrt ist schön – zuerst die gewohnte, vom Northern Boulevard an den Resten der Expo in Flushing vorbei zum JFK – dann auf dem Belt Parkway und dem Sunrise Highway westwärts bis Freeport, wo der Meadowbrook State Parkway nach Süden abzweigt und man bald die reizvolle Küstenzone erreicht. Sie besteht, wie überall auf Long Island, aus Sandbänken im Meer, hinter denen sich, von unzähligen Vogelarten bevölkert, eine idyllische Lagunenlandschaft ausbreitet, die der allgegenwärtigen Zersiedlung standhält, weil der sumpfige Untergrund schwer zu bebauen ist. Auf einem Damm überquert man etliche in der Lagune liegende Inseln, passiert das – jetzt im Winterschlaf liegende – Mauthäuschen (der Park ist aber trotzdem eintrittspflichtig) und kann anschließend auswählen, auf welchem der zehn riesigen, in dieser Jahreszeit völlig verlassenen Parkplätze man das Auto abstellt. Die Zufahrt führt zu einem großen Rondell, auf dem der genannte Wasserturm steht, der seine Verwandtschaft mit dem Campanile von San Marco nicht verleugnen kann. Unweit davon befindet sich die Parkverwaltung, bei der sich unser Sohn das Jahresticket zum Preis von 70 $ für ein Auto mit allen Insassen abholt.

Unser Parkplatz ist jedes Mal Westend 2, am Westrand des eigentlichen Parks, der hier viel naturbelassener wirkt, als das übrige Gelände. Durch die Beschäftigung mit dem Werk von Robert Moses weiß ich jedoch, dass alle Natur hier das Werk von Menschenhand ist: Damit der geplante Park nicht sofort wieder vom Meer verschlungen würde, ließ Moses Unmengen von Sand auf Jones Beach anschütten; der allerdings wurde von den ständig blasenden Winden sofort wieder weggeweht. Ein Botaniker empfahl dem Architekten daraufhin die Anpflanzung einer besonders resistenten Sorte von Dünengras, das durch seine Wurzeln den Boden befestigen sollte. Vom Parkplatz kommend, durchqueren wir solch eine unter Naturschutz stehende Strandgraszone, in der in dieser Jahreszeit Salzwassertümpel stehen. Am Wasser hat man rechts und links von sich endlose Sandstrände und vor sich den erst in Europa endenden Atlantik. Angesichts der sehr frischen Temperaturen ist man erstaunt, sich hier auf demselben Breitengrad zu befinden wie Neapel.

Ich entfliehe dem scharfen Wind am Meer, indem ich mich mit der Enkelin ins Auto zurückziehe. Für ihre Führerscheinprüfung benötigt sie noch ein wenig Übung und ich bin glücklich, als Lehrer trotz Pensionierung noch gebraucht zu werden. Der völlig verlassene, weiträumige Parkplatz ist sehr gut geeignet für Vollbremsungen und Beschleunigungungsversuche und auf den Parkstreifen und an einer Bordsteinkante kann ich sie weidlich mit Rückwärtseinparken und seitlichem Heranfahren quälen. Die anderen laufen derweil den Strand ab bis zur Mole am Westend, von der man einen schönen Blick auf Long Beach hat, die Sandbank zwischen Rockaway und Jones Beach.

23 New Yorks Kehrseiten

Klima

Zur Zeit unserer Anwesenheit, Anfang Mai, ist es mit 32 Grad gerade sommerlich heiß. Aber die Temperaturschwankungen von 10 bis 20 Grad, unter denen wir in der letzten Woche gelitten haben, gelten hier als ganz normal. Die Gebirgsketten des amerikanischen Kontinents verlaufen alle in nord/südlicher Richtung, was bewirkt, dass bei entsprechenden Winden kalte Luft aus dem Norden ebenso wie warme Luft aus dem Süden sehr schnell überallhin transportiert wird. Eine Klimabarriere etwa wie die Alpen oder die Pyrenäen in Europa gibt es hier nicht und deshalb können Orangen in Florida ebenso schnell abfrieren wie in New York Anfang März Schnee und Eis durch einen Wärmeeinbruch wegschmelzen. Bei Nordwind kann es im Winter in New York extrem kalt werden und jeder kennt die Fotos mit den Dampfsäulen über den Gullys und Subwayeingängen. Bei großer Luftfeuchtigkeit im Winter gibt es Schneefälle, die das städtische Leben zum Erliegen bringen und die gleiche Feuchte sorgt im Sommer für unerträgliche Schwüle. Hurricanes und Blizzards begleiten die Zeiten der Wetterumstellung und uns allen sind die katastrophalen Folgen von Hurricane „Sandy“ im Jahre 2012 noch in Erinnerung. Das Wetter ist einer von vielen Faktoren, die das Leben in NY anstrengender machen, als es anderswo ist.

Stress

Ein anderer ist die in der Stadt herrschende Hektik, denn wie überall in den Megastädten der Welt sind die Menschen darauf eingestellt, dass es in ihnen schneller zugehen muss als anderswo. Das erfährt in New York noch eine Steigerung, denn die Stadt mit ihren 8,5 Mio Einwohnern befindet sich innerhalb eines Ballungsraumes von 22 Mio Menschen. Die Kommunikationsmittel sind für solch eine Ansammlung entweder gar nicht ausgelegt oder am Rande ihrer Kapazität. Deshalb entstehen immer wieder Verzögerungen, Staus und Pannen, die man durch gesteigerte Geschwindigkeit wieder aufholen will. Alle in Jobs mit Publikumsverkehr Beschäftigten reden sehr schnell und vor allem laut, um sich keinesfalls wiederholen zu müssen. Die Leute als auch die Fahrzeuge auf der Straße bewegen sich schneller als auf dem Lande und im Berufsleben haben langsame Arbeiter nur schlechte Chancen.

Lärm

Ein weiterer Faktor – und keinesfalls der unwichtigste – ist der Lärm, von dem man den ganzen Tag eingehüllt ist. Wo immer man sich aufhält, wird man von einer Vielzahl von Geräuschen auf einmal heimgesucht und ich versuche einmal, diese allein durch lautmalende Substantive auszudrücken:

In den Verkehrsmitteln: Rattern der Hochbahnen, Rumpeln der Subway, Zischen der Subwaytüren, Gedröhn der Lautsprecheransage, Stimmengewirr in allen Sprachen, Gekreisch von Teenagern, Gebrüll von Evangelikalen, Gedudel von Musikern, Rattern der Klimaanlage, etc.

Auf der Straße: Gehupe der Autos, Knattern der Motorräder, Rumpeln der Busse, Donnern der trucks, Zischen der Bremsen, Piepen beim Rangieren, Heulen der Ambulanzen, Jaulen von Streifenwagen, Gebimmel des Eiswagens bei gutem Wetter, Rauschen der Klimaanlagen, Stimmengewirr in allen Sprachen, Pfeifen der Flugzeuge nach La Guardia, etc.

Zu Hause: Stimmengewirr in Englisch, Russisch, Deutsch, lautstarke Diskussionen, Übertönen des anderen im Streit, Geklapper von Geschirr, Ächzen der Spülmaschine, Straßenlärm von draußen, Knarren des Türsummers, Scheppern des Aufzuggitters, Klingeln und Piepsen der Smartphones, etc. In unserem Fall sind die Geräusche zu Hause eindeutig die am wenigsten stressenden von allen genannten, aber wie mag das in einem weniger intakten Viertel sein, wo sich die Bewohner mangels Rücksichtnahme gegenseitig die Lebensqualität rauben.

Als Besucher hat man es ja noch gut, denn ist man vom Wetter, der Hektik und dem Lärm angefressen, kann man ohne Weiteres einen ruhigen Tag zu Hause einlegen, was dem berufstätigen Einheimischen gar nicht vergönnt ist. Die Urlaubszeit ist kürzer als in Europa, es gibt weniger Feiertage und die liberalisierten Ladenöffnungszeiten verhindern für die dort Beschäftigten eine gemeinsame Freizeitplanung mit ihren Angehörigen. Hinzu kommen die weiten Wege zum Arbeitsplatz, denn die wenigsten der in Manhattan Arbeitenden verdienen genug um dort auch zu wohnen. So kommen zur Arbeitszeit noch lange Anfahrtwege und der tägliche Kollaps des Verkehrssystems erzeugt neuen Stress bei den Beteiligten.

Soziale Segregation

Aber auch die Freizeitgestaltung bringt Stress, denn nur die wenigsten Attraktionen sind kostenlos wie der Central Park und die Highline. Überall zahlt man gepfefferte Preise und wenn man mit der Familie nur etwas trinken oder Eis essen geht, sind ganz schnell 50 $ weg. Will man ins Umland, zahlt man erst mal eine Mautgebühr an den strategisch wichtigen Brücken und Tunnels und bei Sehenswürdigkeiten, Museen, Theatern, Konzerten, ja selbst im Kino sind die Eintrittsgelder viel höher als bei uns. Schließlich gewöhnt man sich einfach daran, dass alles etwas kostet, sofern man ein geregeltes und nicht zu knappes Einkommen hat.

Allerdings haben viele ein solches nicht und wenn man mit den Unterprivilegierten konfrontiert ist, wie beispielsweise mit den Latinos, die auf der Suche nach 5-Cent- Pfandflaschen gigantische Plastiktüten durch die Straßen ziehen, den Bettlern und Musikanten in Bahnhöfen und Zügen und den homeless mit ihrer gesamten Habe in einem geklauten Einkaufswagen, wird einem schon klar, dass die Spaltung der Gesellschaft in Amerika viel weiter fortgeschritten ist als in Europa. Zwar existiert auch in NY staatliche Unterstützung durch Sozialhilfe und Sozialwohnungen, aber insbesonders die Ballung von letzteren in bestimmten Neighborhoods sorgt für eine räumliche Segregation zwischen arm und reich, die es in diesem Ausmaß bei uns noch nicht gibt.

Ständiger Umbruch

Alle Wohngebiete befinden sich in einem ständigen Umbruch, in einer Pendelbewegung zwischen Gentrifizierung und Verslumung. Erstere vertreibt Bezieher mittlerer Einkommen aus ihrem gewohnten Umfeld in ein sozial prekäres und letztere sorgt durch wachsende Kriminalität, Verdreckung, Lärm und Rücksichtslosigkeit dafür, dass sich die Bewohner das Leben gegenseitig zur Hölle machen und solche Problemviertel letztlich abgerissen werden. In Europa ist solch ein Teufelskreis vom Neubau eines Wohngebiets, Abstieg durch permanent zuziehende Unterprivilegierte, Vernachlässigung der Substanz, Verfall, Abriss und anschließendem Neubau noch nicht so ausgeprägt wie in Amerika; das Recycling ganzer Stadtviertel fand bei uns bestenfalls nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs statt. Mir erscheint die Abrissmentalität, der in gar nicht schöner Regelmäßigkeit immer wieder bedeutende Gebäude zum Opfer fallen, als typisch amerikanisch: Der Stellenwert des Profits, der Glaube an den ständigen Fortschritt und die Sucht nach immer wieder Neuem hat in Europa nur wenig Vergleichbares. Erst in allerletzter Zeit begründen sich Initiativen, die sich gegen den Abrisswahn wenden, Gentrifikation als soziales Übel bekämpfen und ein Miteinander aller Gesellschaftsschichten im selben Stadtviertel anstreben. So hat gerade die Einweihung der Hudson Yards, eines aberwitzig teuren Luxusprojekts am Anfang des Highline Park große Proteste ausgelöst.

24 Oper und Konzert in New York

Wie in allen Auswanderungsgebieten hatten die Ankömmlinge in der Neuen Welt zunächst anderes zu tun, als sich der Musik zu widmen. Zwar fanden in Europa gebaute Musikinstrumente (auch Pianos und Flügel!) sogar ihren Weg bis in den Wilden Westen, aber es dauerte doch ca. 150 Jahre, bis sich ein eigenständiges Musikleben in Amerika entwickelte. Hier wirkende Dirigenten und Musiklehrer waren in der Regel zweitklassige Europäer, aber Konzerte weltberühmter Stars wurden durchaus schon veranstaltet. Da aber weder ein Opernhaus noch ein großer Konzertsaal existierte, mussten die Gastspiele in Theatern, Vergnügungs-Etablissements oder Kirchen stattfinden, was ihrem Charakter als Kulturveranstaltung abträglich war. Das im Battery Park an der Südspitze Manhattans gelegene Castle Clinton war der erste New Yorker Ort für Großveranstaltungen. 1824 hatte man das Festungsgebäude mit einem Dach versehen und unter dem Namen Castle Garden zum Theater umfunktioniert. Hier fanden die von dem Zirkusunternehmer P. T. Barnum veranstalteten Gastspiele der berühmten schwedischen Opernsängerin Jenny Lind statt, die von 1850 bis 1852 einen Starrummel von bis dahin unbekannten Ausmaßen auslösten; es existieren zeitgenössische Illustrationen, auf denen ein außer Rand und Band geratenes Publikum abgebildet ist.

Auch der Bau von hochwertigen Musikinstrumenten, die die Voraussetzung jedes ambitionierten Musiklebens sind, kam in Amerika relativ spät und nur langsam in Gang: Christian Friedrich Martin aus Markneukirchen baute 1833 in New York die erste amerikanische Gitarre und wurde Begründer der heute noch bestehenden Instrumentenfabrik C. F. Martin & Company. Der deutsche Geigenbauer Georg Gemünder aus Ingelfingen eröffnete 1852 in Astoria (heute Queens) eine Werkstatt für Violinenbau. Als Schüler von Jean-Baptiste Vuillaume in Paris war er der erste Amerikaner, dessen Instrumente auf Ausstellungen in Wien, Paris, London und Amsterdam Preise gewannen. 1853 gründete der deutsche Klavierbauer Heinrich Engelhard Steinweg aus Seesen eine Pianofabrik in Manhattan, die zur Keimzelle des Weltunternehmens Steinway & Sons werden sollte und heute eine ganze Neighborhood in Queens einnimmt.

Die Entwicklung des New Yorker Musiklebens, der ich mich in diesem Kapitel widmen will, geht auf Lorenzo Da Pontes Italienisches Opernhaus zurück (wie im Kapitel über Little Italy bereits erwähnt). Aber, 1833 errichtet, ging es bereits nach der zweiten Saison pleite, wurde verkauft und brannte obendrein wenig später total ab.

Das Ringen um ein Opernhaus

Die Klientel für ein solches Theater war zu Da Pontes Zeiten noch recht dünn gesät, ein Zustand, der sich mit wachsender Prosperität der Stadt sehr schnell wandelte. Schon 14 Jahre später unternahmen gut situierte Bürger einen erneuten Anlauf, New York zu einer eigenen Oper zu verhelfen. 1847 entstand mit ihrem Geld in feiner Gegend – wo ursprünglich die deutsch-amerikanische Millionärsfamilie Astor zu Hause war – ein neuer Musen-Tempel für die uppertens der New Yorker Gesellschaft, arrivierte Wohlhabende, welche danach hungerten, Europas berühmteste Künstler auch in der Neuen Welt auf der Bühne zu sehen. Der Architekt Isaiah Rogers entwarf das Astor Opera House im Stil des Klassizismus und erfüllte das Hauptbedürfnis seiner Auftraggeber, sich als neue Gesellschaftsschicht von den ungebildeten Schichten abzusetzen und sich in gepflegter Atmosphäre elitärem Kunstgenuss hinzugeben. So erhielt das Haus am Astor Place zwei Ränge mit einer überdimensionierten Anzahl von Privatlogen und reich ausgestattete Gesellschaftsräume, in denen die höhere Klasse unter sich bleiben konnte. Statt der in zeitgenössischen Theatern üblichen Sitzbänke gab es hier Polstersitze, die man nur im Abonnement buchen konnte. Die preiswerteren oberen Ränge mit 500 weiteren Plätzen besaßen einen separaten Zugang über ein enges Treppenhaus, wie auch grundsätzlich im Hause die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten streng voneinander getrennt gehalten wurden. Dazu kam ein strikter Dresscode (Abendanzug mit Glacéhandschuhen) und Männer mussten frisch rasiert sein, um Einlass zu erlangen.

Nur mit Opernaufführungen allein war das Geschäftskonzept des Hauses noch nicht tragfähig, deshalb wurde hier auch Theater gespielt. Im Jahre 1849, in dem sich in New York sehr viel sozialer Sprengstoff angesammelt hatte, kam es im Astor Opera House zum Anlass des berüchtigten Astor Place Riot, einem Aufruhr, in dessen Verlauf 25 Menschen von der Polizei erschossen wurden. Ausgelöst durch Grenzstreitigkeiten mit dem britisch gebliebenen Kanada, durch Kritik an der englischen Regierung, weil sie nichts gegen die irische Hungersnot unternahm (was zu ständig wachsenden Scharen irischer Flüchtlinge nach New York führte) und durch das zunehmende Selbstbewusstsein der US-Amerikaner, sich als eigenständiges Volk und nicht mehr als Abkömmlinge emigrierter Engländer zu sehen, war es in Amerika zu einer gesellschaftlichen Spaltung gekommen in der sich „Amerikaner“ und „Briten“ auseinander dividierten. Aristokratie und Hochnäsigkeit, aber auch gesellschaftlichen Erfolg und Kunstsinnigkeit betrachtete man jetzt als typisch englisch, während Kleinbürgerlichkeit und Zugehörigkeit zu Migrantenkreisen, aber auch Erfolg im Arbeitsleben und Integration in die neue Vielvölkergesellschaft als typisch amerikanisch angesehen wurden. 1849 lief sowohl im Astor Opera House als auch im benachbarten Broadway Theater eine Inszenierung von Shakespeares Macbeth und die Hauptrolle war jeweils mit einem berühmten Schauspieler besetzt. Diese trugen bereits seit Jahren eine Privatfehde untereinander aus: Während der im Astor House im Rahmen eines Gastspiels auftretende William Macready Engländer war, präsentierte sich der im Broadway Theater in einer en suite Inszenierung tätige Edwin Forrest als glühender Amerikaner. Angeheizt von einem korrupten Tammany Hall Polizisten und dem berüchtigten Sensationsjournalisten Buntline demonstrierten mehrere Tausend „amerikanische“ Anhänger von Forrest vor dem „English Aristocratic Opera House“ und beschimpften das ankommende „englische“ Publikum. Am nächsten Tag kauften sie sämtliche Karten in den „proletarischen“ oberen Rängen des Theaters, warfen faule Eier, verdorbenes Obst und Flaschen mit stinkendem Inhalt auf die Bühne und verwüsteten das Theater, währenddessen der Hauptdarsteller in Verkleidung flüchtete. Diese Ereignisse bewogen den New Yorker Polizeichef, am nächsten Tag Militär zur Verstärkung anzufordern, welches die Demonstrationen beider Seiten unterbinden sollte. Das gelang aber überhaupt nicht und nach einigen Warnschüssen in die Luft feuerten die Truppen direkt in die weiter vorrückende Menge und töteten 25 Personen. Dieser schreckliche Vorfall ruinierte New Yorks zweites Opernhaus; sein nicht in Vergessenheit geratender Ruf als „Massacre Opera House“ am „DisAstor Place“ führte letztendlich zur Schließung 1854 und zum Verkauf an eine private Bibliothek, die das Gebäude 1890 abriss und die noch heute dort stehende Clinton Hall erbaute.

