Die Häuser der Bertinistraße

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1 Die Bertinistraße

Im Norden Potsdams, hinter dem Neuen Garten und der sogenannten Meierei, direkt am Jungfernsee, liegt die idyllische Bertinistraße mit ihren großen Grundstücken und repräsentativen Villen. Im durch die Architektur des preußischen Königshauses geprägten Potsdam ist sie ein bedeutendes Beispiel rein bürgerlicher Kultur. Zwischen 1835 und 1945 lebten hier Vertreter des Großbürgertums mit höchst interessanten Biographien wie der Zuckerfabrikant Jacobs, der Großgastronom Borchardt, die Bankiers Mendelssohn, Gutmann, Hagen und der Rüstungsindustrielle H. C. Starck in aufwändig gestalteten, teilweise von namhaften Künstlern entworfenen Häusern.

Winzer

Im 18. und frühen 19. Jahrhundert lag die Straße noch weit außerhalb der Stadt und wurde landwirtschaftlich durch Weinanbau sowie durch eine Bleiche und eine Tongrube genutzt. Auf den sanften Hängen, die sich vom Pfingstberg bis zum Jungfernsee herabziehen, waren Weinberge angelegt, in denen so genannte Weinmeister- oder Weinbergshäuser standen, die den Weinbergsbesitzern, die zumeist in Potsdam lebten, zur Ausübung ihres Gewerbes dienten. Die Straßennamen „Große und Kleine Weinmeisterstraße“ in der Nähe weisen noch auf diese Nutzung hin.

Der Namensgeber der Straße ist Giovanni Alberto Bertini aus Lucca, der die Tongrube und einen Weinberg am Ende der Straße von seiner Frau erbte und 1799 auf dem Gelände ein weithin bekanntes Café eröffnete, das wirtschaftlich ein großer Erfolg war und viele Potsdamer Besucher anzog. Für die am Neuen Garten und dem Jungfernsee entlang führende Straße zu seinem Etablissement bürgerte sich nun die Bezeichnung „Weg nach Bertini“ ein, aus dem später „Bertinistraße“ wurde.

Großbürger

Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, lernte das Potsdamer Großbürgertum die hervorragende Lage der Weinberge am Jungfernsee zu schätzen. Der Pionier des großbürgerlichen Wohnens inmitten der Weinberge war der Potsdamer Zuckerfabrikant Jacobs, der das im wirtschaftlichen Niedergang befindliche „Bertinische Etablissement“ kaufte und sich 1835 an dessen Stelle von dem renommierten Architekten Ludwig Persius eine florentinische Turmvilla errichten ließ. Diese Villa, die dem wohlhabenden Unternehmer als Sommersitz diente und deren Garten vom Königlichen Gartendirektor Peter Joseph Lenné entworfen wurde, war das erste Prachtgebäude der Straße.

Nach und nach ließen sich weitere Bürger gehobenen Standes (Diplomaten, hohe Militärs) bescheidene Sommersitze auf großen Grundstücken inmitten der Weinberge errichten, nur noch zwei Landwirte betrieben weiterhin Weinanbau. Die gesamte 1,3 Km lange Straße wurde auf nur 11 Hausnummern verteilt und die Uferzone (bis auf eine Ausnahme) frei gelassen. Die Nummer 1 lag am Neuen Garten, während die „Villa Jacobs“ die Nummer 11 erhielt.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts begannen die wohlhabenden Besitzer, ihre bescheidenen Sommersitze in repräsentativere, im Stil des Historismus gehaltene Anwesen umzuwandeln. Gegen Ende des Jahrhunderts setzte ein starker Zustrom von großbürgerlichen Berlinern ein, die die hervorragende Lage am Jungfernsee erkannten und sich durch Teilung von Grundstücken ein eigenes Stück Land am See sicherten. Ab 1881 existieren 17 Hausnummern in der Straße, bis auf zwei Ausnahmen waren die Grundstücke aber immer noch sehr groß. Die Neubauten wurden, anders als noch zu Jacobs‘ Zeiten, von Baufirmen und Baumeistern, ohne Hinzuziehung renommierter Architekten, errichtet.