Schon während der Agonie des Astor Opera House hatte sich ein weiteres Konsortium gebildet, das 1000 $ Aktien für den Bau eines neuen Opernhauses ausgab. Am Union Square wurde ein Grundstück erworben, auf dem die Academy of Music entstand, das erste „echte“, für jeden zugängliche Opernhaus in den Vereinigten Staaten. 1854 eröffnet, war das von dem deutsch-amerikanischen Architekten Alexander Saeltzer (einem Absolventen der Berliner Bauakademie und Schüler Karl Friedrich Schinkels) errichtete Gebäude mit 4.000 Plätzen das damals größte Operntheater der Welt. Auf fünf Ebenen (Orchestergraben, Parkett, Empore und drei Rängen) erhob sich der Zuschauerraum bis auf eine Höhe von 24 Metern. Die New York Times lobte am Eröffnungsabend zwar die Akustik der neuen Academy of Music, klagte aber über die schlichte Architektur, die karge Innenausstattung und vor allem über die zu enge Bestuhlung. Denn obwohl im plüschigen Look gehalten und mit einigen Privatlogen versehen, wurde doch jede Erinnerung an die luxuriöse Einrichtung des Vorgängerbaus vermieden und die Preisgestaltung blieb ausgesprochen moderat. Ein staatlich subventioniertes Opernhaus lag amerikanischem Denken völlig fern und so barg das eigentlich vernünftige Konzept „Kunst für Alle“ auch bereits den Keim des Untergangs von New Yorks drittem Musiktheater: Für die Realisierung der teuren Kunstrichtung Oper (mit Orchester, Ballett und Sängern) benötigte man viel Geld und dieses allein über den Eintrittspreis aufzubringen hätte die mittleren Schichten vom Opernbesuch ausgeschlossen. Bei einer Finanzierung allein durch die Reichen musste man denen auch eine gewisse Exklusivität gewähren, die ihren hohen Beitrag für das Ganze rechtfertigte und gerade daran war ja das Astor Opera House gescheitert. 30 Jahre hielt man den Spagat zwischen Volkstheater und elitärem Musentempel aus (sogar ein Brand und der anschließende Wiederaufbau 1866 wurde verkraftet), weil die Betreibergesellschaft Einnahmen nicht nur aus dem Opernbetrieb zog, sondern das Gebäude auch für Theateraufführungen, Massenversammlungen, Ausstellungen und sogar Maskenbälle vermietete. Insbesondere bei letzteren, French Balls genannt, ging es recht freizügig zu, was der Reputation des Opernhauses abträglich war und eine Gruppe von nouveaux riches, unter ihnen Rockefeller, Vanderbilt und Carnegie bewog, 1883 eine Metropolitan Opera Company zu gründen. Ziel war die Errichtung eines würdigen Hauses, das mit den berühmten europäischen Vorbildern mithalten oder sie eines fernen Tages sogar übertreffen könnte. 1886 war Schluss mit den Opernvorführungen in der Academy, die zum Revuetheater, später sogar zum Kino herunterkam und 1926 für den Bau eines Wolkenkratzers abgerissen wurde (genauso wie die benachbarte Tammany Hall).

Das Metropolitan Opera House (im Volksmund „Old Met“) entstand in Midtown Manhattan am Broadway und erstreckte sich über den gesamten Block zwischen West 39th Street und West 40th Street. Wegen seines industriell anmutenden Äußeren wurde es spöttisch „The Yellow Brick Brewery“ genannt, aber es hatte eine hervorragende Akustik und ein elegantes Interieur; zwei der fünf Ränge enthielten Privatlogen, wie es sich die Geldgeber gewünscht hatten. Das Haus hatte 3.625 Sitz- und 224 Stehplätze und eigentlich alles darin übertraf die Academy of Music, bis auf die Backstage-Einrichtungen, die für ein großes Opernhaus völlig unzureichend waren. Oft genug standen die Kulissen draußen in der 39th Street, wo sie von den Bühnenarbeitern zwischen den Aufführungen ausgewechselt werden mussten. Es ist schon bezeichnend, dass ein solcher Mangel, der das Funktionieren des Opernbetriebs stark einschränkte, von den nur auf ihre Selbstinszenierung bedachten Sponsoren übersehen wurde. Im August 1892 vernichtete ein Feuer das erst neun Jahre alte Theater, aber man baute es wieder auf und verschönerte es 1906 noch durch das imposante goldene Auditorium mit dimmbarem Kronleuchter und dem geschwungenen Proszenium, auf dem die Namen der sechs Komponisten Gluck, Mozart, Beethoven, Wagner, Gounod und Verdi angebracht waren. Auch die ersten charakteristischen Met-Bühnenvorhänge aus goldenem Damast wurden installiert und vervollständigten das noble Aussehen, welches das Haus bis zu seiner Schließung beibehielt. In diese Zeit fällt die Glanzzeit der Oper mit Dirigenten wie Gustav Mahler, Arturo Toscanini, Bruno Walter, George Szell und Fritz Busch und der gesamten Weltelite der Sänger. In der Saison 1908 beging das im Umbruch befindliche Management allerdings den Fehler Mahler und Toscanini gleichzeitig zu verpflichten und ein Konflikt zwischen den beiden musikalischen Halbgöttern, in Geschmack und Prioritäten völlig kontrovers, erschien unvermeidlich. Geschickte Winkelzüge der Verantwortlichen hielten das Problem schließlich unter der Decke. Mahler dirigierte 1909 nur den Saisonbeginn der Met und wurde anschließend von der New York Philharmonic zum Musikdirektor berufen.

Der Ölmilliardär John D. Rockefeller II verfolgte inzwischen weiterhin das Ziel eines repräsentativen und funktionalen Neubaus der Met in seinem Ende der 20er Jahre entstehenden Rockefeller Center, wofür er eine großzügige Spende in Aussicht stellte. Doch der Börsenkrach von 1929 ließ die private Betreibergesellschaft von dem Projekt Abstand nehmen und 1940 löste eine gemeinnützige Metropolitan Opera Association endlich die Millionärsfamilien als Eigentümer ab. Der zweite Rang der privaten Logen wurde jetzt aufgegeben und in eine Standardsitzreihe umgewandelt, wodurch man die Kapazität des Hauses vergrößerte; nur im ersten Rang blieben noch Logen für die New Yorker snobiety erhalten. Weitere 25 Jahre hielt man es mit den bühnentechnischen Unzulänglichkeiten noch aus, bis ein Projekt von Robert Moses zur Stadterneuerung neue Perspektiven eröffnete.

In einem neu zu erbauenden Lincoln Center an der New Yorker Upper West Side sollten die wichtigsten Musikinstitutionen endlich eine Heimstätte nach modernsten Standards erhalten, die Met ein neues Opernhaus, die New York Philharmonic einen Konzertsaal und das Konservatorium (die Juillard School) ein Lehrgebäude sowie Proben- und Aufführungsräume. Mit einer Gala-Vorstellung, an der so gut wie alle aktuellen Spitzenkünstler der Met teilnahmen und einem Auftritt des Bolschoi-Balletts verabschiedete sich die Metropolitan Opera 1966 von ihrem alten Haus. Trotz einer Kampagne zu seiner Erhaltung wurde es 1967 abgerissen, zugunsten eines 40-stöckigen Büroturms, der der Met im Lincoln Center angeblich ein stabiles Einkommen garantieren sollte. Nachdem aber genügend Gras über den Abriss-Skandal gewachsen war, wurde der Turm von der Metropolitan Opera Association einfach weiterverkauft. Das Lincoln Center hinterlässt bei dem ebenfalls aus einer Musikstadt kommenden Beobachter einen zwiespältigen Eindruck: Allzusehr ist es dem Beton-Brutalismus der Erbauungszeit verhaftet, die akustischen Probleme des Konzertsaals waren lange Zeit nicht lösbar, ein Blick aufs Programm offenbart die Ausrichtung auf ein sehr breites Besucherspektrum (von Filmmusik über Symphonien bis zur Oper) und die Eintrittspreise lassen erkennen, dass auch die vermeintlich gemeinnützige Betreibergesellschaft rein betriebswirtschaftlich orientiert ist. Dazu kommt die Auseinandersetzung um die sexuellen Übergriffe des vorletzten Operndirektors und die meistbietende Versteigerung des Namens für den Konzertsaal. Die ursprüngliche Philharmonic Hall erhielt 1973, nach einer Schenkung von 10,5 Mio Dollar durch einen HiFi-Phono-Produzenten für ihre Renovierung, seinen Namen zum permanenten Gebrauch: Avery Fisher Hall. Doch 40 Jahre später, als weiteren Reparaturkosten in einer Höhe aufliefen, die Mr. Fishers Spende als Trinkgeld erscheinen ließen, liebäugelte das Lincoln Center mit einer erneuten Namensvergabe an einen großzügigen Donator. Auf den Protest der Avery Fisher Erben reagierte man salomonisch: Von den 100 Mio $, die der neue Sponsor David Geffen, ein schwerreicher Film- und Musikproduzent zu zahlen bereit war, gingen 15 Mio $ an die Fisher Erben als Schweigegeld und die New Yorker mussten sich an einen neuen Namen für ihre Philharmonie gewöhnen, die David Geffen Hall. Bevor ich mich nun dem Orchester der New York Philharmonic widme, noch ein kurzer Exkurs über einen weiteren weltberühmten europäischen Musiker, dessen Leben mit New York verbunden ist.

Dvořák in der Neuen Welt

Von 1892 bis 1895 wirkte Antonin Dvořák als Direktor des National Conservatory of Music in New York. Jeannette Thurber, der reichen Gründerin dieser fortschrittlichen Institution, an der sogar Frauen und Schwarze studieren durften, war es gelungen, den böhmischen Komponisten für ein Jahresgehalt von 15.000 $ nach Amerika zu locken – an ihrem Konservatorium sollte er Komposition lehren und musikalische Aufführungen leiten. Während dieser Tätigkeit komponierte er drei seiner berühmtesten Werke, darunter als Auftragswerk der New York Philharmonic die 9. Symphonie „Aus der Neuen Welt“. Ihre Uraufführung wurde ein Triumph und begründete Dvořáks Weltruhm. Dass er darin amerikanische Volksmusik, insbesondere das Spiritual Swing Low Sweet Chariot verarbeitet habe, ist eine Legende, wiewohl immer wieder gern kolportiert. Dvořák blieb in den wenigen New Yorker Jahren seinem europäischen Kompositionsstil treu, wie auch seinem Heimatlande, in das er endgültig zurückkehrte, als eine Wirtschaftsdepression seine Geldgeberin in finanzielle Schwierigkeiten gestürzt hatte und die Zahlung seines Gehalts ausblieb. Das Konservatorium in der East 117th Street ging 1911 pleite und wurde für den Bau einer High School abgerissen, Dvořáks Wohnhaus, in dem das Cellokonzert und die 9. Symphonie entstanden, musste trotz Protesten des tschechischen Präsidenten Václav Havel und anderer engagierter Bürger 1991 dem Bau eines Hospizes für AIDS-Kranke weichen.

New Yorks Philharmoniker auf dem Weg nach oben

Das erste philharmonische Orchester der Stadt (das dritte dieser Art in Amerika seit 1799) wurde als Philharmonic Society of New York 1842 gegründet. Sein Träger war ein Verein mit dem Zweck der „Förderung der Instrumentalmusik“ und die Musiker agierten als Kooperative, welche die Mitgliedschaft, das aufzuführende Programm und den Dirigenten durch Mehrheitsbeschluss bestimmte. Auf dem ersten Konzert mit 600 Zuhörern in den Apollo Rooms am Broadway spielte man Beethovens 5. Symphonie. Schon vier Jahre später kamen Pläne zur Errichtung eines eigenen Konzertsaals auf, wofür ein großes Benefizkonzert mit 400 Mitwirkenden im Castle Garden, dem damals größten Veranstaltungsort von New York, den Grundstein legen sollte – auf dem Programm stand Beethovens 9. Symphonie (die Ode an die Freude hatte man dafür extra ins Englische übersetzt). Wegen des teuren Eintritts von 2 $ und einer Kundgebung in der Innenstadt blieb das erhoffte Publikum jedoch aus und das neue Konzerthaus musste noch 50 Jahre lang auf seine Verwirklichung warten. Die Neunte wurde in Amerika schnell zum populärsten Werk für bedeutende Anlässe, obwohl viele Zuhörer es für ein merkwürdiges Stück hielten, weil die beeindruckend vielen Sänger so lange auf ihren Einsatz warten mussten. In den ersten sieben Jahren wechselten sich sieben Orchestermitglieder beim Dirigieren der Konzerte ab, bis 1849 Theodor Eisfeld zum ersten ständigen Musikdirektor ernannt wurde. 1816 in Wolfenbüttel geboren, hatte er in Braunschweig, Dresden und Bologna (bei Rossini!) studiert und war dann nach Amerika gegangen. Viel kritisiert, weil Virtuosität für ihn nur das besonders schnelle Abspielen der Stücke bedeutete, hatte er 1865 die Aufgabe, das Gedenkkonzert für den ermordeten Präsidenten Lincoln auszurichten. Er beschloss Beethovens Neunte aufzuführen, bis die New Yorker Presse darauf hinwies, dass diese doch mit einer für den tragischen Anlass höchst unpassenden Ode an die Freude endete, worauf er das Problem dahingehend löste, den Schlusschor einfach wegzulassen. Auf einer seiner vielen Reisen nach New York fing 1858 das Dampfschiff „Austria“ Feuer und sank vor Neufundland. Mit 456 Toten und nur 89 Überlebenden war das eines der schwersten Schiffsunglücke seiner Zeit. Eisfeld gehörte zu den wenigen Davongekommenen, litt aber anschließend an einem Nervenleiden, welches ihn an der weiteren Ausübung seiner Tätigkeit hinderte. Deshalb kehrte er 1866 nach Deutschland zurück, wo er 1882 im Alter von 66 Jahren verstarb.

Das Orchester arbeitete weiterhin mit zweitrangigen europäischen Dirigenten, darunter viele Deutsche wie Carl Bergmann, Leopold Damrosch und dessen Sohn Walter. Letzterer konnte den Stahlmagnaten Andrew Carnegie dazu bewegen, Geld für einen erstklassigen Konzertsaal zur Verfügung zu stellen, der in Manhattan an der 57th Street / 7th Avenue entstand und 2800 Zuhörer fasste. Zur Eröffnung im Mai 1891 dirigierte Peter Tschaikowsky fünf Abende lang eigene Werke in der neuen Carnegie Hall, wie sie nach wenigen Jahren zu Ehren ihres wichtigsten Wohltäters benannt wurde. Das auch noch mit einem Kammermusiksaal versehene Haus gilt als eines der besten Konzerthäuser der Welt, dient aber nicht ausschließlich der klassischen Musik sondern auch dem Jazz und der leichten Muse. Bis 1962 blieb es die Heimat des Orchesters und hier vollzog sich dessen Aufstieg an die Weltspitze.

Mahler bringt’s

Gustav Mahler, 1907 zunächst für die Met verpflichtet, ging der Ruf eines Autokraten voraus, der von den Musikern absolute Perfektion verlangte. Er galt als schwierige, ja neurotische Persönlichkeit, mehr daran interessiert, endlose Sinfonien zu komponieren, die niemand hören wollte, als an einem Opernhaus mit Sängern und Musikern zu arbeiten. Jedoch waren diese Vorurteile nur aus den giftigen Intrigen erwachsen, mit denen er in Wien konfrontiert war, die Skeptiker in New York lagen völlig daneben. Mahler erwies sich als charismatischer und äußerst gut organisierter Dirigent, der genau wusste, was er von einem Orchester wollte und wie man es für sich einnimmt. Als Arturo Toscanini gleichzeitig mit ihm zum Chefdirigenten der Met ernannt wurde, nahm Mahler 1909 lieber das Angebot der Philharmonic Society für das Amt des Musikdirektors an, eine Entscheidung, die ihm um so leichter fiel, weil seine Auffassung von einem reformierten Operntheater bei den konservativen Geldgebern der Met schwer durchzusetzen war. Stattdessen reorganisierte er das Symphonieorchester, steigerte die Zahl der Konzerte erheblich, stellte neue Musiker ein, arbeitete sie unermüdlich ein und ging mit ihnen auf erfolgreiche Tourneen. Damit legte er den Grundstein für die heutige Reputation der New York Philharmonic. Seine Konzerte in der Carnegie Hall waren legendär, Mahler lieferte fokussierte, aufgeladene Interpretationen, setzte ungewöhnliche Akzente und nahm sich rhythmische Freiheiten, ganz anders als sämtliche seiner Vorgänger.

Das oft kolportierte Porträt von Mahler als gequältem und einsamem Asketen, der in Amerika von der sensationsgierigen Musikszene buchstäblich zu Tode gehetzt wurde, gilt heute nur noch als Fiktion, popularisiert durch die selbstverliebten Memoiren seiner Frau, der schönen und koketten Alma (geb. Schindler, verh. Mahler, Gropius, Werfel). Aber seine wenigen New Yorker Jahre waren trotz aller Triumphe niemals frei von Sorgen. Kurz vor der Ankunft war seine vierjährige Tochter gestorben, bei ihm selbst diagnostizierten die Ärzte Endokarditis, damals eine tödliche Krankheit und als weiterer Schlag kam 1910 die Entdeckung der Affäre seiner geliebten Alma mit dem Architekten Walter Gropius hinzu. Trotz dieser Kräfte raubenden Rückschläge nahm sich Mahler jedes Jahr in der Sommerpause auch noch Zeit zum Komponieren, in seinem Feriendomizil in Südtirol baute man ihm eigens ein Komponierhäusl – eine kleine Holzhütte, in der er an den letzten beiden Symphonien und dem „Lied von der Erde“ arbeitete. 1911, kurz nach seiner Heimreise aus den USA nach Europa, die er bereits schwer erkrankt antrat, starb er in Wien an seinem Herzleiden.

Seit Mahler war es für die renommiertesten Orchesterleiter der Welt eine Ehre, die NY Philharmonic zu dirigieren und die Liste seiner Nachfolger mutet an wie ein Pantheon der Dirigenten: Willem Mengelberg, Arturo Toscanini, Sir John Barbirolli, Bruno Walter, Leopold Stokowski, Dimitri Mitropoulos, Leonard Bernstein, George Szell, Pierre Boulez, Zubin Mehta, Kurt Masur, Lorin Maazel, Alan Gilbert und aktuell, Jaap van Zweden.

25 Tycoons – Henry Clay Frick

Große Gebieter

Die zweite Hälfte des 19. Jh. war in Nordamerika die Zeit der Tycoons, deren Name sich aus dem Japanischen ableitet, in dem taikun „Großer Gebieter“ bedeutet. Während der rasanten Industrialisierung der USA bürgerte sich diese Bezeichnung für die ersten Großkapitalisten ein, die innovative Firmen gegründet, sehr schnell Monopole gebildet und dann Geschäftsimperien aufgebaut hatten, die sie zu mehrfachen Millionären machten. Sie alle waren ihrer Zeit weit voraus und investierten ihr Geld in Projekte, die die Industrialisierung vorantrieben und von ihr profitierten. Eisen und Stahl waren die Werkstoffe des Zeitalters und im Umfeld von Kauf, Herstellung, Weiterverarbeitung und Verkauf dieser Materialien boten sich unglaubliche Gewinnmöglichkeiten. Andrew Carnegie gelang es große Teile der Stahlindustrie in einem Konzern zusammenzufassen, Henry Clay Frick erkannte die Wichtigkeit der Kohle für die Metallverhüttung und wurde zum Koks-Baron, Cornelius Vanderbilt und J. P. Morgan machten ihren sagenhaften Reichtum mit dem neuen Massentransportmittel, der Eisenbahn, wobei letzterer sein Vermögen durch Bank-, Aktien- und Investmentgeschäfte noch weiter vermehrte. John D. Rockefeller erkannte als erster die Bedeutung des Erdöls als Energieträger der Zukunft, während Henry Ford das Automobil durch Massenproduktion zum Verkehrsmittel des 20. Jahrhunderts machte. Die Genannten hatten (bis auf Henry Ford) alle einen Wohnsitz in New York und trugen mit ihrem Geld zum Aufschwung der Weltmetropole bei, die in diesen Jahren explosionsartig anwuchs. Das wiederum machte sich Johann Jakob Astor zunutze, der seinen durch das Pelzmonopol erworbenen Reichtum mit Immobiliengeschäften vervielfachte. Alle dieser tycoons erbauten sich hochherrschaftliche Wohnsitze rund um den Central Park, aber auch schlossartige Anwesen im Hudson Valley in upstate New York. Sie pflegten einen Lebensstil, der sich an dem englischer Adliger orientierte und waren allesamt Kunstsammler. Als sie das Lebensende und – als gläubige Protestanten – das Jüngste Gericht auf sich zukommen sahen, spendeten viele ihre Kunstwerke dem Metropolitan Museum oder eröffneten ein eigenes und gingen dadurch als Philanthropen in die Geschichte ein, obwohl sie sich während ihres Aufstiegs meist alles andere als menschenfreundlich verhalten hatten.

Lebensstationen eines Raffke

Das gilt in besonderem Maße für Henry Clay Frick (1849 – 1919), Enkel eines reichen Müllers und Whiskyherstellers, ein Mann von wenig formaler Bildung aber mit ausgesprochenem Geschäftssinn. Wie anderen Unternehmern auch war ihm die Bedeutung des Stahls für die rasante Entwicklung der Industrialisierung schon früh klar geworden, aber im Gegensatz zu seinen Konkurrenten konzentrierte er die eigenen geschäftlichen Aktivitäten auf die Kohle, die ja für die Herstellung von Stahl unabdingbar war. Mit Freunden zusammen konstruierte er einen Ofen, in dem aus Steinkohle Koks gewonnen wurde, ein für die Stahlherstellung wesentlich besser geeigneter Brennstoff als Kohle. Sobald die gemeinsame Neuentwicklung anfing Geld abzuwerfen, offenbarte sich sein wahrer Charakter und er zeigte die Raffgier, die in seinem gesamten weiteren Leben für ihn kennzeichnend bleiben sollte: Mit dem verdienten Geld kaufte er als erstes seine Freunde aus dem gemeinsamen Geschäft heraus und betrieb es fortan als alleiniger Eigentümer. Mithilfe der finanziellen Unterstützung des Freundes seiner Familie, des Millionärs Thomas Mellon, begann er im Alter von 22 Jahren Kohlebergwerke aufzukaufen. Während der finanziellen Panik von 1873 konnte er für einen Spottpreis zusätzlich noch die Betriebe seiner direkten Konkurrenten erwerben und als sich die Wirtschaft Anfang der 1880er Jahre wieder erholt hatte, war er Multimillionär, der auf 40.000 Hektar unzählige Kohlegruben betrieb, deren Ertrag in 12.000 Koksöfen verarbeitet wurde. 1882 machte er einen Deal mit dem Stahlmagnaten Andrew Carnegie, bei dem dieser eine Mehrheitsbeteiligung an der Frick Coke Company und Frick eine Minderheitsbeteiligung an Carnegies Steel Company erhielt. Von Anfang an arbeitete Frick jedoch daran, dieses Mehrheitsverhältnis zu seinen Gunsten zu drehen. 1889 hatte er endlich erreicht, dass Carnegie in den Ruhestand ging und er selbst Vorsitzender von Carnegie Steel wurde; unter seiner Leitung wuchs es zum weltweit größten Koks- und Stahlunternehmen heran.

Johnstown Flood

Seine exorbitanten Gewinne investierte Frick auch in Immobiliengeschäfte. So war er der Hauptinvestor einer Gruppe, die ein privates Urlaubsresort für Reiche plante, den South Fork Fishing and Hunting Club in der Nähe von Johnstown, Pennsylvania. Zu dem riesigen Waldgelände in den Bergen gehörte der Lake Conemaugh, ein Stausee, dessen Wasserstand die Investoren anheben ließen um ihn zu vergrößern und an seinem Ufer Ferienhäuser entstehen zu lassen. Für den Bau einer Zufahrtsstraße trugen sie die Krone des Staudamms ab und am Abfluss des Sees wurde ein Gitter angebracht, damit keine Fische entkommen konnten. In die Sicherheit des Damms und für den Unterhalt des Stausees investierte man dagegen nichts und zweifellos lagen hierin die Ursachen für die berüchtigte Johnstown-Flut am 31. Mai 1899. Nach tagelangen heftigen Regenfällen verstopften Äste und Unrat das Abflussgitter, wodurch der See weiter aufgestaut und der Damm unter der Belastung rissig wurde. Schließlich brach er in sich zusammen und Millionen Tonnen von Wasser, Schlamm und Geröll wälzten sich durchs Tal, verwüsteten Johnstown und töteten 2.200 Menschen. Frick verbot jegliche Kommentare der Gesellschafter (insbesondere solche betreffs einer Verantwortung für die Katastrophe) und engagierte die besten Rechtsanwälte. Die Gemeinde verklagte den South Fork Fishing and Hunting Club auf Schadenersatz, doch durch die Intervention der Frickschen Juristen kam es zur Einstufung des Dammbruchs als höhere Gewalt (act of God!). Dieser Skandal führte später zur Änderung des amerikanischen Haftungsrechts, wovon die aktuell Betroffenen aber nichts hatten und Frick, dessen persönliches Vermögen damals auf 12 Millionen Dollar geschätzt wurde, die Gelegenheit gab, sich als Philanthrop zu gerieren, indem er „persönlich“ Tausende von Dollars für Hilfsmaßnahmen spendete.

Feldzug gegen Arbeiter

Am abstoßendsten war Fricks Haltung gegenüber seinen Arbeitern und den Gewerkschaften. Er sah sich selbst im Wortsinn als „Arbeitgeber“, wofür die Arbeitnehmer dankbar zu sein hatten und vor allem seine Konditionen akzeptieren mussten. Exzessiv praktizierte er das „hire and fire“ Prinzip und die Bedingungen, unter denen seine Beschäftigten arbeiten mussten, waren ihm egal. Mit dem Mammoth Mine Desaster und dem Morewood Massacre geriet sein Konzern 1891 gleich zwei Mal in die Schlagzeilen. Die Kohlestaub-Explosion in der gerade von Frick erworbenen Kohlegrube kostete über 100 Arbeiter das Leben und gab Anlass für ausgiebige Diskussionen über Arbeitsschutz in den USA, ein Thema, das in Fricks Unternehmen nur eine untergeordnete Rolle spielte. Beim Morewood Massacre schoss die Polizei in eine Gruppe Streikender der Frick-Kokerei und tötete neun Arbeiter.

Doch erst beim Homestead Strike 1892 trat Frick als eiskalter Manchester-Kapitalist ins Licht der Öffentlichkeit. Aufgrund fallender Profitraten senkte er einseitig die Löhne seiner Beschäftigten um mehr als 20% und weigerte sich mit Gewerkschaftsvertretern, deren Existenzberechtigung er grundsätzlich bestritt, überhaupt zu verhandeln. Den Streik der Stahlarbeitergewerkschaft in seiner Fabrik in Homestead, Pennsylvania beantwortete er mit der Aussperrung der Streikenden und der Einstellung von Streikbrechern. Daraufhin besetzten Gewerkschafter das Fabrikgelände und zur Beendigung der Besetzung engagierte Frick Hunderte von Agenten der privaten Detektivagentur Pinkerton, die mit äußerster Brutalität gegen die Arbeiter vorgingen. Die bewaffneten Pinkertons provozierten Kämpfe und Schlägereien, bei denen mindestens zehn Personen getötet und Dutzende schwer verletzt wurden. Das amerikaweite Aufsehen über die Unruhen sorgte schließlich dafür, dass die Stadt unter Kriegsrecht gestellt wurde. Auf dem Höhepunkt des Skandals drang der Anarchist Alexander Berkman in Fricks Büro ein, feuerte drei Schüsse auf ihn ab und versuchte obendrein ihn mit einem vergifteten Messer zu erstechen. Nur durch das beherzte Eingreifen des im Büro anwesenden Vizepräsidenten von Carnegie Steel konnte der Attentäter gestoppt und festgenommen werden. Der Legende nach blieb Frick bis zum Ende seines Arbeitstages am Schreibtisch sitzen, während dessen Ärzte die Kugeln entfernten und der Patient jegliche Anästhesie verweigerte. Das Attentat auf den Industriellen bewirkte einen öffentlichen Meinungsumschwung über den Arbeitskampf in Homestead zuungunsten der Gewerkschaft und diese gab ihre Zielsetzung auf. Nicht jedoch Frick: Er sorgte dafür, dass alle Streikenden entlassen wurden und die anderen die Lohnsenkungen hinnehmen mussten. Auch dem Vizepräsidenten Leishman dankte er die Rettung seines Lebens schlecht, denn nachdem dieser Fricks Nachfolger geworden war, nutzte der seine politischen Beziehungen um ihn als US-Botschafter nach Frankreich wegzuloben.

Nach einem Streit mit Carnegie im Jahr 1899 wurde Frick durch Charles M. Schwab als Chairman der Carnegie Steel ersetzt. Das Unternehmen Carnegie und Frick fusionierte daraufhin mit J. Pierpont Morgans Federal Steel Co. und acht weiteren Konkurrenten zur US Steel Corporation. Aufgrund vertraglicher Klauseln musste Frick seine eigene Beteiligung für 15 Millionen Dollar veräußern. Das machte ihn zwar noch reicher, doch hegte er seitdem einen abgrundtiefen Groll auf Carnegie. Als dieser in seinen letzten Lebensmonaten um ein Aussöhnungstreffen nachsuchte, lehnte er dieses mit den Worten ab: „I will see him in hell, where we are both going“. (Ich werde ihn in der Hölle treffen, wohin wir beide gehen werden.)

Der zwiespältige Kunsttempel

1905 verlagerte der Magnat seine geschäftlichen Aktivitäten nach New York und mietete die Villa von William H. Vanderbilt an der Fifth Avenue. Doch schon bald fasste er den Entschluss sich in derselben Gegend ein eigenes Haus zu errichten. Zu diesem Zweck kaufte er an der Ecke 70th Street / 5th Avenue das Grundstück der Lenox Library, die mit anderen Bibliotheken zur neuen New York Public Library vereinigt werden und in ein neues Gebäude am Bryant Park umziehen sollte. Bis es so weit war, vergingen allerdings noch einige Jahre, aber 1912 konnte er endlich das (übrigens: architektonisch wertvolle) Bibliotheksgebäude abreißen lassen und mit dem Neubau seines Palais beginnen. Auf einem Europabesuch hatte er die Kunstsammlung von Richard Wallace in dessen Wohnhaus in London gesehen und sehr bewundert. Er beschloss seine eigenen hochkarätigen Kunstwerke (im Laufe seines Lebens genauso zusammengerafft wie die Industriebeteiligungen) auf ähnliche Weise in seinem Neubau am Central Park auszustellen. Im Gegensatz zu Wallace, der seine Schätze als Wallace Collection der Öffentlichkeit zugänglich machte, diente Fricks elitäre Präsentation europäischer Meisterwerke von der Renaissance bis zum Impressionismus einzig und allein ihm selbst. Erst 1919, auf dem Sterbebett, verfügte er die Umwandlung seines Hauses in ein Museum, was aber von seiner Frau hintertrieben wurde, weil sie weiterhin dort wohnen wollte.

So konnte Fricks letzter Wille erst nach ihrem Tod 1931 umgesetzt werden und man fügte dem Palais zwei Ausstellungsräume, einen Konzert- und Vortragssaal sowie ein Atrium hinzu. Außer dem Gebäude hatte der Erblasser noch 15 Mio $ für Ankäufe weiterer Kunstwerke gestiftet, wovon im Laufe der Jahre weitere 75 hochkarätige Bilder angeschafft wurden. Die bedeutenden Kunstwerke und das noble Ambiente machen die Frick Collection zu einer Sehenswürdigkeit ersten Ranges in New York, wäre da nicht der Geist ihres Stifters, der sich neben vielem Anderen in den heute gültigen Benutzungsregeln für das Museum manifestiert: Kinder unter 10 Jahren haben keinen Zutritt (was meine fast zehnjährige, aber sehr kunstinteressierte Enkelin heftig beklagte), Fricks Gemälde dürfen das Haus nicht verlassen und Eintrittspreise von 22 $ halten Minderbemittelte fern. (Das so genannte freiwillige Eintrittsgeld, bei dem man den Preis selbst bestimmen kann, gilt sonntags nur von 11 – 13 Uhr). Neben den neu errichteten Sälen dienen die ehemaligen Repräsentationsräume der Familie Frick im Erdgeschoss als Ausstellungsfläche. Sie sind mit unschönen, schweren britischen Möbeln ausgestattet, die aber niedrig gehalten sind um ausreichend Platz für die Bilder an den Wänden zu bieten. Inmitten von Gemälden von Holbein, Tizian und El Greco hängt ein Gemälde von Frick und seiner Frau, das ihn als würdigen, älteren Herrn zeigt, dem man die Schandtaten seines Lebens gar nicht zutrauen mag. Man muss schon auf die Fotografien aus seinen jungen Jahren zurückgreifen um den Zusammenhang von Physiognomie und Charakter nachzuvollziehen.

Für eine Privatsammlung beherbergt die Frick Collection Erstaunliches, neben den genannten Großmeistern allein drei Bilder von Vermeer, dazu weitere niederländische Meister wie Frans Hals, Rembrandt, Rubens und van Dyck. Bei den Spaniern kommen zu El Greco noch Goya und Velazquez hinzu. Alle bedeutenden Engländer sind hier ausgestellt, von Gainsborough, Reynolds, Raeburn bis Constable und Turner. Die französische Rokokomalerei, für die Frick ein besonderes faible hatte, ist durch Boucher und Fragonard (letzterer durch eine Gruppe bemalter Holzpaneele aus einem französischen Schloss) sowie Antoine Watteau und Claude Lorrain hervorragend vertreten. Aber auch die französischen Impressionisten dürfen nicht fehlen, die es in New York ja auch noch im MoMA und im Metropolitan Museum of Art in überbordender Fülle gibt. Grundstock der Frickschen Sammlung waren Bilder aus der italienischen Renaissance von der Bellini-Familie, Bronzino, Cimabue, Duccio, Fra Filippo Lippi, Tizian und Paolo Veronese aber auch späterer Künstler wie Tiepolo und Guardi. Französische Möbel des 18. Jahrhunderts, Emaillearbeiten aus Limoges und die Sammlung Meißener Porzellans (zusammengetragen von Henry H. Arnhold, einem aus Deutschland vertriebenen Dresdner Bankier), sowie diverse Skulpturen ergänzen die Frick Collection, die Vorbild für viele Stiftungen reicher Bürger in den Vereinigten Staaten wurde, wie beispielsweise das Kimbell Art Museum im texanischen Fort Worth oder die Kunststiftung von Andrew Mellon, Fricks Förderer, der seine Kunstsammlung in eine Stiftung einbrachte und den Bau der National Gallery in Washington, D.C. finanzierte. Frick selbst wurde aber seinen schlechten Ruf auch posthum nicht los (außer in der biografischen Präsentation seines eigenen Hauses): Noch 2009 stufte ihn das Internet-Magazin Portfolio als Nummer 11 unter den 20 schlechtesten Unternehmern aller Zeiten ein.

26 Museen der Moderne

Verspätete Moderne

Zeitgenössische amerikanische Kunst entwickelte sich in New York erst relativ spät – in den Jahren 1911 bis 1913. Nach britischem Vorbild hatte man 1802 die New York Academy of the Fine Arts gegründet, eine Institution, die den klassischen Kunststil befördern sollte. Ihr Direktor John Trumbull, der Maler der amerikanischen Unabhängigkeit, lehrte dermaßen autoritär, dass ihm die Studenten scharenweise an die neue, 1825 gegründete, National Academy of Design wegliefen. Schon 1841 war die Geschichte der ersten amerikanischen Kunstakademie wieder beendet, doch auch ihrer Nachfolgerin gelang der Aufbruch in die Moderne nicht. Um die Jahrhundertwende galt sie ebenfalls als dermaßen reaktionär, dass eine Gruppe fortschrittlicher Künstler eine eigene Kunstausstellung veranstaltete um den so einengenden Zulassungskriterien der Akademieausstellung zu entgehen. Die vierwöchige International Exhibition of Modern Art 1913 war die erste ihrer Art in den USA und gilt als der Beginn der Moderne im Lande. Sie wurde auch bekannt als Armory Show, da man sie im 69th Regiment Armory in der Lexington Avenue veranstaltete. Armories waren durch Armee und Polizei genutzte militärische Zweckbauten, die als Magazine, Arsenale und Exerzierhallen dienten und die mit ihrem Trutzburg-haften Aussehen im Stadtbild von New York bis heute präsent sind.

Die noch stark europäisch geprägte Ausstellung (fast ein Drittel der ausstellenden Künstler waren Franzosen) erregte einen großen Eklat, trotz vieler Werke des mittlerweile als etabliert geltenden Impressionismus, die hier ebenfalls gezeigt wurden. (Auch Monets namengebendes und stilprägendes Werk „Impression, Soleil levant“ war vertreten). Wie bei moderner Kunst nicht anders zu erwarten, reagierte die bürgerliche Öffentlichkeit „schockiert“, man beklagte, dass Monet seine Bilder nicht „fertig“ male, dass man nicht erkennen könne, was auf abstrakten Gemälden eigentlich dargestellt sei und dass eine Brancusi-Statue 6 (!) Zehen aufwies. Marcel Duchamps „Nu descendant un escalier n° 2“ (heute in Philadelphia) provozierte sogar Präsident Theodore Roosevelt zu der peinlichen Äußerung, ein in seinem Badezimmer aufgehängter Navajo-Bildteppich sei dekorativer und kunstvoller als das kubistische Duchamp-Gemälde. Die Ausstellung zog anschließend noch nach Chicago (wo sie spektakuläres Aufsehen erregte) und nach Boston weiter, bevor sie endgültig eingestellt wurde. Als Retrospektive am historischen Ort erstand die Armory Show 1999 aufs Neue, als New Yorks größte, diesmal allerdings rein kommerzielle Kunstmesse. (Sie musste schon 2001 auf die Piers 88 und 90 und später auf die Piers 92 und 94 am Hudson River umziehen, wobei es mich freut zu dieser Veranstaltung einen persönlichen Bezug zu haben: Unsere in den Semesterferien in New York jobbende Enkelin unterstützte ihren Vater beim Aufbau eines Ausstellungsstands auf der Armory Show 2020, der letzten, die auf den Piers am Hudson River stattfand). Ab 2021 zieht sie in das neu erbaute Luxus-Stadtviertel Hudson Yards auf dem ehemaligen Rangiergelände der Penn Station.

MoMA

Die historische Armory Show hatte den positiven Nebeneffekt, Mäzenen, Kunstsammlern und -händlern, Künstlern und Museumsdirektoren die Augen zu öffnen, dass moderne Kunst in New York ein Schattendasein fristete. Drei einflussreiche Frauen, Lillie P. Bliss, Mary Quinn Sullivan und Abby Aldrich Rockefeller betrieben in den folgenden Jahren die Gründung eines Museums für ausschließlich moderne Kunst. Als Gründungsdirektor wurde Alfred H. Barr (*1902 †1981) auserkoren, ein amerikanischer Kunsthistoriker, der nach dem Studium in Princeton und anschließender Lehrtätigkeit am Wellesley College (MA) nach Europa gegangen war um die Kunstszene und das Museumswesen in England, den Niederlanden und Deutschland zu studieren. In Deutschland lernte er das Bauhaus schätzen und traf in Berlin Ludwig Justi, der mit der Neuen Abteilung im Kronprinzenpalais die bisher umfassendste Sammlung expressionistischer Kunst aufgebaut hatte. All das in Europa Gesehene verband Barr in seinem Konzept für das Museum of Modern Art (MoMA), das in Manhattan 1929 ein modernes Gebäude bezog und seine Sammlung beständig ausbaute. 1939 zog das Museum an seinen heutigen Standort in der 53rd Street, wo Edward Durell Stone und Philip Goodwin im minimalistischen Stil den ersten modernen Museumsbau New Yorks schufen. Nach Plänen des Architekten Philip Johnson erfolgte eine Erweiterung des Gebäudes in den 1950er und 1960er Jahren. Bei der Renovierung von 1984 verdoppelte César Pelli die Grundfläche des Museums und zwischen 2002 und 2004 gab es einen erneuten Umbau mit Erweiterung unter Leitung des japanischen Architekten Taniguchi für 860 Millionen Dollar. Aktuell ist das Museum nach der Renovierung von 2019 mit neuem Konzept gerade wiedereröffnet worden.