Villen

Die Neubürger waren allesamt vermögend, ein großer Teil von ihnen waren Bankiers (Heimann, Burghalter, Heller, Mendelssohn, Gutmann, Hagen und Kann), so dass sich bei den Potsdamern die Bezeichnung „Bankiersstraße“ für die Bertinistraße einbürgerte. Angesichts der jetzt gut ausgebauten Häuser entwickelte sich bei vielen Besitzern der Wunsch, ganzjährig in der schönen Straße zu wohnen. Dies brachte eine weitere Ausbauphase im beginnenden 20. Jahrhundert, in der hochherrschaftliche Villen mit Wirtschaftsgebäuden, Bootshäusern, Gewächshäusern etc. entstanden, nun teilweise entworfen von bekannten Architekten. Sie prägen das Gesicht der Bertinistraße bis auf den heutigen Tag.

Dem Großbürgertum des Deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik gehörte eine große Anzahl jüdischer Einwohner an. Durch die Stein-Hardenbergschen Reformen, die den Juden die Staatsbürgerschaft und Gewerbefreiheit gebracht hatten, war es ihnen gelungen, sich im Geschäftsleben des Deutschen Reiches erfolgreich zu integrieren. Im Finanzsektor, aber auch im unternehmerischen und künstlerischen Bereich wurden sie zur Avantgarde des Bürgertums. Es verwundert nicht, dass unter den neuen Bewohnern der jetzigen Nobel-Adresse Bertinistraße ein hoher Anteil von Juden war, die jedoch vielfach auf ihr Judentum wenig Wert legten und teilweise zum Christentum übergetreten waren oder der Religionsausübung gleichgültig gegenüberstanden.

Nationalsozialismus

Die menschenverachtende NS-Ideologie, die nach 1933 Staatsdoktrin wurde, ordnete diese hoch gebildeten, kultivierten Menschen einer „minderwertigen“ Rasse zu und lenkte den Neid der weniger Besitzenden auf den Lebensstil des jüdischen Großbürgertums. Gleich nach Hitlers „Machtergreifung“ ging man daran, die im NS-Programm verankerten Maßnahmen gegen Juden auch in der Bertinistraße in die Tat umzusetzen. Man grenzte die hier ansässigen Großbürger aus dem gesellschaftlichen und geschäftlichen Leben aus, schikanierte sie, inhaftierte sie in Konzentrationslagern, entrechtete und enteignete sie und setzte schließlich ein noch nie da gewesenes Mordprogramm in Gang, um die im Einflussbereich der Nazis Verbliebenen endgültig zu vernichten.

Die meisten der in der Bertinistraße wohnenden Juden, allesamt weltoffene, informierte Bürger, erkannten die Tragweite der von den Nazis beabsichtigten Maßnahmen schon früh und entzogen sich der Vernichtung rechtzeitig durch Emigration. Ihr Besitz fiel dabei „selbstverständlich“ an den Staat. Nie zuvor in der deutschen Geschichte hatte es eine so einschneidende Umwälzung der Besitzverhältnisse gegeben. Die in der Bertinistraße gelegenen jüdischen Grundstücke gingen alle an NS-Organisationen, bis auf einen Fall, wo der jüdische Besitzer Hagen sein Besitztum der protestantischen Kirche zur Nutzung überlassen hatte.

DDR

Nach der Beendigung der NS-Herrschaft durch den Sieg der Alliierten über Deutschland konnte das getane Unrecht nicht überall wieder gut gemacht werden, denn Potsdam gehörte nun zur sowjetischen Besatzungszone, wo man nicht daran dachte, das jüdische Großbürgertum zu entschädigen. Im Gegenteil, auch alle nicht jüdischen Großbürger, die man als Adlige, Grundbesitzer und Militaristen diffamierte, wurden nun zusätzlich enteignet, später folgten auch die Gewerbetreibenden. Die bald auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone gegründete DDR setzte diese ideologisch begründete Politik fort. Ein Vergleich der Einträge im Adressbuch für die Bertinistraße vor dem Krieg und 1950 zeigt, dass kein einziger früherer Eigentümer nach dem Krieg noch Bewohner Potsdams war. Die Gebäude erfuhren eine „sozialistische Nutzung“ als Kinderkrankenhaus, Studentenwohnheim, Erholungsheim, Altenheim oder Sitz der Datenverarbeitung. Die Umnutzung der ehemals großbürgerlichen Villen für solche Zwecke erwies sich als wenig sinnvoll. Sie wurden ohne notwendige Unterhaltung einfach „heruntergewohnt“, durch unpassende Umbauten verschandelt oder aufgrund mangelnder Nutzbarkeit abgerissen.