Alfred Barr wurde 1943, nach 14jähriger Tätigkeit als Museumsdirektor vom Vorsitzenden des Stiftungsrats kaltgestellt, angeblich, weil dieser nicht ertragen konnte, dass jemand mehr Kunstverstand besaß, als er selbst. Barr blieb dem MoMA aber dennoch bis 1967 als wissenschaftlicher Berater erhalten. Sein Verdienst ist die wissenschaftliche Systematik, mit der die Kunstwerke angekauft und ausgestellt wurden und deren Grundzüge ihm in den 20er Jahren die Berliner Nationalgalerie vermittelt hatte. Deshalb waren das MoMA und die Nationalgalerie stets freundschaftlich verbunden, was der Grund für die exorbitante große MoMA-Ausstellung war, die aufgrund des Umbaus in New York 2004 in Berlin stattfand und 1,2 Millionen Besucher anzog.

Für mich ist der Besuch im MoMA schon deshalb jedes Mal eine Freude, weil ich bei der An- und Abfahrt Midtown Manhattan durchstreifen und das Wiedersehen mit den mir lieben Orten Times Square, Rockefeller Center, Radio City Music Hall, Carnegie Hall und Central Park genießen kann. Seit der letzten Renovierung von 2019, die dem Museum 4000 m2 zusätzliche Ausstellungsfläche einbrachten, nimmt es nun den gesamten Block zwischen 5th und 6th Avenue sowie 53rd und 54th Street ein. Um die Teilhabe an moderner Kunst trotz des stolzen Eintrittspreises von 25 $ für alle Bevölkerungsschichten zu ermöglichen, gibt es freien Eintritt für Schüler unter 16 und den von UNIQLO gesponsorten Free Friday, diesen allerdings nur von 17:30 bis 21:00 Uhr. Die weltberühmten, ikonenhaften Bilder des MoMA befinden sich nun in veränderter Hängung in den neu gestalteten Räumen, wobei man das kunsthistorische Konzept von Alfred Barr leider großenteils aufgegeben hat. Werke unterschiedlichster Art und Epochen hängen jetzt nebeneinander, ein nicht immer nachvollziehbares Konstrukt, das ich schon im Brooklyn Museum beklagt habe. Man ist aber nach wie vor erschlagen von der unglaublichen Fülle französischer Moderne, die zusammen mit den Impressionisten des Metropolitan Museums nur von den Sammlungen in Paris erreicht wird. (Nicht umsonst war der Titel der großen Impressionismus-Ausstellung des Met in der Berliner Nationalgalerie „Die schönsten Franzosen kommen aus New York“). Für mich ist jedesmal überwältigend, dass sich allein vierzehn Gemälde, die zum Kunstgedächtnis der gesamten Welt gehören, in diesem Museum befinden:

Claude Monet: Triptychon der Wasserlilien, Paul Cézanne: Der Badende,

Pablo Picasso: Les Demoiselles d’Avignon, Henri Matisse: Der Tanz, Georges Bracque: Mann mit Gitarre,

Henri Rousseau: Schlafende Zigeunerin, Der Traum, Vincent van Gogh: Sternennacht, Olivenbäume in den Alpilles, Paul Gauguin: Tehura, die Geliebte des Künstlers,

Salvador Dalí: Schmelzende Uhren, Frida Kahlo: Selbstportrait,

Edward Hopper: Tankstelle, Andy Warhol: Campbell’s Soup Cans.

Daneben gibt es Werke der einflussreichsten europäischen and amerikanischen Künstler wie Francis Bacon, Marc Chagall, Giorgio De Chirico, Marcel Duchamp, Max Ernst, Alberto Giacometti, Paul Klee, Willem de Kooning, Fernand Léger, René Magritte, Aristide Maillol, Kazimir Malevich, Joan Miró, Piet Mondrian, Henry Moore, Auguste Rodin sowie Edward Hopper, Roy Lichtenstein, Jackson Pollock, Robert Rauschenberg, Mark Rothko, Frank Stella und vieler anderer.

Ein halbes Jahr lang (2012/2013) wurde eine Version des Hauptwerks von Edvard Munch: Der Schrei im MoMA ausgestellt. Das mit 119 Mio $ damals (2012) teuerste je versteigerte Kunstwerk ist danach leider wieder im Tresor irgendeines Superreichen verschwunden. Der mit Kiesboden und Fontänen ausgestattete Skulpturengarten im Inneren des MoMA-Komplexes befindet sich an der Stelle des früheren Stadthauses von Abby Aldrich Rockefeller, einer der drei Museumsgründerinnen. Hier stehen: Ein Jugendstileingang zur Pariser Métro von Hector Guimard, Renée Sintenis‘ Daphne von 1930, die vier Rückenakte von Matisse und weitere Skulpturen, u.a. von Maillol und Barnett Newman. Vom Restaurant The Modern, das auch von der 53rd Street aus zugänglich ist, hat man einen sehr schönen Blick darauf. Überraschender Weise war das Essen, das man hier servierte, erschwinglich und wohlschmeckend. Erst als ich im Überschwang des Glücks ein Glas Wein dazu bestellen wollte, wurde mir klar, warum alle Gäste nur Wasser tranken: Für ein 1 cl Glaserl wollten sie 20 $ haben.

Ikone der Moderne: Guggenheim Museum

Das bedeutendste moderne Exponat des Guggenheim-Museums ist das Museumsge-bäude selbst. Der Künstler-Architekt Frank Lloyd Wright entwarf das spiralförmige Bauwerk für die 1937 gestiftete Solomon R. Guggenheim Foundation – seit seiner Fertigstellung 1959 ist es eine Ikone der modernen Baukunst und steht auf der Warteliste für das New Yorker UNESCO Welterbe.

Solomon R. Guggenheim (*1861, † 1949) stammte aus einer in die USA emigrierten jüdischen Familie aus der Schweiz. Sein Vater Meyer Guggenheim hatte 1881 die Schürfrechte an einer Mine in Colorado mit großen Blei- und Silbervorkommen übernommen und damit beträchtlichen Gewinn gemacht. Zusammen mit seinen Söhnen baute er das Unternehmen beständig aus, zeitweise beherrschten die Guggenheims 80 % der weltweiten Produktion von Kupfer, Silber und Blei. Fast alle der acht Söhne Meyers engagierten sich für philanthropische Ziele, Solomon R. Guggenheim für die Förderung moderner Kunst.

Die deutsche Malerin Hilla von Rebay vermittelte ihm das Interesse an abstrakter Kunst und in den 30er Jahren begann er Werke von modernen, europäischen Künstlern zu sammeln, darunter Wassily Kandinsky. Nach Gründung der oben erwähnten Stiftung ging es ihm um die Errichtung eines Museums für „Non-Objective Art“. 1943 begann Hilla von Rebay zusammen mit dem von ihr ausgewählten Frank Lloyd Wright die Planung des heutigen Guggenheim-Museums mit der Adresse 1071 Fifth Avenue, gegenüber dem Central Park. Sie hatte maßgeblichen Einfluss auf den Entwurf, angeblich geht die berühmte Schneckenform auf sie zurück und außerdem bestand sie darauf, das Museum weiß zu streichen und nicht rot, wie vom Architekten gewünscht. Nach Guggenheims Tod 1949 verlor Hilla von Rebay sowohl den Rückhalt in dessen Familie als auch bei der Stiftung und musste 1952 ihre Leitungsfunktion aufgeben. Als das Museum 1959 endlich eröffnet wurde, war sie nicht dabei und betrat es auch bis zu ihrem Tode niemals.

Insbesondere Peggy Guggenheim, die Tochter von Solomons Bruder Benjamin, die selbst kunsthistorische Ambitionen hegte, hatte gegen sie intrigiert. Peggys Vater, einer der reichsten Amerikaner, war ein prominentes Opfer beim Untergang der Titanic und legendär sind seine letzten Worte, nachdem er seine Frau auf dem Rettungsboot in Sicherheit gebracht hatte: „Wir sind angemessen gekleidet und bereit, wie Gentlemen unterzugehen“. Peggy erbte von seinem Reichtum nur die verhältnismäßig geringe Summe von 450 000 $ (sie bezeichnete sich stets als „die arme Guggenheim“) die sie zum Aufbau einer eigenen Sammlung moderner Kunst verwandte. Begünstigt durch die Umstände von Krieg, Verfolgung und Vertreibung, von denen sie auch selbst betroffen war, kam für wenig Geld eine bedeutende Kollektion zusammen, die sie in ihrem Wohnsitz in Venedig, einem barocken Palastfragment am Canal Grande, unterbrachte. In ihrer Abwesenheit durfte diese besichtigt werden und nach ihrem Tode – unter der Bedingung, dass der Standort Venedig erhalten blieb – vererbte sie sie an die Solomon R. Guggenheim Foundation. Als Peggy Guggenheim Collection bildet sie nun, zusammen mit dem Guggenheim-Museum Bilbao die Trias der Guggenheim-Museen.

Die Kunstwerke der Foundation rotieren zwischen den drei Museen und man kann nie wissen, welche man zu sehen bekommt, wenn man ein Guggenheim-Museum besucht. Einzig den Museumsbau von Frank Lloyd Wright (genau wie den von Frank O. Gehry in Bilbao) kann einem keiner wegnehmen. Wir hatten einmal Pech und einmal Glück: Während wir von Richard Chamberlains gepressten Autowracks nicht so überzeugt waren, genossen wir ein andermal wunderbare expressionistische Kunstwerke aus den 20er und 30er Jahren. Während wir die spiralförmige Ausstellungsfläche abwärts wanderten, ergötzten wir uns nicht nur an den Exponaten sondern auch an einer Gruppe von Drittklässlern, die dank des Geschicks ihrer Kunstlehrer durchaus Freude an moderner Kunst empfanden.

Poker um Kunstwerke: Die Neue Galerie

Die deutsche Moderne, ihre Diffamierung im Nationalsozialismus als „Entartete Kunst“ und die Entrechtung der deutschen Juden zur selben Zeit kristallisieren sich in der Geschichte der Neuen Galerie, einem Privatmuseum für deutsche und österreichische Kunst, das sich wie das Metropolitan Museum, die Frick Collection und das Guggenheim in der 5th Avenue am Central Park, auf der „museum mile“, befindet. Es hat eine absolut New York-typische Geschichte, weshalb sich der Blick auf ein weiteres der Museen für moderne Kunst lohnt. Siegfried Sabarsky, einer seiner beiden Gründer, wurde 1912 als Sohn russisch-jüdischer Emigranten in Wien geboren. Vielseitig talentiert, betätigte er sich als Zeichner, Bühnenbildner und sogar als Clown beim Zirkus. Nach dem „Anschluss“ Österreichs floh er 1938 nach Frankreich und emigrierte nach Kriegsbeginn in die USA, für die er auch in den Zweiten Weltkrieg zog und seinen Vornamen in Serge änderte. Gegen seine alte Heimat hegte er jedoch keinen Groll (nur gegen den NS) und bewahrte sich eine lebenslange Vorliebe für die Kunst des deutschen und österreichischen Expressionismus, repräsentierten dessen Schöpfer doch das „andere Deutschland“.

Auf seinem weiteren Lebensweg nach dem Krieg wurde der „American Dream“ für ihn Wirklichkeit: Über die Innenarchitektur kam er in die Baubranche und gründete ein Unternehmen, das ihn rasch zu Wohlstand brachte. Er begann in den 50er Jahren die von ihm bewunderte Kunst zu kaufen – zu dieser Zeit noch preisgünstig zu haben – und trug Werke von Gustav Klimt, Egon Schiele, Oskar Kokoschka und Alfred Kubin sowie von Otto Dix, George Grosz, Erich Heckel, Max Beckmann, Ernst Kirchner, Mies van der Rohe und Marianne Brandt zusammen. 1968 beendete er seine Unternehmertätigkeit und gründete in der Madison Avenue eine Galerie, die seinen Namen trug und sich auf die Kunst des Expressionismus spezialisierte. Hier kam er in Kontakt mit Ronald S. Lauder, dem Kosmetik-Erben und mehrfachen Milliardär, der sich ebenfalls für diese Kunstrichtung interessierte und ausgewählte Exemplare bei ihm erwarb. Gemeinsam entwickelten sie Pläne für ein Museum für deutsche und österreichische Kunst von 1880 bis 1945. Dafür gab Sabarsky seine Galerie auf und organisierte stattdessen Kunstausstellungen – ganz gewiss um den Bekanntheitsgrad des Expressionismus zu steigern. Als 1994 an der 5th Avenue 1048 ein Beaux-Arts-Gebäude – das Wohnhaus eines Industriellen und später einer Vanderbilt-Erbin – zum Verkauf stand, wurde es mit vielen Lauder-Millionen als zukünftiger Museumsstandort erworben. Jedoch starb Serge Sabarsky bereits zwei Jahre später und Ronald Lauder führte das Museumsprojekt allein weiter. Grundstock der geplanten Ausstellung war Sabarskys Sammlung – mit einigen Bildern von Lauder – aber es fehlten ikonische, spektakuläre Exponate. Vor der Eröffnung wollte Ronald S. Lauder dem noch abhelfen, wohl wissend, dass Ende des Jahrhunderts ganz andere Preise galten als in den 50er Jahren, weil die Namen der Expressionisten mittlerweile Gewicht hatten und ihre Werke auch kaum noch auf dem Markt auftauchten.

Durch die Unterzeichnung der Washingtoner Erklärung war allerdings wieder Bewegung in den Kunstmarkt gekommen. 1998 hatten sich 44 Staaten verpflichtet Raubkunst zurückzugeben, die während des Nationalsozialismus jüdischen Eigentümern entzogen worden war. In beträchtlichem Maße betraf das Werke, die von den Nazis als „Entartete Kunst“ gebrandmarkt, von kollaborierenden Kunsthändlern im Ausland verhökert, bzw. unter dem Druck der Verfolgung von den jüdischen Besitzern selbst zu Billigpreisen abgegeben wurden. Durch vielfachen Weiterverkauf hatte sich die Spur dieser Kunstwerke oftmals in anonymen Privatsammlungen verloren, aber vieles wurde auch offen in staatlichen Museen präsentiert. Von Zeit zu Zeit tauchte das eine oder andere unbekannte Stück auf Auktionen auf, wodurch die Provenienzforschung einen unerwarteten Auftrieb erfuhr. Rechtsanwälte spezialisierten sich auf die Rückforderung von Raubkunst an die ursprünglichen Eigner oder ihre Erben, oftmals gegen einen gewissen Prozentsatz vom Wert der Objekte als Salär. Dazu leisteten sie akribische Detektivarbeit über Herkunft und weiteren Weg der Kunstwerke und erstellten ausführliche Gutachten zum rechtmäßigen Besitzer. Der Erfolg ihrer Bemühungen führte in der Regel zur sofortigen Versteigerung der zurück- gegebenen Bilder um die angelaufenen Kosten für die Provenienzforschung und die Anwaltshonorare zu begleichen. Dem Vorteil der wieder hergestellten rechtmäßigen Besitzverhältnisse stand dabei oft der Nachteil entgegen, dass vormals der Allgemeinheit in Museen zugängliche Kunstwerke jetzt im Privatbesitz nicht einmal der rechtmäßigen Eigner sondern potenter Erwerber landeten.

2001, eine Woche nach dem Anschlag von 9/11, eröffnete Lauder sein Museum unter dem deutschen Namen „Neue Galerie“. Der Name des „Mitbegründers“ kommt nur noch im Café Sabarsky vor, einem dem Wiener Kaffeehaus nachempfundenen Etablissement im Innern des Museums mit österreichischer Speisekarte, ebensolchem Koch und großem Andrang in der Platzierungsschlange. Nicht zuletzt durch dieses Café hat sich die „Neue Galerie“ in der New Yorker Kulturszene ein gewisses Renommee erworben, der Deutsche Expressionismus ist dagegen noch nicht im Kunstverständnis der Amerikaner angekommen. Es bedurfte schon einer spektakulären Aktion des Milliardärs, sein Haus in aller Munde zu bringen. Die ungelöste Problematik der NS-Raubkunst hatte er schon 1986/87 als Botschafter in Wien mitbekommen und zehn Jahre später bei der Gründung der Commission for Art Recovery, die die Washingtoner Erklärung vorantrieb. Ein besonders Aufsehen erregender Fall war die Klage der in die USA emigrierten Maria Altmann gegen den österreichischen Staat auf Herausgabe der berühmten Klimt-Gemälde aus dem Besitz der jüdischen Familie Bloch-Bauer, die im Museum Belvedere hingen. Während Wien argumentierte, dass die auf zwei der Gemälde dargestellte Adele Bloch-Bauer die Bilder dem Belvedere schon 1925 testamentarisch überlassen habe, setzten sich die Anwälte mit der Auffassung durch, dass Adele gar nicht die Eigentümerin gewesen sei sondern ihr Mann. 2006 stimmte Österreich der Rückgabe zu, die Kunstwerke kamen nach New York und wurden umgehend bei Christie‘s versteigert. Doch noch davor schlug Ronald Lauder zu und erwarb in einem Privatkauf die „Goldene Adele“, das bekannteste und vielleicht auch bedeutendste Werk von Gustav Klimt. Offiziell wurde der Kaufpreis nicht bekannt gegeben, weil es sich um eine rein private Transaktion gehandelt hatte, dennoch sickerte ein Betrag von 135 Mio $ durch, was zu dieser Zeit der höchste jemals für ein Kunstwerk bezahlte Preis gewesen wäre.

Für mich ist der Besuch der Neuen Galerie ein must do, nicht nur wegen der Dame in Gold sondern weil Lauder der Coup, ein Bild aus einem Museum herauszuklagen im selben Jahr noch einmal gelang. Das Brücke-Museum in Berlin verlor sein bestes Bild, die 1980 erworbene „Straßenszene“ von Ernst Kirchner, weil der Senat die Auffassung akzeptierte, dass der Verkauf 1936 unter Zwang stattfand, obwohl er eher unter dem Einfluss der Weltwirtschaftskrise erfolgte und der Kaufpreis sich im damals für Kirchner-Gemälde üblichen Rahmen hielt. Auch hatte Berlin später eine Ausgleichssumme gezahlt, die dem Wert des Kunstwerks zum Zeitpunkt des Erwerbs durch das Brücke-Museum entsprach. Nach Rückerstattung von Kaufpreis und Wertausgleich wurde das Bild zum größten Ärger der Brücke-Fördervereins „zurückgegeben“ und unmittelbar darauf bei „Christie‘s“ versteigert. Lauder erwarb es für 38 Mio $ für die „Neue Galerie“. Im Jahr darauf wurde er Präsident des World Jewish Congress und ist auch der Motor der dem WJC verbundenen Commission for Art Recovery, die geraubtem jüdischem Kunstgut nachspürt.

Das Treppenhaus in der Neuen Galerie mit Lampen von Adolf Loos zeugt vom Lebensstandard der Bourgeoisie vor dem Ersten Weltkrieg und ist absolut beeindruckend. Allerdings muss ich erst einmal die visitor regulations verkraften, die uns am Eingang erwarten, wie hohe Eintrittspreise von 25 $, Studenten und Behinderte 12$, freier Eintritt nur einmal im Monat für magere drei Stunden, Verbot für Kinder unter 12 Jahren (in den Shop und ins Café dürfen sie aber!) und ausgesprochen unfreundliches Personal. Das von außen so stattliche Gebäude ist innen gar nicht groß, so dass man den (allerdings trügerischen) Eindruck bekommt, es gäbe nicht viel zu sehen. Im ersten Stock, wo die Österreicher gezeigt werden, ist man natürlich geblendet von der jugendstiligen Dame in Gold und den expressionistischen, gar nicht schönen Bildern von Schiele. Erst im zweiten Geschoss, wo die deutschen Expressionisten ausgestellt werden, fällt mir vor Kirchners „Straßenszene“ auf, dass nirgendwo steht, woher die Schätze stammen und wann Lauder sie erworben hat, nicht einmal im Katalog der Ausstellung.

27 The Bronx

Von Bronck‘s Land zum Melting Pot

New Yorks nördlichster Borough, The Bronx, ist der einzige Teil der Stadt, der vollständig auf amerikanischem Festland liegt. Umgeben vom Hudson im Westen, East River im Osten und Harlem River im Süden, grenzt er nördlich an den Bundesstaat New York, in dem er als Bronx County firmiert. Von der Einwohnerschaft (ca. 1,4 Mio) und der Fläche her (ca. 110 km2) liegt er an vierter Stelle der New Yorker Stadtteile.

Der Name geht auf Jonas Bronck (ca. 1600 – 1648) zurück, einen über Holland eingewanderten Schweden, der als einer der Pioniere von Nieuw Nederland eine Farm nördlich von Nieuw Amsterdam betrieb. Als die Engländer die Kolonie von den Niederländern übernommen hatten, bürgerte sich die geographische Bezeichnung „Bronck‘s Land“ für das Land jenseits von Manhattan ein, aus dem im Laufe der Jahre „The Bronx“ wurde. Lange Zeit landwirtschaftlich genutzt, wurde es Mitte des 18. Jh. von der expandierenden Stadt eingeholt und von Deutschen, Iren, Italienern und osteuropäischen Juden besiedelt, 1878 wurde es als vierter Borough nach NYC eingemeindet. Anfangs war die Bronx ein Wohngebiet für alle Bevölkerungsschichten mit 25% Grünflächen (zu denen allerdings auch Friedhöfe gezählt werden) und einer Prachtstraße (Grand Concourse) nach dem Vorbild der Champs Elysées mit vielen Gebäuden (wie dem Bronx County Court House) im Stil des Art Deco. Dazu kamen New Yorks größter Zoo und Botanischer Garten und das Yankee Stadium für New Yorks Baseball Team. Bis in die 30er Jahre blieb die Bronx ein beliebtes Wohnviertel, zumal sie von der überhitzten Baukonjunktur Manhattans verschont blieb.

Doch änderten sich diese Verhältnisse durch die Great Migration, die sich beständig von 1910 bis in die 70er Jahre hinzog. Millionen Afroamerikaner verließen die Südstaaten der USA und zogen in den industrialisierten Norden, viele von ihnen ließen sich auch in der Bronx nieder und dominierten bald den Bezirk. Daraufhin zogen große Teile der weißen Bevölkerung weg, was sinkende Kaufkraft, Vernachlässigung der Bausubstanz und den allgemeinen Niedergang des Viertels bewirkte. Dieser Prozess verstärkte sich in den 30er Jahren durch den Börsenkrach und die Great Depression. Der Mittelstand schrumpfte weiter und immer mehr Unterprivilegierte rückten nach. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kamen massenhaft Einwanderer aus Puerto Rico und Lateinamerika, die in abgeschiedenen Barrios lebend, an ihrer Sprache und Kultur festhielten. Heute stellen die Hispanics mit einem Anteil von 52 Prozent die Bevölkerungsmehrheit in der Bronx. (Davon sind 23 % Puerto-Ricaner als insgesamt größte Herkunftsgruppe, 16 % Dominikaner und 5 Prozent Mexikaner). 42% der Einwohner sind nicht in den USA geboren. Afroamerikaner, Einwanderer aus der Karibik und aus Afrika bilden mit 31 Prozent die zweitgrößte Gruppe, der jetzt nur noch 12% (nicht hispanische) Weiße folgen.

Brennende Bronx

Zwischen den 1950er und 70er Jahren hatte die Stadtverwaltung im Zuge der „Slum Clearings“ in Manhattan viele mittellose Puerto-Ricaner und Afroamerikaner zwangsweise in die Bronx umgesiedelt. Der dadurch beschleunigte Niedergang des Viertels führte in der 80ern zu den Verhältnissen, die als „brennende Bronx“ Eingang in Nachrichten, Literatur und viele Spielfilme fanden und sich gleichsam ins kollektive Gedächtnis einbrannten. Hausbesitzer mit sinkenden Einnahmen ließen ihre Häuser verwahrlosen, Mieter zahlten keine Mieten mehr, die Gegend verkam durch die Gleichgültigkeit der Bewohner. Irgendwann brannten die Häuser, teilweise angezündet von den Eigentümern um die Versicherungssumme zu kassieren, teils von den Mietern, die auf eine neue Sozialwohnung spekulierten. Gewalt, Drogen und Chaos grassierten insbesondere in der South Bronx, die zur absoluten No-Go-Area herunterkam. Man stieg nur noch bewaffnet in die Subway, was sicherlich ebenfalls zum unglaublichen Anstieg der Mordrate beitrug. Als meine Frau 1992 zu einem Treffen mit Wissenschaftlerinnen der Einstein University mit der Subway in die Bronx anreiste, schüttelten viele Bekannte in Manhattan ob solch „riskanten“ Verhaltens nur den Kopf.

Mit einem „Zero Tolerance“ Programm versuchte der republikanische Bürgermeister Giuliani zusammen mit seinem Polizeichef Bratton ab 1995 dem Übel beizukommen. Tragende Säulen des Konzepts waren folgende Maßnahmenpakete:

  • Personelle Aufstockung der Polizei, Erhöhung von deren sichtbarer Präsenz.
  • Rigorose Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten wie Straßenhandel, Hütchenspielen, Umherfahren mit Ghettoblastern, Schwarzfahren, Betteln und Schulschwänzen.
    Kontrolle auffälliger Personen, Einziehung der Gewinne und der Fahrzeuge von Kleindealern, Erteilung von Hausverboten, schnelle Inhaftierung auch bei Kleindelikten.
  • Sofortige Beseitigung von Graffiti an Häusern und auf öffentlichen Verkehrsmitteln, Aufräumen und Reinigung verwahrloster und verschmutzter Örtlichkeiten. Heranziehung für die Reinigungsarbeiten von Personen, die zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt worden waren (sie sollten dabei Westen mit dem Namen des Gerichts tragen, das sie verurteilt hatte).
  • Einführung eines computergestützten Informationssystems der Polizei.
  • Bessere Zusammenarbeit mit Bürgern und Organisation von Bürgerwachen für informelle Kontrollaufgaben.

Wundersamer Weise griff dieses Konzept: Die Bronx brennt nicht mehr und Parks und Subway sind mittlerweile sicher. Armut, mangelnde Bildung, Rassismus und hohe Arbeitslosigkeit in den unteren Schichten existieren jedoch nach wie vor! Und die Kriminalitätsrate sank auch in Städten, die keine „Zero Tolerance“ betrieben.

Polizeichef Bratton hatte damals seine ganz eigene Theorie: „Ich glaube wir lagen 25 Jahre lang falsch, weil wir gedacht haben, gesellschaftliche Probleme schaffen Kriminalität. In New York war’s umgekehrt. Kriminalität schuf gesellschaftliche Probleme.“ Bratton ist aktuell wieder Polizeichef von NY und gibt sich mit den z. Zt. wirksamen Polizeistrategien gegen die Kriminalität zufrieden, ungeachtet der Tatsache, dass die sozialen Übel von kontinuierlicher Armut und Ungleichheit fortbestehen! Mit dem Projekt der Co-op City im Norden der Bronx hat man dagegen wenigstens einen Versuch unternommen, durch gezielte Stadtgestaltung und bezahlbare Wohnungen dem Problem beizukommen.

Co-op City

Verlässt man die Bronx nördlich in Richtung New Haven, passiert man ein nicht zu übersehendes Ensemble aus 35 Hochhäusern und zahllosen dreistöckigen Townhouses. Das ist Co-op City, das größte zusammenhängende genossenschaftliche Wohnungsbauprojekt der Welt. Das Co-op Prinzip habe ich im Kapitel Queens unter Jackson Heights schon beschrieben. Hier tritt es aber in modifizierter Form auf: Die vom Staat geförderte Kooperative UHF (United Housing Foundation, eine gemeinnützige Stiftung) nimmt nur Mitglieder innerhalb bestimmter Einkommensgrenzen auf. Der Beitrittsbetrag ist nach Wohnungsgröße gestaffelt und liegt in einem auch für weniger Verdienende erschwinglichen Rahmen, genauso wie die Miete bzw. das Wohngeld, woraus die laufenden Kosten für die Wohnanlage bestritten werden. Die Wohnungen haben ein, zwei oder drei Schlafzimmer, was dem europäischen Standard von Zwei-, Drei- oder Vierzimmerwohnungen entspricht. Wer in Co-op City wohnen will, muss folgende Voraussetzungen erfüllen:

Der Antragsteller

  • darf weder Drogen- noch Sexualstraftaten verübt haben
  • muss kreditwürdig sein. Liegt keine Schufa-Auskunft vor, ist ein Nachweis von pünktlicher Zahlung aller Rechnungen vorzulegen.
  • darf keine Mietzuschüsse vom Sozialamt erhalten.
  • darf keinen weiteren ersten Wohnsitz haben.
  • wird während des Bewerbungsverfahrens zu Hause besucht.
  • muss seine Kinder ab fünf Jahren zur Schule schicken.

Co-op City wurde 1973 eröffnet, es besteht aus 35 Hochhäusern von 24-33 Stockwerken, dazu kommen 236 dreistöckige Townhouses in 7 Agglomerationen. In 15.372 Wohnungen leben 43.752 Einwohner. (Das entspricht 18.000 Ew. pro km2, zum Vergleich Manhattan: 27.000). Die Bevölkerungszusammensetzung beläuft sich auf 60,5% Schwarze, 27,7% Hispanics, 8,5% Weiße, 1,2% Asiaten und 2,1% Sonstige.

Geplant wurde die Siedlung auf preiswertem Boden, einer ehemaligen Deponie, auf der durch Aufschüttung (landfill) sumpfiges Marschland zu Baugrund gemacht wurde. Die Fundamente der Gebäude stehen fest auf 50.000 Pfählen, die auf gewachsenem Fels ruhen. Das Land umher senkt sich jedoch, was zu Rissen in Bürgersteigen und Gebäudeeingängen führt. Anders, als bei einer Sozialsiedlung zu erwarten, ist Co-op City großzügig mit Grünflächen ausgestattet und liegt nahe am Meer.

Als „Stadt in der Stadt“ ist sie mit allen notwendigen Einrichtungen ausgestattet, zunächst dem über zehn Hektar großen „Bildungspark“ mit der Harry S. Truman High School, die über ein Planetarium, ein Kraftwerk, einen vierstöckigen Generator für die Klimaanlage und eine Feuerwehr verfügt. Darüber hinaus gibt es zwei Middle Schools, drei Grundschulen und sechs Kinderkrippen. Ein eigenes Polizeirevier, Arzt- und Anwältspraxen, über 40 Büros, 15 Sakralbauten sowie vier Basketballplätze und fünf Baseballfelder vervollständigen die soziale Infrastruktur. Im angrenzenden Bay Plaza Shopping Center befinden sich ein Multiplex-Theater mit 13 Kinos, Läden und einem Supermarkt, ferner gibt es acht Parkhäuser und drei weitere Shoppingcenter.

Heinrich Heine in der Bronx

Für mich gibt es in der Bronx nur zwei Punkte von Interesse, zu denen ich unbedingt hin muss. Einer davon ist der Lorelei-Brunnen im Joyce-Kilmer Park, ein New-York-typischer Ort, an dem sich ein skurriles Kapitel deutsch-amerikanischer Migrationsgeschichte mit folgendem Personal auftut: Ein Berliner Bildhauer, deutsche Antisemiten, die österreichische Kaiserin Sisi und Heinrich Heine. Und der Emigrant in dieser Geschichte ist erstaunlicher Weise keine Person – sondern der Brunnen!

Ausgangspunkt des Ganzen war der Wunsch fortschrittlicher Düsseldorfer Bürger, Heinrich Heine, dem großen Sohn der Stadt, zum hundertsten Geburtstag 1897 ein Denkmal zu setzen. Da Düsseldorf zu dieser Zeit Provinzialhauptstadt der preußischen Rheinlande war, wandte man sich an den Berliner Bildhauer Ernst Herter, einen ausgewiesenen Fachmann für die Ausführung patriotischer Denkmäler und betrieb gleichzeitig Fundraising um das Denkmal zu finanzieren. Ein Glücksfall war die Gewinnung der österreichischen Kaiserin Elisabeth, besser bekannt als Sisi, die als große Heine-Verehrerin 50.000 Reichsmark zur Realisierung des Monuments zusagte. Kaum dass es in die Verwirklichungsphase eingetreten war, erhob sich deutschlandweit ein großes Gezeter antisemitischer Kreise, die das Monument als „Schandsäule“ ansahen und den „jüdischen Nestbeschmutzer“ als nicht denkmalwürdig bezeichneten.

Die Obstruktionsinstrumente der Gegner waren reichhaltig, eine Beschwerde bei Bismarck in Berlin, Diskussionen über den Standort und den künstlerischen Entwurf sowie der grundsätzliche Beschluss der Stadtverordneten über die Errichtung eines Heine-Denkmals. Der Bildhauer legte einen ersten Entwurf für eine Statue unter einem Baldachin vor, der – wie zu erwarten – erst einmal abgelehnt wurde. Darauf kam er mit dem Vorschlag einer allegorischen Loreley-Gruppe, die auf Heines berühmtestes Gedicht und seine Kunst Bezug nahm. Das als Brunnen konzipierte Denkmal gefiel nun aber der Kaiserin nicht, die ein Standbild erwartet hatte, wohingegen der Dichter hier lediglich auf einem seitlich angebrachten Medaillon vorkam – die Stadt dagegen favorisierte dieses Konzept. Nur aufstellen konnte sie die Gruppe leider nicht, weil auf dem vorgesehenen Standort inzwischen ein Kriegerdenkmal für die Helden des deutsch-französischen (!) Krieges von 1870/71 platziert worden war. Sisi war von den Querelen dermaßen bedient, dass sie ihre großzügige Finanzierungszusage zurückzog und beschloss, auf ihrem Sommerschloss Achilleon auf Korfu eine private Heine-Gedenkstätte einzurichten, für die sie – bei einem Dänen und nicht bei Herter – eine eigene Statue bestellte. Auch diesem Kunstwerk war übrigens ein merkwürdiges Geschick beschieden: Nach dem Verkauf des Achilleons aufgrund von Sisis Ermordung (und des anschließenden Erwerbs durch Kaiser Wilhelm II.) landete es auf verschlungenen Wegen in Toulon, wo die dänische Statue des deutschen Dichters im Botanischen Garten Frédéric Mistral auch heute noch steht und auf den französischen Kriegshafen (!) blickt.

Mit weiterem antisemitisch-nationalistischem Getöse war das Denkmalprojekt in Düsseldorf schließlich zu Fall gebracht worden und andere Orte begannen sich dafür zu interessieren. Ja, sogar über den großen Teich gelangte die Kunde vom Gezerre um die Ehrung des Dichters. Der deutsche Gesangsverein „Arion“ in New York nahm Kontakt mit dem Bildhauer auf (der hoch entzückt war, sein Werk doch noch aufstellen zu können) und trieb die Errichtung eines Heine-Denkmals im Central Park oder zumindest an dessen Eingang voran. Wie im Kapitel Central Park bereits angesprochen, lagen die verschiedenen Migrantengruppen ob ihrer Bedeutung in der Neuen Welt miteinander in Konkurrenz und versuchten ihre Position durch die Aufstellung von Standbildern ihrer Nationalheroen und -dichter zu untermauern, vorzugsweise im größten und schönsten Park der Stadt. Die deutsche Community hatte aber um die Jahrhundertwende bereits einen großen Teil ihres einstigen Gewichts verloren und deshalb fiel es dem NYC Council leicht, unter Berufung auf mangelnde künstlerische Qualität des Herterschen Entwurfs das Eindringen der Deutschen in den Central Park zu verhindern.

Eine mittlerweile gegründete Kunstkommission verfügte die Aufstellung des in drei unterschiedlichen Schreibweisen vorkommenden Brunnens (Loreley, Lorelei, Lorelai, – Heine schrieb Lore-Ley) in der Bronx, im Cedar Park. In Anwesenheit des emigrierten 1848er Revolutionärs und Ex-US Außenministers Carl Schurz, des Gesangsvereins Arion und des Berliner Bildhauers Herter wurde das Kunstwerk 1899 feierlich eingeweiht. Laut Herters Tagebuch war die Enthüllung „eine imposante Kundgebung des Deutschtums in Amerika, mit Fahnen, Paraden und Musikkapellen“. Aber kurz darauf begann auch schon der Niedergang: Der Christliche Abstinenzverein verdammte die allegorischen Nixen unterhalb der Loreley-Figur als „pornographisches Spektakel“, der Allegorie der Lyrik wurde der Kopf abgeschlagen, der Brunnen sprudelte nicht mehr und nur die Loreley hoch oben blieb wegen ihrer schwierigen Erreichbarkeit relativ unbeschädigt.

Durch pausenlose Umbenennungen konnte auch der Park keine eigene Identität entwickeln, zunächst hieß er Franz Sigel Park, nach einem deutschstämmigen, im Sezessionskrieg grandios erfolglosen Militär, dann wurde der nördliche Teil, in dem der Brunnen stand, zur Concourse Plaza und später, nach Umgestaltung und Verlegung der Denkmäler nach Norden, zum Joyce Kilmer Park. Dieser ist zwar prominent gelegen am Grand Concourse, zwischen Yankee Stadium und Bronx County Court House, macht aber weder als Park, noch vom Namensgeber viel her. Der Park, weil er bloß eine baumlose rechteckige Aussparung aus den umliegenden Häuserblocks ist, Joyce Kilmer, ein im Ersten Weltkrieg jung gefallener Dichter, weil er weitgehend vergessen ist. (Sein einziges überlebendes Werk, das alle Schulkinder auswendig lernen müssen, heißt bezeichnender Weise „trees“).

Die vorletzte Episode der Geschichte ist die traurigste. Der oben geschilderte Niedergang der Bronx erfasste auch dessen Zentrum und den Joyce Kilmer Park, wie der Schriftsteller Tom Wolfe in seinem Bestseller „Fegefeuer der Eitelkeiten“ beschrieb. Einer der Protagonisten des Werks arbeitet nebenan im Bronx County Court House und traut sich nicht einmal in der Mittagspause zum Essen aus dem Gebäude. Der pure Vandalismus der lokalen Jugend machte die Lorelei, wie das Denkmal (unter Weglassung des Dichternamens) mittlerweile hieß, zum verkommensten in New York. Der Marmor wurde immer wieder mit Graffiti beschmiert, den Figuren die Köpfe und Arme abgeschlagen. Ein Düsseldorfer Zahnarzt wurde als „Heine-Schrubber“ dafür bekannt, dass er das Denkmal in seinem Urlaub regelmäßig von den Schmierereien befreite. „Der weiße Marmor ist so verfallen, dass er aussieht wie ein dreckiger Schwamm“, schrieb 1997 die New York Times, „Die trockenen Wasserbecken enthalten nur noch leere Limonadenflaschen.“ Danach kam endlich etwas in Bewegung, doch erst als ein Gemeinschaftsfonds von 1,2 Mio $ zur Renovierung des Heine-Denkmals aufgelegt war, konnte das Heine-Denkmal zu Restaurierungsarbeiten nach Kanada gebracht werden. Gleichzeitig begann man mit der Neugestaltung der Südseite des Joyce-Kilmer-Parks, wo der Loreley-Brunnen seit Oktober 1999 seinen neuen Standort bekam.

Nach all diesen deprimierenden Geschichten bin ich ganz froh, den letzten Teil aus eigenem Augenschein als Erfolgsstory erzählen zu können. Auf dem Weg mit der Subway Linie 4 nach Norden bekomme ich zwar mit, dass die Anzahl der Afroamerikaner unter den Passagieren steigt, je näher ich der gewünschten Station Yankee Stadium komme, jedoch liegt in dieser Tatsache nichts Bedrohliches mehr, weil im Wagen eine entspannte, freundliche Atmosphäre herrscht. Draußen sieht es so aus, wie überall in New York (außer in Manhattan) – nicht unbedingt schön, aber auch nicht verkommen oder Angst einflößend. Dennoch frage ich nicht nach, wo sich das Heine- Denkmal befindet, weil die einzige Aussprache seines Namens, die für Amerikaner verständlich ist (Hinee), im British English für „gay“ steht. Der Joyce Kilmer Park ist sowieso nur zwei Blocks entfernt, er ist nach wie vor baumlos, so dass ich das mitgebrachte Joyce Kilmer Gedicht entfalte und schmunzelnd laut rezitiere. Im neu angelegten südlichen Parkteil schimmert schon von weitem das restaurierte, weiße Heine-Denkmal, das jetzt wieder an seinem originalen Aufstellungsort steht.