Villa Hagen1

Wende

Der Untergang der DDR 1989 brachte zunächst nur geringen Wandel: Alteigentümer konnten nur dann in ihre Rechte wieder eingesetzt werden, wenn sie aus rassischen Gründen enteignet worden waren. Die Enteignungen durch die UdSSR zwischen 1945 und 1949 blieben gültig. Bei Enteignungen aus DDR-Zeiten wurde lange darum gerungen ob die generelle Rückgabe an die Alteigentümer oder die bloße Entschädigung das bessere Prinzip sei. Rechtsstreitigkeiten zogen sich über viele Jahre hin und sorgten für das wenig befriedigende Erscheinungsbild der Straße während des ersten Jahrzehnts nach der Wende. Ab 2000 waren die Eigentumsverhältnisse dann endgültig geklärt und nun setzte eine rege Renovierungs- und Neubautätigkeit ein, die die Bertinistraße wieder zu einer der schönsten im Berlin-Potsdamer Kulturerbe machte.

Die Geschichte der Häuser und ihrer wichtigsten Bewohner soll hier, abseits jeder Chronologie, in der Reihenfolge ihrer Lage nach (beginnend hinter der „Meierei“ bei der Hausnummer 1) erzählt werden. Die Gebäude werden dabei kurz vorgestellt und die wichtigsten Lebensaspekte ihrer Besitzer geschildert. Die letzte Villa der Straße ist das geschichtsträchtigste und kunsthistorisch bedeutendste Objekt. Es wird deshalb in der gesonderten Publikation „Die Zuckerburg am Jungfernsee“ ausführlich behandelt und die historische Entwicklung des Geländes von der Töpferkute bis zum Neuaufbau der Villa Jacobs erzählt. Die Biographien aller, die an der Entstehung dieses Potsdamer Kleinods beteilgt waren, spielen dabei eine wichtige Rolle.

2 Ein Bankier mit berühmtem Namen

„Casa Bartholdy“

Das erste historische Bauensemble der Bertinistraße, gegenüber der Meierei des Neuen Gartens, nimmt heute die Hausnummern 1 – 5 ein und besteht aus einem Wirtschaftstrakt (ehemaliges Gärtnerhaus und Stall), der eigentlichen „Casa Bartholdy“ und einem unscheinbaren Waschhaus an der rechten Grundstücksgrenze. Schon um 1800 befand sich hier ein schlichtes, einstöckiges Landhaus mit sieben Fensterachsen.

Im Adressverzeichnis von 1869 sind auf dem Grundstück des Weinbergsbesitzers W. Wils die Hausnummern 1 – 3 aufgeführt, was auf drei einzelne Häuser hinweist. Die Nr. 1 bewohnte ein Premier-Lieutenant a.D., der Eigentümer Wils lebte im oben erwähnten Landhaus, Nr. 2 und ein Weinmeister war der Bewohner der Hausnummer 3. Aus dieser Konstellation der Bewohner wird die Entwicklung der Bertinistraße deutlich: Aus den ursprünglich von Weinbauern genutzten Häusern wurden allmählich Residenzen wohlhabender Bürger. (Die Übereinstimmung mit der heutigen baulichen Situation“ ist offensichtlich: Nr. 1 ist das spätere Gärtnerhaus, Nr. 2 die Villa, Nr. 3 das Waschhaus).

Der Wandel in der Bevölkerungsstruktur wird in den folgenden Jahren noch besser erkenntlich, denn die Grundstücke wurde jetzt mit mehreren unnummerierten Häusern, wahrscheinlich Holzhäusern, bebaut. Hohe Militärs oder Verwaltungsbeamte wohnten darin, zumeist im Sommer. 1881 ging das ganze Gelände, jetzt schon unter den heutigen Hausnummern 1 – 5, in den Besitz des Lotterieeinnehmers Hiller über, der bereits seit 1873 dort wohnte. Nur ein Jahr später (wahrscheinlich nach dem Tod Hillers) war das Grundstück im Besitz des vormaligen Verwalters Albert Ludwig, den das Adressbuch jetzt als Rentier aufführt. Mit Rentier bezeichnete man im damaligen Sprachgebrauch eine Person, die von regelmäßigen Zahlungen aus angelegtem Kapital oder der Verpachtung von Land lebte. Dieser Rentier Albert Ludwig ließ das alte Landhaus durch den Potsdamer Baumeister Petzholz stark vergrößern. Es erreichte mit einer Breite von 12 Fensterachsen fast schon die Dimensionen der heutigen Villa. Der äußere Eindruck blieb allerdings erhalten: schlicht, einstöckig, mit Kammern unter dem Walmdach.