Es besteht aus einer Brunnenschale aus schneeweißem Marmor mit einem hohen Sockel in der Mitte, auf dem eine weibliche Figur in wallendem Gewand sitzt, von deren Haupt strähnige – aber nicht goldene – Locken herunterfallen, die sie mit der einen Hand festhält und mit der anderen mit einem – auch nicht goldenen – Kamm kräftig bearbeitet. Entgegen dem Wortlaut des Gedichts: „Sie kämmt es mit goldenem Kamme, Und singt ein Lied dabei;“ singt sie hier nicht, sondern schaut versonnen nach unten, wo sich eine Fülle von Muscheln, wasserspeiende Delphinköpfe, drei barbusige Frauengestalten und sonstiges Kleingetier tummeln.

Die drei freizügigen Damen, die damals den Skandal auslösten, sind Allegorien auf Lyrik, Satire und Melancholie. Hinter den drei Figuren gliedern drei Voluten den Sockel, unter denen drei Delphinköpfe Wasser in Muschelschalen speien. Zwischen den Voluten des Sockels befinden sich drei Reliefs: Ein Heine-Porträt, ein nackter Junge mit Narrenkappe, der mit seiner Feder auf einen Drachen zielend den Humor symbolisiert und eine Sphinx, die einen nackten jungen Mann im Todeskuss umarmt, vielleicht ein Hinweis auf den vergeblichen Drang Heines zur Lösung des Welträtsels. Auf der linken Seite steht die Künstlersignatur „Professor / E. Herter, Berlin / fecit / 1897 · Marmorwerke Laas, Tirol“, auf der rechten Seite die Widmung „IHREM GROSSEN DICHTER DIE DEUTSCHEN IN AMERIKA“. Das Ganze ist jetzt kein Kunstwerk vom Rang eines Bernini, aber dennoch anschauenswert und hätte auch damals schon den Standards des Central Parks entsprochen.

Der Joyce-Kilmer-Park ist mittlerweile eine ansprechende, saubere und friedliche Grünanlage geworden, wie man sie überall in der Stadt findet: Menschen ruhen sich auf Bänken aus und picknicken (food to go in Plastikbehältern!), führen ihre Hunde an der Leine und haben „das Sackerl fürs Kackerl“ dabei, Kinder toben auf dem Spielplatz. Nur Grillen ist verboten, wie ein Schild am Zaun des Denkmals deutlich macht – aber auch das ist überall in NY genau so!

Edgar Allan Poes Landsitz

Mein zweites must see in der Bronx ist das Edgar Allan Poe Cottage in Fordham, das vom Yankee Stadium nur acht Haltestellen entfernt ist. Beide Objekte liegen am Grand Concourse, der Magistrale, die sich 8 km lang nordsüdlich durch die Bronx zieht. Um zu Poe zu gelangen, wendet man sich weiterhin nach Norden, diesmal aber auf der B-Line, bis Kingsbridge Road. Nie hätte ich vermutet, dass Mark Twain und Edgar Allan Poe, die beiden amerikanischen Schriftsteller, die ich am meisten schätze, mit der Bronx konnotiert sind – selbst unter der Berücksichtigung, dass der Borough im 19. Jh. ganz anders aussah als heute. (Mark Twains Residenz Wave Hill in Riverdale, ein nobles Mietobjekt, das später auch noch andere prominente Bewohner wie die Roosevelt Familie und Arturo Toscanini beherbergte, hat das Aussehen jener Zeit bewahrt, hoch über dem Hudson River in einem denkmalgeschützten Park gelegen). Poes Lebensumstände waren jedoch mit denen von Twain überhaupt nicht zu vergleichen: Während der Autor von „Huckleberry Finn“ mehrere Male in seinem Leben ein Vermögen anhäufte und es sich leistete, dieses auch sofort wieder zu verjuckeln, lebte Poe sein gesamtes Erwachsenenleben in prekären Verhältnissen. Sein bescheidenes Cottage in der Bronx ist für mich der geeignete Ort, das kurze und ruhelose Leben dieses bedeutenden und wirklich einflussreichen Schriftstellers zu rekapitulieren. Es waren ja nicht nur die jedem bekannten und viel kopierten Schauergeschichten sowie das Vorbild für alle Detektivgeschichten „The Murders in the Rue Morgue“ sondern auch scharfsinnige Essays und vor allem seine innovative Lyrik, die sich weltweit verbreiteten und zur Weltliteratur wurden. Nur – Poe hatte in seinem Leben nichts davon.

Geboren 1809, spielte sich sein amerikanisches Leben an der Ostküste ab – zwischen dem Geburtsort Boston und den Städten Richmond, Baltimore, Charleston, New York und Philadelphia. Schon früh wurde er Waise und wuchs im Hause von John Allan, einem wohlhabenden Geschäftsmanne auf, dessen Namen er als middle name trug, ohne dass dieser ihn je adoptiert hätte. Mit seiner Pflegefamilie ging er 1815 für fünf Jahre nach Großbritannien, besuchte dort diverse Privatschulen und wurde ganz gewiss hier mit den Eindrücken von Old Europe geprägt, die später in seinem Werk immer wieder auftauchen. Nach der Rückkehr, während Poes Schulzeit in Richmond, lebte die Familie Allan aufgrund der Wirtschaftskrise etwas bescheidener, aber eine unverhoffte Erbschaft verbesserte ihre Lage wieder. Poe wurde deshalb 1826 auf die renommierte Virginia-Universität in Charlottesville geschickt, die er allerdings ein Jahr später schon wieder verließ, weil er sich ob seines lockeren Lebenswandels mit John Allan überworfen hatte.

Er verließ die Familie, ging nach Boston und trat zur Sicherung seines Lebensunterhalts für fünf Jahre in die Armee ein. Zur gleichen Zeit hatte er begonnen Gedichte zu schreiben und bereits einen Band veröffentlicht. An seinem Standort Charleston stieg er schnell auf den höchsten Rang der einfachen Soldatenlaufbahn auf, was in ihm den Wunsch auf eine Offizierskarriere weckte. Dafür war ein Studium an einer Militärakademie erforderlich, aber dem stand seine mehrjährige Dienstverpflichtung entgegen, aus der er sich nicht so leicht lösen konnte. Ein letztes Mal half ihm Allan, indem er ihn aus dem Kontrakt mit der Armee herauskaufte und ihm einen Platz in West Point besorgte. Während der Wartezeit auf die Akademie lebte Poe in Baltimore bei seiner Tante Maria Clemm und ihrer siebenjährigen Tochter Virginia. Nach gutem Beginn in West Point ging alles schief, was schief gehen konnte: Der endgültige Bruch mit John Allan, Alkoholeskapaden und schließlich die Zitierung vor das Kriegsgericht und die Verweisung von der Militärakademie 1831.

Von nun an war Poe in Baltimore auf das Einkommen aus der Schriftstellerei angewiesen, ein mühseliges Unterfangen, denn er musste seine Gedichte und Erzählungen einzeln an Magazine und Verleger verkaufen und die Honorare akzeptieren, die ihm angeboten wurden. Der einzige Fixpunkt in seinem rastlosen und durch Alkoholabstürze geprägten Leben blieben seine Tante und seine Cousine Virginia. Zu beiden unterhielt er eine merkwürdige Beziehung, so nannte er Maria Clemm „Mutti“ und Virginia „Schwesterchen“, gleichzeitig kam er der dreizehn Jahre Jüngeren emotional immer näher. Ein erstes festes Engagement bei der Literaturzeitschrift „Messenger“, in der er den „Arthur Gordon Pym“ als Fortsetzungsroman veröffentlichte, ließ ihn nach Richmond umziehen. Doch schon 1835 kam er nach Baltimore zurück, weil er befürchtete, Virginia zu verlieren. Er verlobte sich mit der erst 13-jährigen und ging mit ihr und ihrer Mutter zusammen wieder nach Richmond. Hier heiratete er die Cousine im Jahr darauf, wobei das Alter der noch nicht 14 Jahre alten Braut mit 21 angegeben wurde und ein Trauzeuge das mit einem Meineid beschwor.

Obwohl immer noch wenig verdienend, hatte sich Poe bereits einen Ruf als Lyriker, Schreiber von Kurzgeschichten und Literaturkritiker erworben, so dass er es 1837 wagte sein Glück in New York zu suchen, was aber von wenig Erfolg gekrönt war. Da kam ihm 1839 ein Engagement als Redakteur in Philadelphia gerade recht. Hier hatte er in den nächsten vier Jahren seine schaffensreichste Phase, aber auch Rückfälle in den Alkoholismus und den Schock durch die Erkrankung seiner Frau an Tuberkulose, was sich durch einen Blutsturz beim Singen offenbarte. Zur Sicherung seiner Lebensverhältnisse strebte er einen Job als Zollbeamter an, jedoch vergeblich.

Deshalb zog er 1844 mit der Familie nach New York, in der Hoffnung auf dem dortigen Zeitschriftenmarkt bessere Chancen zu haben. Im Dörfchen Fordham vor den Toren der Stadt – heute mitten in der Bronx – mietete er ein winziges Cottage für 100$ im Jahr, in dem einige seiner bedeutendsten Werke entstanden, darunter Ulalume, ein Meilenstein in der Entwicklung der Lyrik zur Lautpoesie. In diesem Landhaus starb 1847 Virginia an Tbc, nur 24 Jahre alt. Poe versuchte den Verlust durch Kontaktaufnahme zu verschiedenen Frauen zu kompensieren, was stets misslang und ihn in beständig neue Alkoholabstürze trieb. 1849 traf er in Richmond seine mittlerweile verwitwete Jugendliebe Elvira Royster wieder und die beiden verlobten sich. Auf dem Heimweg nach New York unterbrach er die Schiffsreise in Baltimore und verstarb dort bei einem erneuten Alkoholexzess unter ungeklärten Umständen. Die Anzahl der Gerüchte über die Ursache seines Todes sind Legion.

Das Poe-Cottage befindet sich heute nicht mehr am originalen Standort, aber der ist nur wenige 100 m entfernt. Die Einrichtung einer Gedenkstätte war dort nicht möglich, weil die Eigentümer des Grundstücks die Öffentlichkeit vom Besuch des Häuschens ausschlossen und auf der weiteren Nutzung als Mietobjekt bestanden. Deshalb kaufte das NYC Council nur das verfallene Gebäude und beschloss es auf ein öffentlich zugängliches Gelände umzusetzen. Die wesentlich schlechtere Alternative zu dieser Translozierung wäre der völlige Abriss oder Verkauf und Wiederaufbau in einem Literaturmuseum in Boston, Baltimore oder Richmond gewesen. So stellte man das Häuschen einfach auf Räder, rollte es an seinen jetzigen Standort und umgab es mit dem Edgar Allan Poe Park, in dessen Norden es nun steht. Ein Museum für einen Dichter in dieser kulturfernen Gegend war ein ziemliches Wagnis, deshalb vermietete man das Erdgeschoss als Studentenwohnung um es durch einen ständigen Bewohner gegen Vandalismus zu sichern.

Auf der Fahrt in den Norden der Bronx lese ich „Landor’s Cottage“, Poes letzte Erzählung, in der unter Verzicht auf irgendeine Handlung lediglich ein kleines Landhaus außerhalb der großen Stadt akribisch beschrieben wird. Poes Erzählkunst gelingt es mühelos mich in seine Zeit hinein zu ziehen, was beim Verlassen der Subway in Kingsbridge Road für ein Gefühl der Verstörung sorgt: Dicht gedrängt stehende Achtgeschosser allüberall, ein vielspuriger Autotunnel, in dem die Magistrale der Bronx verschwindet und direkt daneben der Edgar Allan Poe Park. Nur wenige Meter entfernt vom tosenden Autoverkehr des Grand Concourse erscheint Poes Cottage in diesem Ambiente besonders unscheinbar und winzig.

Es ist ein anspruchsloses hölzernes Landhaus von 1797 mit äußerst einfachem Grundriss, ein Wohnzimmer und die Küche im Erdgeschoss, ein Schlafzimmer und Poes Arbeitszimmer im ungeheizten Obergeschoss, umgeben von 8000 m2 Garten. Es ist nicht identisch mit „Landor‘s Cottage“ aber die Erzählung trifft exakt den Charakter einer solchen Behausung mit der überdachten Veranda (porch) vor der Haustür. Hier standen die Käfige mit Singvögeln und hier saß die Familie (Edgar und Virginia Poe, sowie Maria Clemm, die Schwiegermutter) an lauen Sommerabenden. Und in diesem Haus kämpfte Virginia ihren aussichtslosen Kampf gegen die Tuberkulose. Ich gehe die enge Treppe hinauf ins Schlafzimmer und stehe bewegt vor dem Bett, in dem sie am 30. Januar 1847 starb. Maria Clemm hütete das Haus während der rastlosen 2 1/2 Jahre, die Poe noch verblieben und bekam die Nachricht von seinem Tod erst als die Bestattung schon erfolgt war.

28 Staten Island

Inselgeschichte

Staten Island, der südlichste borough of New York, ist eine große Insel, die durch den Kill Van Kull, eine sechs Meilen lange Meerenge, von Manhattan getrennt ist. Der Kill Arthur (ein schmaler Meeresarm an der Küste von New Jersey) ist ihre westliche Begrenzung, während The Narrows die östliche und die Lower Bay die südliche darstellen. Staten Island teilte von Anfang an die Geschicke New Yorks, Giovanni da Verrazzano ankerte bei seiner Entdeckung New Yorks in der Meerenge The Narrows, zur holländischen Zeit gehörte es der Regierung der Niederlande, die es vom Gouverneur von Nieuw Nederland mitregieren ließ (der Name Staten Island leitet sich ab von staaten general = Regierung der Niederlande) und die Engländer verleibten es sich bei ihrer Usurpation des niederländischen Besitzes gleichfalls ein. Allerdings bekam es von ihnen einen neuen Namen, nach dem Duke of Richmond. Als County Richmond des Bundesstaats New York blieb es bis heute bei seinem englischen Namen, während es als Borough of New York auf den holländischen Namen Staten Island zurückgriff.

Bereits unter den Niederländern war es zu Auseinandersetzungen mit der indigenen Bevölkerung gekommen, denen der Begriff „Grundeigentum“ fremd war. Was nach Auffassung der Niederländer „Kauf von Grund und Boden“ darstellte, war für die Indianer ein gemeinsames Nutzungsrecht. Somit waren Konflikte vorprogrammiert. Die frei herumlaufenden Schweine der Siedler verwüsteten die Felder der Indianer ohne dass Schadenersatz geleistet wurde und im Zuge des für Indianer sowieso unveräußerlichen Jagdrechts schossen sich diese gelegentlich mal eines. Wie schon beim „Pfirsichkrieg“ auf Manhattan sorgte solch ein – eigentlich banaler – Anlass für blutige Auseinandersetzungen, die analog zu den Ereignissen auf Manhattan den Namen „Schweinekrieg“ erhielten. Willem Kieft griff 1640 als neu eingesetzter Gouverneur von Nieuw Nederland hart durch und setzte nach ersten blutigen Auseinandersetzungen ein veritables Kopfgeld auf die Raritan-Indianer auf Staten Island aus. Wie viele Köpfe tatsächlich geliefert wurden, bleibt unklar, sicher war jedoch, dass alle Indianer die Insel verließen.

Nach Gründung der Vereinigten Staaten verharrte die agrarisch genutzte Insel wegen ihrer Abgeschiedenheit noch lange im Dornröschenschlaf, bis allmählich ein Aufschwung einsetzte. Die Siedlung Coccles Town (benannt nach den hier massenhaft gefundenen Austernschalen) wurde im frühen 18. Jahrhundert zu Richmondtown, mit dem Gerichtsgebäude von Richmond County quasi die Inselhauptstadt. Die Menschen, die hier lebten, waren meist niederländischer, englischer oder hugenottischer Abstammung und die häufigsten Berufe waren Schmied, Schuhmacher und andere aus dem handwerklichen Bereich. Das industrielle Wachstum New Yorks brachte ab 1850 weitere Handwerkszweige und auch zunehmend Arbeiter auf der Suche nach preiswertem Wohnraum nach Staten Island, das 1898 zum (bevölkerungsmäßig kleinsten) Borough of New York City wurde.

Die Staten Island Railway (SIR) durchzog von nun an die Insel von Nordosten nach Südwesten und die kostenlose Staten Island Ferry verband sie an der Station St. George mit Manhattan. Die traditionellen Arbeitsplätze in Manhattan und Brooklyn waren aber trotzdem nur mühselig zu erreichen, weshalb sich vorwiegend die ärmeren Schichten hier ansiedelten und somit erklärt sich der jetzt besonders hohe Anteil von Iren und Italienern. Die traditionelle kleinteilige Bebauung der Insel begann zu verschwinden, was dazu führte, dass unweit von Richmondtown das Freilichtmuseum Historic Richmond Town gegründet wurde um die Erinnerung an das historische Staten Island zu bewahren.

Historic Richmond Town

Die Realisierung des Museums ging von Inselbewohnern aus, angeführt von lokalen Historikern und Denkmalpflegern. Sie wollten in einer Ära der rasanten Entwicklung und Zersiedelung Zeugnisse für die reiche Geschichte ihrer Insel zusammentragen und sie an einem möglichst authentischen Ort ausstellen. Historic Richmond Town wurde 1958 gegründet und ist ein gemeinsames Projekt der Staten Island Historical Society, einer unabhängigen gemeinnützigen Kulturorganisation und der Stadt New York, die Eigentümerin des Grundstücks und der Gebäude ist und einen Teil der Aktivitäten mit öffentlichen Mitteln unterstützt. Das Gelände erstreckt sich über 100.000 m2 mit 15 restaurierten Gebäuden aus dem späten 17. bis frühen 20. Jh., die teilweise hierher versetzt wurden und bietet die Möglichkeit, den Lebensstil einer 300 Jahre alten Gemeinde kennenzulernen. Das Voorleezer’s House von 1696 ist das älteste Schulhaus der gesamten USA. Außerhalb des Museumsgeländes befindliche Institutionen wie St. Andrew’s Episcopal und St. Patrick’s Church (eine dritte, die reformierte niederländische Kirche von Richmond, wurde leider abgerissen) sowie Mount Richmond Cemetery, der jetzt von der Hebrew Free Burial Association betriebene Friedhof, tragen ebenfalls zum Zweck des Museums bei.

Historic Richmond Town will den Besuchern ein Gefühl dafür vermitteln, wie man in den vergangenen Jahrhunderten auf Staten Island lebte. Wie in vielen anderen Museen für „lebendige Geschichte“ auch, veranstaltet man deshalb Vorführungen historischen Handwerks und Darstellungen des Alltagslebens durch kostümierte Museumsmitarbeiter. Besucher können an einer Führung durch verschiedene Häuser teilnehmen, die vollständig möbliert sind und eine bestimmte Zeit repräsentieren (period rooms). In Läden von damals kann man Produkte jener Zeit kaufen. Neben den historischen Häusern im Museumsdorf gibt es auf Staten Island noch ein weiteres, das zu den ältesten im Gebiet von NYC gehört: In Tottenville das Conference House, ein Steinbau von 1680.

Das Verschwinden der Mandolin Brothers

Mein Bezugspunkt zu Staten Island war 30 Jahre lang die Musikalienhandlung Mandolin Brothers. Die folk music revival der 60er und 70er Jahre erzeugte einen riesigen Bedarf an Saiteninstrumenten wie Banjos, Akustikgitarren und Mandolinen. Stan Jay erkannte als einer der ersten, dass solche Instrumente von hervorragender Qualität vom Anfang des 20. Jh. bis zum Zweiten Weltkrieg in den USA in großen Stückzahlen hergestellt wurden, ehe die Schallplatte, das Fernsehen und elektrifizierte Musikinstrumente das volkstümliche Musizieren stark reduziert hatten. Jay ging davon aus, dass sich viele dieser Instrumente erhalten hatten (entweder noch in Gebrauch oder auf Dachböden quasi eingemottet) und beschloss einen Gebrauchthandel mit vintage instruments aufzubauen. (Der Begriff vintage wird in den schnelllebigen USA gern benutzt um älteren, gebrauchten Gegenständen die Aura des Besonderen zu verleihen). Stan Jays Geschäftskonzept funktionierte u.a. deshalb so gut, weil er einen Stamm von Mitarbeitern (vorwiegend Musikern) unterhielt, die dieses Metier ebenfalls liebten und sich auf Spezialgebiete konzentrierten.

Meine Frau unternahm die jährliche New-York-Reise schon lange vor mir und deshalb beauftragte ich sie in den 80er Jahren, mir eine Vintage Mandoline der legendären Firma Gibson aus NY mitzubringen. Sie zierte sich anfangs lange, denn erstens spielte sie kein Saiteninstrument und zweitens verachtete sie den „zirpigen“ Klang des Instruments. Aber schließlich nutzte sie die Angelegenheit zu einem Ausflug mit der Schwiegertochter nach Staten Island und begab sich zu Mandolin Brothers. Forest Avenue, der Standort des Ladens, war doch weiter vom Landepunkt der Fähre entfernt, als sich die beiden vorgestellt hatten, aber schließlich erreichten sie ihn doch zu Fuß. Wie findet man nun ein gutes Instrument, wenn man es nicht spielen kann und von dem man nicht weiß, wie es klingen soll? Schnell stellte sich einer der genannten Experten ein, der sich nicht zu schade war, die simpelsten Grundlagen des Mandolinenbaus zu erklären und jedes in Frage kommende Instrument ausgiebig vorzuspielen. Als meine Frau sich dann für eines entschied, kommentierte er mit perfekter Höflichkeit, dass genau dieses Instrument er sich ebenfalls ausgesucht hätte. Damit war ein passendes Instrument zwar gekauft, aber noch nicht in Europa. Die Regeln des amerikanischen Antiquitätenhandels verbieten die unkontrollierte Ausfuhr antiquarischer Gegenstände. Wie würde das Urteil der Kontrollbehörde für ein fast hundertjähriges Instrument ausfallen? Der Experte hatte einen Rat: „Nehmen Sie das Instrument mit ins Handgepäck und deklarieren es als das von Ihnen aktuell gespielte“. Damit hatte er Renate den Rückflug gründlich vermasselt. Wie aufgetragen trug sie das Instrument bei der Zollkontrolle bei sich, voller Angst, der Zollbeamte könnte nach Öffnen des Koffers verlangen, ein paar Takte vorzuspielen. Dennoch erreichte die Mandoline ihren Bestimmungsort und ich blieb mit Mandolin Brothers in Kontakt, kaufte telefonisch weitere Instrumente und schwor, sollte ich endlich mal in New York sein, Renates Ausflug zu wiederholen.

Darüber verging viel Zeit, in der sich im traditionellen Musikalienhandel vieles änderte. Das Internet und der zunehmende Versandhandel machte Mandolin Brothers schwer zu schaffen. Stan Jay versuchte sich anzupassen, indem auch er das Geschäft digitalisierte und eine Internet-Repräsentation aufbaute. Dem Charme des Ladens auf Staten Island war das abträglich. Wozu sollte man noch die lange Fahrt ins Innere der Insel unternehmen, wenn das wunderbare Fachpersonal schrittweise abgebaut wurde und man mitbekam, dass Mandolin Brothers mit einem kostenpflichtig zu abonnierenden Newsletter und einem kompletten Internetangebot neuer Musikinstrumente genau den gleichen Weg ging wie die Konkurrenz? Aus diesen Gründen schob ich den Besuch von Staten Island immer wieder auf, bis es schließlich zu spät war. Mit Jays unerwartetem Tod 2015 starb auch Mandolin Brothers noch im selben Jahr, weil die Person, die diesen einzigartigen Laden fast 45 Jahre zusammen gehalten hatte, unersetzlich war. Sein langjähriger Konkurrent Gruhn Guitars in Nashville, der ihm früher nicht das Wasser reichen konnte, hat mit einem ähnlichen Konzept wie Jay in seinen letzten Jahren bisher noch überlebt. Doch – wie lange noch?

Meucci erfindet, andere kassieren

Wie wir bereits gesehen haben, ist Little Italy in Manhattan nur noch eine Touristenattraktion und die italienischen Immigranten haben sich mittlerweile über alle Boroughs of New York City verteilt. Aber auf Staten Island ist ihr Anteil am höchsten, denn hier hatten sich moderate Immobilienpreise am längsten gehalten. Es entsprach dem italienischen Lebensgefühl viel besser, mit der Großfamilie zusammen in einem Haus im Grünen zu wohnen als eng zusammengepfercht in einem Viertel wie Little Italy. Deshalb strebten sie mit aller Macht danach, sobald sie beruflich in New York Fuß gefasst hatten, die Elendsquartiere zu verlassen und im eigenen Heim mit mehreren Generationen ihrer Familie zusammen zu leben.

Antonio Meucci (*1808 1889), den ich bereits im Kapitel über Garibaldi erwähnt habe, ist ein gutes Beispiel für die nach Höherem strebenden italienischen Einwanderer. Geboren in Florenz, war er ein ausgesprochener Tüftler und Erfinder, der seine technischen Fähigkeiten zuerst im Bereich der Bühnentechnik entwickelte. Er begann seine Tätigkeit an einem Theater, wo er zur Verbesserung der Kommunikation auf der Bühne ein akustisches Schlauchtelefon erfand, das die verschiedenen Bereiche miteinander verband. Seine zunehmende Wohlhabenheit nutzte er zur Unterstützung der Einigung Italiens, dem Risorgimento. Nach dessen Scheitern und drohenden Vergeltungsmaßnahmen des restaurativen Regimes emigrierte er nach Kuba und arbeitete in Havanna erneut als leitender Bühnentechniker. Weiterhin widmete er sich jedoch seinen Erfindungen, unter anderem einem chemischen Verfahren zur Verarbeitung von Abwässern. Mit einem Galvanisierungsbetrieb, der vorwiegend für das Militär arbeitete, verdiente er sich ein Vermögen, mit dem er auch Garibaldis Revolution in Italien unterstützte. Doch nach dem Auslaufen seines Vertrages mit der kubanischen Armee sah er in Kuba keine Chancen mehr für sich und siedelte 1850 nach New York über um sich dort eine neue Existenz aufzubauen. Mit dem noch vebliebenen Vermögen kaufte er ein Haus auf Staten Island, in das er mit seiner 14-köpfigen Familie zog. Er hatte eine Vielzahl von Geschäftsideen, die er mit Hilfe seines neu gewonnenen Freundes Giuseppe Garibaldi, der nach dem Scheitern des Umsturzes in Italien ebenfalls nach Amerika emigriert war, verwirklichen wollte. Deshalb lud er ihn in sein Haus ein, wo sie gemeinsam eine Salamifabrik eröffneten. Diese Art des Broterwerbs war dem Berufsrevolutionär jedoch zuwider und trotz Meuccis Wechsel von der Salami- in die Stearinkerzenbranche nutzte er die Gelegenheit des erneuten Umbruchs in Italien zur Rückkehr nach Europa.

Meucci jedoch blieb bis zu seinem Lebensende in New York, unablässig mit der Entwicklung neuer Ideen und Erfindungen beschäftigt. So stellte er als erster das Rohmaterial für die Kerzenproduktion von Stearin auf Paraffin um – das große Geld mit der Massenproduktion machten jedoch andere. Seine Frau war durch eine Rheumaerkrankung bettlägerig geworden, deshalb verwandte er viel Zeit darauf, einen Apparat zu konstruieren, mit dessen Hilfe er während der Arbeit mit ihr kommunizieren konnte. Nach einer ersten öffentlichen Vorführung des „Telektrophones“ nahm er Kontakt zur Western Union Telegraph Company auf, der er seine Unterlagen zur Ansicht übersandte und betrieb 1871 gleichzeitig die Anmeldung der neuen Erfindung zum Patent, was jedoch an fehlenden Geldmitteln scheiterte. Als er von Western Union seine Unterlagen wieder zurückforderte, wurde ihm beschieden, sie seien „verloren gegangen“! Drei Jahre später, 1876, meldete erstaunlicherweise ein Mitarbeiter ebendieser Firma, Alexander Graham Bell, ein Patent für einen Fernsprecher an. Meucci klagte dagegen, konnte aber weder das Patent, noch eine finanzielle Entschädigung dafür erlangen und starb als armer Mann 1889 in New York.

Obwohl nicht mehr am originalen Standort stehend, ist Meuccis Heim, ein Holzhaus von 1840 im Stil des Klassizismus in der Tomkins Avenue bis heute erhalten geblieben. Schon 1884 hatte man, noch in Anwesenheit von Meucci, eine Garibaldi-Plakette daran angebracht und 1907 war es – zu Garibaldis hundertstem Geburtstag – umgesetzt und zum Garibaldi-Memorial befördert worden. Inzwischen wurde es von der Stiftung „National Order of the Sons of Italy“ übernommen und dient heute als Garibaldi-Meucci Museum, das italienisch-amerikanisches Kulturerbe sowie die Lebensläufe des Revolutionärs und des Erfinders zelebriert.

Die größte Müllkippe der Welt

Mehr als andere Boroughs hat Staten Island mit Verkehrs- und Umweltproblemen zu kämpfen. Wohl wegen der vergleichsweise geringen Einwohnerzahl (476 000) wurde weder eine Subway-Verbindung mit den anderen Boroughs geschaffen, noch existieren ausreichende Straßenverbindungen und nur drei Brücken verbinden es mit New Jersey und eine mit Brooklyn. Letztere ist die Verrazzano-Narrows Bridge, die längste Hängebrücke New Yorks und der USA. Es dauerte übrigens 58 Jahre, bis der Schreibfehler im Namen des Seefahrers (nur ein z) auf den offiziellen Schildern endlich korrigiert wird, allerdings auch nur schrittweise, im Rahmen des routinemäßigen Austauschs. Viele Brücken sind mautpflichtig und nur die Staten Island Ferry nach Manhattan kostenlos. Das hat dazu geführt, dass die Inselbewohner gern unter sich bleiben und sich gar nicht als echte New Yorker fühlen, es soll Einwohner geben, die (so paradox es klingt) noch nie in NYC waren.

Die Einfahrt von der Upper Bay in den neuen Containerhafen von Newark, der Kill Van Kull ist, obwohl nur sechs Meilen lang, eine der meist befahrenen Wasserstraßen der Welt und somit schon erheblich umweltbelastet. Und auch vom Lande aus trug die hier ansässige Industrie, die 150 Jahre lang ihre Abwässer ungeklärt in den Kill Van Kull und den südlich anschließenden Kill Arthur (die Meerenge zwischen New Jersey und Staten Island) einleiten durfte, erheblich zur Umweltbelastung der Insel bei. Die schon seit längerer Zeit laufenden Umweltschutzmaßnahmen greifen nur langsam, weil der bereits angerichtete Schaden so groß ist.

Das größte Problem von Staten Island ist jedoch Fresh Kills, die größte Müllkippe der Welt. („Kill“ kommt übrigens aus dem Niederländischen und bedeutet „Flussbett“). Sie liegt auf einem 12 km2 großen Areal (über 10% der Inselfläche!) zwischen zwei Flüssen, die in den Arthur Kill münden. 1948 eröffnet, gehörte sie zu den großen Stadtentwicklungsprojekten des Stadtplaners Robert Moses, dessen Ideologie und Arbeitsweise bereits ausführlich im Kapitel „New York am Meer“ dargestellt wurden. Hier war sein Plan, das sumpfige Gelände für einige Jahre mit Bauschutt und Müll aufzufüllen (Fresh Kills Landfill) um es anschließend als Baugrund zu nutzen, da Staten Island als New Yorks größte Baulandreserve galt. Aus den vorgesehenen fünf Jahren wurden mehr und mehr, da Mülldeponien im Stadtgebiet aufgrund von Umweltproblemen zunehmend geschlossen wurden und nirgends die Bereitschaft vorhanden war, eine neue zu eröffnen oder alternative Methoden der Müllentsorgung in Betracht zu ziehen. Von 1974 bis 1989 stieg der Anteil von Fresh Kills am Gesamtaufkommen des New Yorker Mülls von 50 auf 94 % und ab 1991 war es die einzige verbliebene Deponie der Stadt.

Die immer näher rückende städtische Bebauung gegenüber ständig zunehmender Umweltverschmutzung durch Sickerwasser und Deponiegas brachten Fresh Kills schließlich in die Kritik der Öffentlichkeit. Zwar hatte schon vorher die Verschmutzung des Arthur Kill durch über Bord gegangenen Abfall von den Müllschiffen Unmut erregt, doch erst als 1987 die Strände von New Jersey durch Chemieabfälle verunreinigt, angeblich gebrauchte Spritzen aus Fresh Kills angeschwemmt und die Vorfälle in Billy Joels Welthit „We Didn‘t Start the Fire“ zitiert wurden, passierte etwas. Man legte Teile der Deponie still und verfügte die endgültige Schließung bis 2001, wobei der weiterhin anfallende Müll in andere Bundesstaaten exportiert werden sollte. Die New Yorker Abfallgebühren erhöhten sich dadurch um 50%! Wie wenig aus solchem mangelhaften Management gelernt wird, zeigte sich 2011 beim Müllskandal in Neapel, wo sich das alles wiederholte.

Der Schließungstermin von Fresh Kills verzögerte sich wegen der Ereignisse von 9/11 nochmals, weil der Trümmerschutt von Ground Zero hier entsorgt wurde. Makabrer Weise durchsuchte man ihn auf dem Gelände der Deponie nach den sterblichen Überresten der Opfer. Seitdem tut sich aber Positives: Das Areal soll durch fünf miteinander verbundene Parks renaturiert werden, die eine Gesamtfläche von 9 km2 einnehmen und zusammen die etwa zweieinhalbfache Größe des Central Parks einnehmen. Das weiterhin austretende Deponiegas wird gesammelt und zur Energiegewinnung verwendet, bis aber alle vom Menschen verursachten Schäden wieder gut gemacht sind, wird es noch einige Zeit dauern, der angekündigte Eröffnungstermin wurde gerade wieder verschoben.

29 Upstate NY

Hudson Valley

New York City liegt im äußersten Süden des Bundesstaats New York, Staten Island ist sein südlichster Punkt. Der Nachbarstaat New Jersey schließt sich westlich des Hudson und südlich von New York City an. Mein letzter Blick durchs Kaleidoskop soll einem Landausflug in den Staat New York gelten, wie ihn die New Yorker gern unternehmen, wenn sie der Enge der Metropole entkommen wollen. (Im Kapitel „New York am Meer“ habe ich mich ja bereits mit dem Exodus der Großstädter an die See beschäftigt). Die Einheimischen nennen den Ausflug „Upstate NY“, denn alle Ziele liegen nördlich der Metropole. Ein Freund unseres Sohnes, der mit seiner bei der UNO tätigen dänischen Frau für fünf Jahre in New York lebt, lädt uns dazu ein. Viel Zeit benötigen wir allein um aus der Stadt herauszukommen. Von Queens aus müssen wir dazu erst einmal über den East River und auf dem Highway 87 die gesamte Bronx durchqueren, bis endlich der Hudson erreicht ist. In Yonkers, bereits außerhalb von New York, beginnt der Highway 9 (die direkte Verlängerung des Broadway), der durch zauberhafte Landschaft, teilweise direkt am Hudson, den Bundesstaat durchzieht und zur Hauptstadt Albany führt.

Schon seit der Gründung von Nieuw Amsterdam haben sich wohlhabende Städter im Hudson Valley ihre Landsitze angelegt. Aber genau so lange leben hier auch Farmer und Handwerker, einfache Leute, deren Wohnhäuser, teilweise mehr als 200 Jahre alt, in den Dörfern noch überall zu finden sind. Es handelt sich in der Regel um Holzhäuser, deren äußere Bretter wie Schiffsplanken überlappen und die – ohne Keller – auf einem einfachen Fundament von ausgelegten Steinen stehen. Als einzig gemauerten Teil des Hauses gibt es den Kamin, in aufwändigeren Häusern auch mal zwei. Vielfach unterteilte Fenster kennzeichnen die älteren von ihnen, denn große Glasscheiben waren schwer herzustellen und teuer. Stilistisch variieren sie – je nach Baujahr – von der „Saltbox“ mit abgeschlepptem Dach auf der eingeschossigen Wetterseite und Zweistöckigkeit an der Straßenfront über „Greek Revival“ mit tempelartigen Vorbauten, „Georgian“ (entsprechend dem Biedermeier in Deutschland) sowie „Victorian“, was unserer Gründerzeit gleichkommt. Wir hätten nie gedacht, dass im modernen, schnell lebigen Amerika solch schlichte, altmodische Holzbauten geschätzte Wohnobjekte für Betuchte werden könnten. Doch als wir in Hingham, vor den Toren Bostons, im 250 Jahre alten Wohnhaus der Tochter unserer ältesten Freunde wohnten, bekamen wir am eigenen Leibe mit, welchen Charme diese alten Gebäude ausstrahlen, wenn sie beständig gepflegt werden. Wieviel originale Bausubstanz sie allerdings noch besitzen, lässt sich schwer beantworten, weil Holz ein vergängliches Material ist. Insbesondere die Außenplanken und Dachschindeln sind Teile, die regelmäßig ersetzt werden müssen.

Ziel unseres Ausflugs nach Upstate NY ist der Wohnsitz von Franklin Delano Roosevelt in Hyde Park, nördlich von Poughkeepsie, 150 km von New York entfernt. Viel Sehenswertes muss man auslassen, wenn man am selben Tag wieder zurück sein will, zum Beispiel den Bear Mountain State Park, der mir aus den Berichten unserer jüngsten Enkelin sehr vertraut ist. Sie hasst ihn, obwohl er einen eigenen Zoo, schöne Wanderwege und Anreize für ausgedehnte Bergtouren bietet. Aber wenn der alljährliche obligatorische Wandertag (nicht nur ihrer Schule) immer nur dorthin unternommen wird und selbst Reiseführer vor den vielen Schulklassen warnen, die während der Unterrichtszeit den Park unsicher machen, ist das sicher nachvollziehbar. Wir genehmigen uns wenigstens einen Halt an der Bear Mountain Bridge über den Hudson, einer 1924 erbauten eleganten Hängebrücke von 500 m Spannweite und 41 m Höhe, deren Tragseile aus der Fabrik von Johann August Röbling stammen, dem Konstrukteur der Brooklyn Bridge.

Landsitze

Hinter Poughkeepsie, das trotz des indianischen Namens (Lager am kleinen Wasser) eine Kleinstadt aus der Zeit der frühen Industrialisierung ist, verlässt der Highway 9 das Hudson Valley und erreicht die Gemeinde Hyde Park, in deren Umgebung sich gleich vier bedeutende Zeugnisse für den Lebenstil der amerikanischen Großbourgeoisie befinden, Mills Mansion, Vanderbilt Mansion und die Wohnsitze von Franklin D. Roosevelt und Eleanor Roosevelt. Bevor wir uns F. D. Roosevelt ausführlich widmen, wollen wir uns zunächst eine Vorstellung von einem Landsitz des Gilded Age machen und werfen einen kurzen Blick auf Vanderbilt Mansion. Das einem französischen Königspalast gleichende überaus protzige Anwesen wurde nach 1895 (wie das weiter nördlich liegende Mills Mansion) von dem Beaux Arts Architekturbüro McKim, Mead, and White entworfen, dem wir in NYC schon so häufig begegnet sind.

Vanderbilt

„Commodore“ Cornelius Vanderbilt, der Begründer der Dynastie, hatte mit dem Betrieb von Dampfschifffahrtslinien ein Vermögen erworben, das er in den beginnenden Eisenbahnbau investierte. Sein geschäftliches Vorgehen war dabei äußerst robust, was ihn zum Inbegriff des Räuberbarons (robber baron) machte. Seinen Erben hinterließ er unermesslichen Reichtum, den diese mit der Expansion des Eisenbahnverkehrs in den USA weiter ausbauten. Der Enkel Frederick William Vanderbilt leistete sich Vanderbilt Mansion als Ferienwohnsitz mit Anschluss an die eigene Bahnlinie – von hier zur Grand Central Station! Als nur einer von vielen ebenso reichen Vanderbilt-Erben besaß er noch weitere Anwesen von ähnlichem Format: Ein dreistöckiger Palast mit 5m hohen Zimmern, Gesellschaftsräumen im Erdgeschoss, Privatgemächern für sich und seine Frau im mittleren und Gästeappartements im oberen Geschoss. Charakteristisch für Vanderbilt Mansion sind die eindrucksvollen Loggien in Klossalordnung auf allen Seiten des Gebäudes (über zwei Stockwerke reichend) auf den Schmalseiten im Norden und Süden, sowie eine am Eingang im Osten und die halbrunde auf der Westterrasse.