Mendelssohn Bartholdy

Für die Sommermonate vermietete Albert Ludwig das Anwesen an die Britischen Botschafter in Berlin, zuerst Sir Malet, dann Sir Frank Lassel. 1899 entdeckte schließlich der Berliner Unternehmer und Bankier Otto Mendelssohn Bartholdy als Mieter die Schönheit des Platzes und bemühte sich um den Ankauf, der dann 1903 endlich vollzogen war. Mendelssohn (* 1868 Berlin, † 1949 Basel)), Ur-Ur-Enkel des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn, war der Sohn des Chemikers Paul Mendelssohn Bartholdy und Enkel des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy. Im Alter von 25 Jahren heiratete Otto in Baden-Baden seine zwei Jahre jüngere Cousine Cécile (1870–1943), geborene Mendelssohn Bartholdy. Dieser Ehe entstammten zwei Kinder, Hugo Mendelssohn Bartholdy (1894) und die Tochter Cécile Mendelssohn Bartholdy, (1898), beide in Berlin geboren.

Die Mendelssohn Bartholdys waren der protestantische Zweig dieser großen und bedeutenden jüdischen Familie. Schon 1822 war Abraham, der Sohn von Moses Mendelssohn, zum Protestantismus übergetreten und hatte sich dabei den christlichen Beinamen Bartholdy zugelegt, inspiriert durch seinen Schwager Jakob Salomon, der denselben Namen nach seiner Taufe seinem Namen hinzugefügt hatte. Jacob Salomon Bartholdy war damals preußischer Generalkonsul in Rom und lebte im gemieteten römischen Palazzo Zuccari, der während seines Aufenthaltes „Casa Bartholdy“ genannt wurde und den junge deutsche Maler, die sich zu Studienzwecken in Rom aufhielten, mit Fresken ausmalten. Nach Salomon Bartholdys frühem Tod ließen die Eigentümer des Palastes die „Fresken der Casa Bartholdy“ abnehmen und verkauften sie der Alten Nationalgalerie, wo sie bis heute als Beispiel für den Malstil der „Nazarener“ ausgestellt sind. Durch die Namensgebung „Casa Bartholdy“ für sein Potsdamer Landhaus wollte Otto Mendelssohn Bartholdy ganz gewiss auf den römischen Palazzo anspielen.

Er war ein einflussreicher Bankier, erst als Prokurist, später als Teilhaber der Berliner Privatbank Robert Warschauer & Co. Als dieses Bankhaus 1905 von der Darmstädter Bank übernommen und Mendelssohn Bartholdy ausbezahlt wurde, konnte er von dem Kapital gut als Rentier leben. Bereits 1899 hatte er den Entschluss gefasst, sich eine Sommervilla in Potsdam zu kaufen.

Das Landhaus wird zur Villa

Gärtnerhaus Mendelssohn 2006
Gärtnerhaus Mendelssohn 2006

Im folgenden Jahr erfolgten schon die ersten Umbauten, die aus dem schlichten Landhaus eine repräsentative Villa machen sollten. Das Haus Nr. 1 wurde zum Gärtnerwohnhaus ausgebaut, mit Turm und offener Loggia zum Jungfernsee. Dahinter entstand ein ausgedehntes Stallgebäude sowie ein Waschhaus rechts vom Landhaus. Die Arbeiten wurden vom Baumeister Reimarus Hetzel ausgeführt.

Villa Mendelssohn1
Villa Mendelssohn 20211

Aber diese Umbauten änderten noch nichts am schlichten Eindruck des Landhauses. Deshalb wurden 1906 die Thüringischen Saalecker Werkstätten, deren künstlerischer Leiter Paul Schulze-Naumburg war, beauftragt, das Landhaus zu verschönern. Schulze-Naumburg, der in diesen Jahren in Berlin und Potsdam mehrere Bauten für das regierende Kaiserhaus ausführte (u.a. Schloss Cecilienhof) fasste die 5 mittleren Achsen des Gebäudes mit einem hohen Giebel zusammen und setzte einen halbrunden verglasten Gartensalon mit darüber liegendem Balkon davor. Auf der linken Seite entstand ein die Tiefe des Hauses durchziehender Festsaal, auf der anderen Seite wurde ein hölzerner, verglaster Wintergarten angefügt. Erst jetzt hatte das Anwesen das für Mendelssohns gesellschaftliche Stellung notwendige Erscheinungsbild, obwohl es im Innern nach wie vor unaufwendig und schlicht ausgestaltet war.

Grundriss Villa Mendelssohn
Grundriss Villa Mendelssohn

Nobilitierung

1906 wurde Mendelssohn auf eigenes Betreiben geadelt und trug von nun an den Namen Otto von Mendelssohn Bartholdy. Diese Nobilitierung wurde in der Familie Mendelssohn kritisch gesehen und für einen Bürger aus angesehener, jüdisch-stämmiger Familie als unpassend empfunden. Er jedoch war der Meinung, dass er ohne Adelstitel in der konservativ-monarchistisch geprägten Potsdamer Gesellschaft ohne Chance war, integriert zu werden. In seinen eigenen, etwas umständlichen Worten hörte sich das so an:

„Die Eigenart des Potsdamer Lebens, von welchem, da wir uns nun einmal hier heimisch fühlen, sich ganz zurückzuziehen, ich im Interesse meiner Frau und der Zukunft meiner Kinder nicht für richtig halten kann, bringt es mit sich, daß sich unser Verkehr fast ausschließlich mit Officieren und Beamten abspielt; diese haben mehr oder weniger Vorurteile, welche mir für meine nicht mehr vorhandenen Ambitionen stets gleichgültig sind, deren Beseitigung aber Jemanden, welcher, wie z.B. auch meine Frau, hierüber anders denkt, wünschenswerth erscheinen kann. Jedenfalls ist, m.E. gewiß zu Unrecht, Thatsache, daß wie die Verhältnisse in Deutschland und speciell bei uns liegen, gewisse Kreise und Berufszweige, welche ich persönlich nun allerdings nicht ergreifen würde, für Bürgerliche nur mit großen Schwierigkeiten zugänglich sind.“

Morten Reitmayer: Bankiers Im Kaiserreich: Sozialprofil und Habitus der deutschen Hochfinanz. Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 156.

Der Ausbau des Hauses und die Nobilitierung deuten bereits auf seinen späteren Entschluss hin, seinen Hauptwohnsitz ganz nach Potsdam zu verlegen. In den Jahren bis zum ersten Weltkrieg reichte von Mendelssohn mehrfach Anträge für Erweiterungsbauten ein, die aber von der Baubehörde abgelehnt wurden. Dem Bauherrn ging es um eine repräsentative Zufahrt auf sein Gelände von der Seite der Höhenstraße her. Das Portal der Zufahrt sollte durch drei Gebäude umgeben werden, die Garage, Stall und neue Bedienstetenwohnungen enthalten sollten. Mit dem Ende des Kaiserreichs und der Weltwirtschaftskrise wurden diese Baupläne obsolet.

Bis dahin ging aber erst einmal seine berufliche Karriere voran. Er wurde 1908 Aufsichtsratsmitglied bei Agfa, einer 1867 von seinem Vater gegründeten Fabrik zur Herstellung von Anilin und Anilinfarben. Ab 1926 (nach dem Zusammenschluss von Agfa mit Bayer und BASF) saß er auch im Aufsichtsrat der I.G. Farben. Zwischen 1919 und 1925 betrieb er zusätzlich eine kleine eigene Privatbank.