Roosevelt in Springwood

Nach diesem Blick auf den Lebensstil der Superreichen wenden wir uns wieder südlich und erreichen endlich unser Ziel Springwood, das Anwesen, wo der spätere Präsident Franklin D. Roosevelt geboren wurde und sein Leben verbrachte, soweit es sein Amt und seine Verpflichtungen zuließen. Von den Wohnsitzen des Gilded Age hebt es sich durch den Verzicht auf Pomp und überdimensionierte Größe wohltuend ab. Der Mittelteil des heutigen Gebäudes ist ein um 1800 erbautes ehemaliges Farmhaus, welches 1845 erweitert wurde, einen dreistöckigen Turm am Südende erhielt und danach 15 Zimmer besaß. Franklins Vater, – James Roosevelt Sr. – kaufte es 1866 in diesem Zustand zusammen mit 2,5 km² umliegendem Land. Er veranlasste die Vergrößerung des Flügels für die Dienstboten und fügte zwei weitere Zimmer hinzu. Schließlich nahm Franklin D. Roosevelt 1915, zusammen mit seiner Mutter Sara, den letzten Umbau des Hauses vor um seine wachsende Familie unterzubringen, aber auch um einen Platz zu haben, wo er seine politischen Verbündeten treffen konnte.

Die Größe des Hauses verdoppelte sich durch den Anbau der beiden großen Seitenflügel aus Feldsteinen, die Franklin D. Roosevelt selbst entwarf, sowie durch ein drittes Geschoss mit Flachdach. Die holzverkleidete Außenfassade wurde verputzt und der größte Teil der Veranda wich einer mit Feldsteinen gepflasterten Terrasse mit Balustrade und einem kleinen, von Säulen getragenen Portikus am Eingang. Erst diese Veränderungen gaben dem Haus das Aussehen eines Herrensitzes, obwohl der Besitzer es nach wie vor als „Cottage“ bezeichnete. Im Inneren blieb trotz der Umbauten viel Ursprüngliches erhalten. Die Einrichtung des Wohnbereichs war primär auf die Unterbringung von Roosevelts wachsender Sammlung von Büchern, Gemälden, Briefmarken und Münzen ausgerichtet. In den Außenanlagen ließ Franklin D. Roosevelt umfangreiche Baumpflanzungen vornehmen, so dass ein kleiner Park entstand. Dieses Anwesen und die dazu gehörige presidential library vermachte der Präsident testamentarisch dem Staat, der darin das „Home of Franklin D. Roosevelt National Historic Site“ eine Art Museum für die Präsidentschaft Roosevelts einrichtete, der heute übereinstimmend neben George Washington und Abraham Lincoln als einer der drei bedeutendsten amerikanischen Präsidenten angesehen wird.

Man hat hier ein Besucherzentrum geschaffen, das ausgesprochen gut frequentiert ist. Erst nach angemessener Wartezeit bekommen wir eine ebenso kompetente wie auch spannende Führung durch die wichtigen Räume des Hauses, auf der das Leben, die Lebensleistung, aber auch viel Anekdotisches über den Präsidenten ausgebreitet wird. Roosevelts Familie war, wie die Vanderbilts, holländischen Ursprungs (daher auch die Aussprache des Namens wie in engl. rose), aber schon seit Generationen amerikanisch. Sie war wohlhabend, aber nicht superreich und lebte ganzjährig auf Springwood, wo Franklin auch geboren wurde. Er war weitläufig mit Präsident Theodore Roosevelt verwandt, auch seine spätere Ehefrau Eleanor war ein Mitglied der weit verzweigten Dynastie.

Der Präsident

Nach Abschluss seines Jurastudiums verzichtete Franklin auf eine juristische Karriere und ging in die Politik, sicherlich inspiriert von „Teddy“ Roosevelt, dessen politische Ansichten er weitgehend teilte. Jedoch erkrankte er 1915 schwer an Poliomyelitis, wie man damals annahm (heute werden auch andere Krankheiten diskutiert), wodurch beide Beine gelähmt wurden und er sich nur an Krücken oder im Rollstuhl bewegen konnte. Er brauchte mehrere Jahre, bis er mit den Einschränkungen umgehen konnte, u. a. ließ er sein Automobil auf Handbedienung umrüsten um eigenständig mobil zu bleiben. In dieser schweren Zeit war seine Mutter Sara eine große Stütze, was seine enge Bindung an sie erklärt. Ihr Schlafzimmer befand sich direkt neben dem seinigen und ihre Omnipräsenz in seinem Leben war ein großer Verdruss für Franklins Frau Eleanor. Nicht nur wegen seiner Affären bezog Eleanor in 3 km Entfernung von Springwood ein eigenes Cottage mit dem pseudo-holländischen Namen Val-Kill, blieb aber dennoch ein konstituiver Bestandteil seines Lebens. Mir fällt bei der Präsentation dieser Fakten durch den Guide auf, wieviel Respekt die Presse damals dem Privatleben eines Präsidenten zollte, denn weder seine Behinderung noch seine Liebeseskapaden spielten in der damaligen Berichterstattung irgendeine Rolle. In den späten zwanziger Jahren nahm Roosevelt seine politische Karriere wieder auf und wurde 1928 zum Gouverneur des Staates New York gewählt. Seine Methoden zur Bekämpfung der sich weltweit auswirkenden „Great Depression“ machten ihn so populär, dass er 1932 auf Seiten der Demokraten für die Präsidentschaft kandidierte und gegen den Amtsinhaber Herbert Hoover gewann, der wegen ebendieser Weltwirtschaftskrise und seines Umganges damit zum unbeliebtesten aller US Präsidenten geworden war.

Roosevelts Methode der Krisenbekämpfung war der „New Deal“, was eigentlich „Neuverteilung der (Spiel-)Karten bedeutet. Er wollte mit diesem Slogan klar machen, dass es bei seiner Politik darum ging, die alten wirtschaftsliberalen Ideen, die unter Hoover nichts bewirkt hatten, fallen zu lassen und über relief, recovery, and reform (Hilfe, Gesundung und Reformen) zu einer neuen Politik zu kommen. Anstelle von “Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“ sollte sich ab jetzt der Staat mehr um die öffentliche Wohlfahrt kümmern. Hoover hatte keine Chance gegen Roosevelt, da in seiner Politik die Weltwirtschaftskrise lediglich als vorübergehende Depression angesehen wurde und er strikt am Laisser-Faire-Prinzip, das die Krise ständig verschärfte, festhielt. Der „New Deal“ bewirkte einiges Positive in den USA (mit einer erdrutschartigen Wiederwahl Roosevelts 1936), aber nichts in Europa, wo unter dem Eindruck der Krise eine allgemeine Orientierung nach rechts erfolgte und sich in der Mehrzahl der europäischen Länder autoritäre Staatsformen etablierten, deren Anführer von Demokratie, Humanismus und Pazifismus nichts hielten und zunehmende Bereitschaft zeigten, Probleme mit Gewalt zu lösen.

Insbesondere Deutschland trat nach 1933 ins Rampenlicht, wo nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler eine Politik der Revision des Versailler Vertrags, der Wiederaufrüstung, der Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung und der Aggression gegen Nachbarstaaten betrieben wurde. Obwohl Präsident Roosevelt sehr deutschlandkritisch eingestellt war und in seiner berühmten Quarantäne-Rede von 1937 die Isolation Japans, Italiens und Deutschlands forderte, interessierte das die wenigsten Amerikaner. Nach den großen Opfern im Ersten Weltkrieg war keinerlei Bereitschaft mehr vorhanden für außeramerikanische Angelegenheiten noch einmal einen Blutzoll zu entrichten. Politikern mit Durchblick, zu denen auch Roosevelt gehörte, erschien das bedenklich, denn die Eskalation in Europa und Japan konnte sehr schnell gravierende Auswirkungen auch auf die USA haben. Es war ihm äußerst wichtig, die isolationistische Einstellung in Amerika abzubauen und insbesondere die Beziehungen zu den Briten, dem ungeliebten Brudervolk, so zu verbessern, dass man dem Faschismus gemeinsam entgegentreten könnte, notfalls auch in einem Krieg.

Der Hotdog, durch den der Krieg gewonnen wurde

Einen guten Anlass die öffentliche Meinung in Bezug auf Europa zu ändern, bot im Sommer 1939 ein offizieller Staatsbesuch von König George VI. und „Queen Mom“ in Kanada. Roosevelt lud das Königspaar zu einem informellen Abstecher von diesem Besuch in die USA ein, mit Staatsdinner im Weißen Haus, Kranzniederlegung auf dem Heldenfriedhof Arlington und einem privaten Picknick in Springwood. Noch nie hatte ein britischer Monarch amerikanischen Boden betreten und die Monarchie war eine den Amerikanern stets verhasste Regierungsform. Roosevelt wollte durch den Besuch die Sympathie der Amerikaner für die Briten wecken und das britische Herrscherpaar nicht als abgehobene Snobs, sondern als Freunde Amerikas präsentieren, die sich auch nicht zu schade waren, den american way of life zu goutieren. So war die musikalische Darbietung beim offiziellen Dinner in Washington von Westernmusik geprägt, aber das Erstaunlichste war die geschickte Inszenierung des Picknicks im „cottage“ des Präsidenten.

Roosevelt holte das Königspaar mit dem eigenen Wagen vom Bahnhof ab (Queen Mum soll ob seines Fahrstils entsetzt gewesen sein), ging mit dem König gemeinsam schwimmen und veranstaltete am nächsten Tag ein Picknick im Garten von Springwood unter Teilnahme des gesamten Bedienungspersonals. Gereicht wurden Kleinigkeiten, unter anderem Hotdogs, von denen die Königin nicht einmal wusste, wie man sie essen sollte. Trotz der Empfehlung des Präsidenten „einfach abbeißen und runterschlucken“ aß sie sie mit Messer und Gabel, während ihr Gatte die Finger benutzte und das Ganze mit einem Bier herunterspülte. In der Presse stand am nächsten Tag: „KING TRIES HOT DOG AND ASKS FOR MORE“ und die Reaktion der Öffentlichkeit war genauso positiv, wie es sich der Präsident vorgestellt hatte. Dass die Public Relation Aktion von Roosevelt minutiös geplant war, geht aus den Dokumenten hervor, die wir in Springwood zu sehen bekommen. Sie trug auch gute Früchte, denn als Großbritannien wenige Monate später den Nazis den Krieg erklärte, konnte es sich der amerikanischen Unterstützung sicher sein, wogegen sich auch in der Öffentlichkeit kein Protest mehr erhob.

Von 1939 bis 1941 lieferten die USA Kriegsgerät an die Briten und beteiligten sich an der diplomatischen Schlacht gegen den NS. Schritt für Schritt involvierten sie sich aber auch mehr im expandierenden Weltkrieg und waren nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor schließlich Alliierte der Briten und Sowjets im Kampf gegen den Faschismus. Und wieder wurde amerikanisches Blut vergossen, diesmal auf zwei Kontinenten, Ostasien und ganz Europa, doch ging es dieses Mal um ein viel höheres Ziel: Die Bekämpfung einer verbrecherischen, Menschen verachtenden Ideologie, die im Falle ihres Sieges alles an Zivilisation vernichtet hätte, was sich die Menschheit in den letzten 2000 Jahren angeeignet hatte. Auch in den Endkampf des Krieges ging Amerika mit Präsident F.D. Roosevelt, obwohl dieser bereits gesundheitlich schwer angeschlagen war. Als wichtigste Ziele seiner vierten Amtszeit sah er den Sieg über den NS, die Gründung einer internationalen Friedensinstitution (UNO) und den Aufbau einer prosperierenden Nachkriegswirtschaft. Der „tired old man“, wie ihn sein erfolgloser Gegenkandidat bezeichnet hatte, arbeitete noch auf den Konferenzen von Teheran und Jalta am Konzept einer Nachkriegs-Weltordnung mit, doch das Kriegsende erlebte er nicht mehr. Am 12.4.1945 starb der Präsident mit der längsten Amtszeit im „Little White House“ in Warm Springs, dem Feriendomizil der US-Präsidenten. In Springwood wurde er (und später auch seine Frau Eleanor) beigesetzt und wir beenden diesen beeindruckenden Ausflug in die Weltgeschichte an seinem Grab.

Überwältigt von all dem Gesehenen und Gehörten mit seinem großen Bezug auf das Leben, das wir als Nachkriegsgeneration geführt haben, beschließen wir, trotz der noch bevorstehenden langen Rückreise den Tag in Cold Spring ausklingen zu lassen, einem malerischen, am Ufer des Hudson gelegenen Örtchen. Hier finden wir ein entzückendes Cottage, das höchst akzeptables Essen anbietet und können in einem anregenden Gespräch mit unserem Freund, der uns diesen Ausflug nach Upstate New York ermöglicht hat, diesen wunderbaren Tag resümieren.

30 Abreise

Der Abreisetag ist jedes Jahr der durchgeplanteste und strukturierteste unserer ganzen Zeit in New York. Da der Flug von JFK nach Berlin erst nach 17 Uhr startet, steht jedes Mal ein guter Dreivierteltag zur Verfügung, den es sinnvoll zu füllen gilt. Er soll stressfrei ablaufen, aber dennoch irgend etwas Schönes bringen. In den Vorjahren gönnte ich mir jeweils einen abschließenden Museumsbesuch um von meinem aktuellen Lieblingskunstwerk Abschied zu nehmen. Damit erntete ich aber kein Wohlwollen meiner Frau, die argwöhnte, ich könnte ausgerechnet am letzten Tag verschütt gehen und damit die Heimreise vermasseln. Deshalb fassen wir diesmal den Entschluss in Queens zu bleiben, von wo aus es nur ein Katzensprung zum Flughafen ist. Auch Verkehrsstaus schrecken da nicht, da von Jackson Heights die Metrolinie E bis Sutphin Boulevard fährt, dem Umsteigebahnhof zum JFK Air Train, mit dem man in Minutenschnelle jedes gewünschte Terminal des JFK Airports erreicht. Der neue super-entspannte Abreisetag beginnt mit einem ausgiebigem Frühstück und dem Abschiedsbesuch verschiedener Freunde und führt nach Kofferpacken, letzten Einkäufen und einem sehr leckeren Abschiedsmahl bei einem der in Queens besonders zahlreichen Chinesen zum endgültigen Entschluss zum Aufbruch. Es muss nur noch das Eintreffen der Enkelin von der Schule und der tränenreiche Abschied mit ihr abgewartet werden. Trotz Online-Check-In und der geschilderten einfachen Verbindung zum Flughafen wird einem jedes Jahr ein früheres Erscheinen auf dem Flughafen nahe gelegt. Heuer sind es drei Stunden, deshalb ist jetzt die sofortige Abfahrt mit dem E-Train auf der Station Jackson Heights/Roosevelt Avenue angesagt.

Nach wenigen Minuten haben wir den Umsteigebahnhof zum Air Train nach JFK erreicht. Dieser ist ein neuartiges, vollautomatisches Schienenverkehrsmittel mit Linearantrieb, bei dem der Zug über Magnete vorwärts gezogen oder gebremst wird. Anders als bei einer reinen Magnetbahn rollt der Zug noch auf Rädern, die aber nicht mehr angetrieben und gebremst werden müssen. Da der Air Train als Elevated Railway ausgelegt ist und die Züge dem New Yorker Klima voll ausgestzt sind, bietet diese innovative Technik mehr Sicherheit bei Eis und Schnee. Auch die Wegrationalisierung des Fahrpersonals hat man bei dieser „Innovation“ gleich mit durchgezogen, ein Umstand, der bei uns leichten Grusel auslöst. Aber wir genießen schließlich doch noch das angenehme Gefühl des ruckfreien, fast lautlosen Fahrens. Der Air Train hat zwei Anschlussbahnhöfe zum Zug- und Subwayverkehr und besteht ansonsten aus einer Ringlinie, die die sechs Passagierterminals miteinander verbindet. Jedes Terminal ist ein kompletter Flughafen mit Bahn- und Busanschluss, Parkhäusern, Check-In-Schaltern, Shops und Wartebereich. JFK ist gewissermaßen eine Zusammenballung von acht Flughäfen! (Zwei davon sind Frachtterminals ohne Haltestelle des Air Train). Die riesige Ausdehnung des Flughafenareals wird dadurch ermöglicht, dass es sich im unbewohnten, von Wasserläufen durchzogenen Marschland an der Jamaica Bay befindet.

Obwohl der hochnotpeinliche Immigration-Check bei der Ausreise entfällt, ist einem doch jedes Mal etwas bange, welche brandneue Prozedur der Sicherheitskontrolle aktuell gerade praktiziert wird. Stressig ist das Ganze sowieso, weil sich endlose Schlangen an den Gepäckbändern bilden und man immer mehr Plastikwannen mit Dingen füllen muss, die man nicht am Körper tragen darf. Da ist die Frage, ob man die Schuhe ausziehen muss, nur weil es vor jetzt fast 19 Jahren den verrückten „Schuhbomber“ Richard Reid gegeben hat, der nach seiner Verurteilung nun für den Rest seines Lebens im Knast in Colorado schmort und/oder muss man den Gürtel herausziehen und auf Socken und mit rutschender Hose unter Verlust der Menschenwürde am Kontrollpersonal vorbei defilieren? Wir profitierten dieses Mal von der Neuregelung, die über 70jährigen diese demütigende Prozedur erspart. Aber dann das hastige Wiederanziehen, bedrängt von beständig nachrückenden Mitreisenden und der Furcht Portemonnaie, Papiere, Laptop und Smartphone in der Wanne liegen zu lassen. Im Glücksgefühl alles wieder verstaut zu haben, vergesse ich meinen Koffer am Gepäckband, merke das aber gerade noch rechtzeitig, bevor der Alarm losheult und das herrenlose Gepäckstück gesprengt wird.

Nach alledem ist es geradezu erholsam im ungemütlichen Wartebereich, eingeklemmt vom voluminösen „Handgepäck“ der Mitreisenden, am Ipad ein wenig die Reise aufzuarbeiten – doch das free Wifi des Flughafens funktioniert nicht (Auf keiner unserer NY-Reisen hat es je funktioniert!). Aus dem Internet lade ich bei Boingo eine Stunde Internet für 5 $ herunter, nicht wissend, dass ich damit ein Abonnement abgeschlossen habe, was mir dummer Weise erst nach einigen Monaten regelmäßiger Abbuchung vom Konto auffällt. Nach dem problemlosen und raschen Einsteigen ins Flugzeug ist nun die letzte Hürde erreicht: Unsere Maschine muss inmitten von hunderten ebenfalls abfliegenden Flugzeugen eine Startposition ergattern, ohne die das Einfahren auf die Rollbahn unmöglich ist. In solch einer Warteposition haben wir oft schon Stunden zugebracht.

Dennoch muss ich sagen, dass für Menschen mit Flugangst, wie ich einer bin, durch die vielen New York Flüge ein Gewöhnungseffekt eingetreten ist, der mir nur noch Fernost- oder Australienflüge als gefährlich vorkommen lässt – aber da will ich sowieso nicht hin. Meine Frau bewältigt das Problem viel effizienter: Sie konsumiert acht Stunden lang das komplette Unterhaltungsprogramm von Delta Airlines und schläft dabei immer wieder ein. Nur ein tiefes Tal müssen wir noch gemeinsam durchschreiten, nämlich am nächsten Morgen das Rückflug-Frühstück mit gefrorenen Brötchen und allerlei in Plastik eingeschweißtem Zeug, gegen das sich vermutlich nur Amerikaner nicht wehren. Diesmal ist es definitiv die schlechteste Mahlzeit (obwohl bereits dieser Begriff völlig daneben liegt), die wir je an Bord eines Fliegers eingenommen haben.

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