Es war für ihn eine Selbstverständlichkeit, sich auch ehrenamtlich und kulturell zu engagieren. So gehörte er zum 31-köpfigen Ausschuss der Berliner „Gesellschaft zur Wissenschaft des Judentums“, die eine Gesamtausgabe der Schriften des Philosophen und Aufklärers Moses Mendelssohn herausgab. Außer seinem Bruder Paul Mendelssohn Bartholdy Jr. und anderen Angehörigen der Familien Mendelssohn Bartholdy und Hensel gehörten auch Adolf von Harnack, Gründer und Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (heute Max-Planck-Gesellschaft), der Philosoph Ernst Cassirer und der Historiker Heinrich Finke dem Ausschuss an.

Bewohner

1925 erscheint im Adressbuch von Potsdam als Mitbewohner der Villa Mendelssohn Bartholdy der Bankier Benoit Oppenheim (*1876 Berlin – † 1934 Potsdam), verheiratet mit Cécile von Mendelssohn Bartholdy, der Tochter Otto von Mendelssohns. Er war Besitzer einer Privatbank und gehörte zu Berlins Multimillionären, 1913 verfügte er über ein Vermögen von 7,5 Mill. Mark. Er war auch ein namhafter Kunstsammler, der über eine spektakuläre Sammlung mittelalterlicher und spätmittelalterlicher Kunst aus Deutschland, Flandern und Frankreich verfügte. In seinen Berliner Anwesen waren überall Kunstwerke aufgestellt. Selbst im Billardzimmer waren christliche Madonnen zu finden. Wahrscheinlich inflationsbedingt trennte sich Oppenheim von vielen Stücken. Sie bilden heute den Grundstock der berühmten Sammlung von Justizrat Bollert im eigens dafür neu erbauten Flügel des Bayerischen Nationalmuseums. Der Grund für Oppenheims Umzug in die Villa Mendelssohn dürfte ebenfalls in der Inflation und der daraus resultierenden Krise des Bankwesens liegen.

Gillis Grafström

Die Ehe von Benoit Oppenheim mit Cécile Mendelssohn war unglücklich und Cécile ließ sich 1925 scheiden. Anschließend ging sie eine Liaison mit dem berühmten schwedischen Eiskunstläufer Gillis Grafström (* 1893 Stockholm † 1938 Potsdam) ein, der zwischen 1920 und 1932 dreimal Olympiasieger und einmal Zweiter der Olympischen Winterspiele im Eiskunstlaufen war. Seine Sportkarriere war im Vergleich zu heutigen erstaunlich:

Bei seinen ersten Olympischen Spielen in Antwerpen 1920 brach ihm eine Schlittschuhkufe, die man vor Ort im Stadion nicht ersetzen konnte. Daraufhin eilte er in die Stadt, kaufte sich ein Paar altmodische Schlittschuhe und gewann trotzdem. 1925 zog er nach Potsdam und gehörte zu den berühmtesten Studenten der Technischen Hochschule Berlin, wo er Architektur studierte. Das Eislauftraining absolvierte in Potsdam auf dem Bornstedter See, wenn der zugefroren war, oder in Berlin auf der Kunsteisbahn im Volkspark Friedrichshain. Lokale Zeitungen berichteten 1929: „Plötzlich sah man einen jungen Mann im unauffälligen Dress auf dem See laufen. Seine Füße schienen auf dem Eis zu schweben, selbst die schwierigsten Pirouetten vollführte er mit einer Eleganz, die kaum zu beschreiben ist.“ Dem Schweden gebührt der Verdienst, das Eislaufen zu einer Kunstform erhoben zu haben. Den Olympiasieg 1928 errang er für Schweden, aber als Potsdamer. Bei seinen letzten Olympischen Spielen 1932 in Lake Placid kollidierte er auf dem Eis mit einem Fotografen und wurde dennoch Zweiter hinter Karl Schäfer.

Grafström arbeitete nach seinem Studium an der Technischen Hochschule Berlin als Architekt. Er sammelte Grafiken, Gemälde und Skulpturen zum Thema Eislaufen und wirkte zudem als Schriftsteller, Maler und Graphiker. Am 9. Februar 1938 heiratete er endlich Cécile, geb. von Mendelssohn Bartholdy, geschiedene Oppenheim (1898-1995), Tochter des Bankiers Otto von Mendelssohn Bartholdy. Doch nur zwei Monate später starb er, erst 44jährig, an einer Blutvergiftung. Seine Witwe, die mit ihrem Vater noch bis 1943 die Villa Mendelssohn Bartoldy bewohnte, führte Grafströms Sammlung zum Thema Eislaufen fort. Heute befindet sie sich im World Figure Skating Museum (Welteiskunstlaufmuseum) in Colorado Springs in den USA.

NS

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 blieb Otto von Mendelssohn Bartholdy in Potsdam wohnen, wegen seiner als arisch geltenden Ehefrau Cécile glaubte er sich vor Verfolgung geschützt. Wie auch die anderen jüdischen Bewohner der Bertinistraße hoffte er außerdem auf einen schnellen Zusammenbruch des barbarischen Systems. Dieser trat jedoch nicht ein, vielmehr bekam er jetzt die konsequente Umsetzung des antisemitischen Programms der NSDAP zu spüren.

1938 wurde er durch die Folgeverordnungen der Nürnberger Gesetze gezwungen, sein Aufsichtsratsmandat als Hauptaktionär der I.G. Farben niederzulegen. Als seine Ehefrau 1943 verstarb, musste er in das Gärtnerhaus seiner Villa umziehen und war nun als Jude von der Deportation bedroht. Tatsächlich wurde er auch verhaftet, jedoch auf Intervention des Potsdamer Regierungspräsidenten Graf v. Bismarck-Schönhausen (Enkel von Otto v. Bismarck) wieder freigelassen. (Dieser wurde ein Jahr später im Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 selbst verhaftet, überlebte aber). Die Villa wurde im Zuge der Durchführung der Rassegesetze „arisiert“ und diente als Seeschifffahrtsamt.

Otto von Mendelssohn Bartholdy überlebte das Ende des Zweiten Weltkriegs in Potsdam. Nachdem ihm klar wurde, dass die sowjetische Besatzungsmacht sein von den Nationalsozialisten enteignetes Eigentum nicht zurückgeben, sondern endgültig verstaatlichen würde, wanderte er in die Schweiz aus, wo er in Basel vier Jahre nach Kriegsende starb.

DDR-Zeit

Die Villa Mendelssohn Bartholdy wurde von der sowjetischen Militäradministration zunächst für die Potsdamer Konferenz requiriert, anschließend jedoch der Stadt Potsdam zur Nutzung übergeben. Diese nutzte sie anfänglich zu Wohnzwecken, vergab sie aber dann an die Pädagogische Hochschule Potsdam als Studentenwohnheim. Zuletzt (und sogar noch nach dem Mauerfall) diente sie als Wohnheim für Vertragsarbeiter aus Nordvietnam. Im Stallgebäude nebenan richtete die Stadt einen Konsum ein. Völlig heruntergewohnt wurde der Komplex schließlich an die Alteigentümer, die Töchter von Cécile von Mendelssohn Bartholdy restituiert. Weil die beiden Erbinnen das Haus im Familienbesitz erhalten wollten, sich jedoch für die aufwendigen Restaurierungsarbeiten zu alt fühlten, übertrugen sie es ihrem Enkel und Großneffen Felix Müller-Stüler, väterlicherseits ein Ururenkel von August Stüler, dem Nachfolger Schinkels als Oberbaurat Preußens. Müller-Stüler verkaufte Grundstücke am Rand des Anwesens (und das Gärtnerhaus Bertinistr. 1) und richtete mit dem Erlös die Villa wieder her, die er zusammen mit einem befreundeten Arztehepaar selbst bewohnt.

Villa Mendelssohn 2003
Villa Mendelssohn 2003

3 Ein Bankier und Mäzen

Villa Louis Hagen

Villa Hagen3
Villa Hagen3

Gegenüber der „Casa Bartholdy“, auf dem engen Wassergrundstück Bertinistr. 23, befindet sich die Villa Louis Hagen. Das hier noch stehende, marode Gebäude ist bedauerlicher Weise zum Abriss bestimmt, obwohl es durch die Geschichte seiner Errichtung wie auch die seiner Bewohner ein ganz wichtiges Denkmal Potsdams ist. Das Haus im heute kaum noch erkennbaren Bauhausstil entstand durch den Umbau eines Sommerhauses, das sich der Patent-Anwalt Alard du Bois-Reymond 1897 als norwegisches Blockhaus direkt am Jungfernsee errichten ließ. Der schlichte Vorgängerbau wurde von dem norwegischen Architekten Hagbarth Schytte-Berg aus Christiania (heute: Oslo) entworfen. Er bestand aus einem sehr hoch liegenden massiven Kellergeschoss, auf dem sich das Erdgeschoss und erste Obergeschoss in Fachwerkbauweise erhoben. Die Obergeschosse sowie das Satteldach kragten weit über dem Sockel aus. Die Fachwerkwände waren außen mit Holzbohlen horizontal verkleidet und an den Ecken mit überstehenden Balken so verkröpft, dass der Eindruck eines Blockhauses entstand. (An den Häusern der russischen Kolonie Alexandrowka kann man diese die Blockbauweise imitierende Gestaltung noch heute studieren). Das Gebäude wurde in den folgenden Jahren durch Erweiterungsbauten wie Gartenhalle, Bootsschuppen und Steganlage ergänzt. Wie dicht das Grundstück zugebaut war, kann man aus einem (nicht genehmigten) Bauantrag ersehen, der dieses Bootshaus nach nebenan, auf das Wassergrundstück der Villa Mendelssohn verlegen wollte. 1911 wurde an der Nordseite ein größerer Anbau mit Wagenschuppen und Pferdestall hinzugefügt, der bis an die Grundstücksgrenze reichte.

Villa Hagen 1921
Villa Hagen 1921

Dieses 1919 bereits ziemlich abgewohnte Sommerhaus kaufte der jüdische Bankier Louis Hagen (*1888 Berlin – † 1978 München), dem das Bankhaus Wiener, Levy & Co in Berlin gehörte. Er war der Sohn des Bankiers Carl Hagen (1856 – 1938), der ebenfalls ein Sommerhaus am Templiner See, die Villa Karlshagen, besaß. Bevor auf die Baumaßnahmen von Louis Hagen eingegangen wird, ist es lohnend, die Genealogie dieser Familie zu studieren, weil sie prototypisch für die Emanzipation des bürgerlichen Judentums in Deutschland ist.

Genealogie

Sie soll im Rheinland mit Abraham Löb beginnen (*1797), der sich beim Kölner Bankhaus Oppenheim vom Kassenboten bis zum Kleinbankier hochgearbeitet hatte und damit die erste Generation dieser Bankiersfamilie begründete. Der Name Löb, auch Löw oder Lieb war eine Eindeutschung des jüdischen Namens Levy, der sich vom Stamm der Leviten ableitet, begründet von Jakobs Sohn Levi. Die Leviten übten in Judäa traditionell den Tempeldienst aus und ihr Stamm hatte stets einen bevorzugten Stand in den jüdischen Gemeinden. Die Französische Revolution hatte die Juden zu gleichberechtigten Mitbürgern gemacht, was viele von ihnen nun veranlasste, ihren jüdischen Namen, unter dem sie jahrhunderte lang diskriminiert wurden, einzudeutschen oder gar ganz abzulegen. 

Der Vertreter der zweiten Generation, Hermann Abraham Löb (1825 – 1873) gründete in Köln das Bankhaus A. Levy & Co. und bekannte sich dabei selbstbewusst wieder zu seinem original jüdischen Namen. Er heiratete Johanna Coppel (1832 – 1902), die Tochter eines Solinger Stahlwaren- und Waffenfabrikanten. Das Paar hatte fünf Kinder, darunter zwei Söhne, die in das elterliche Bankhaus eintraten und nun schon die dritte Generation dieser Bankiersfamilie darstellten. 

Der älteste Sohn konvertierte zum Katholizismus und änderte den Namen Ludwig Levy nach der Eheschließung mit Emma Hagen in Louis Hagen (* 1855 in Köln, † 1932 in Köln). Hatte sich sein Vater noch zu seinem Judentum bekannt, wollte es der Sohn durch Konversion und Namensänderung vollständig loswerden. Einzig sein neuer Vorname Louis bewahrte noch den Bezug zum Jüdischen: Er wurde wegen der Ähnlichkeit mit Levy gern von Juden in Anspruch genommen. Mit dem ererbten Bankhaus A. Levy & Co wurde Louis Hagen (I) nach Gründung des Deutschen Reichs von 1871 zum Finanzier des Aufschwungs im Ruhrgebiet. 

Sein jüngerer Bruder Carl Levy änderte 1905 (nach dem Vorbild von Louis) seinen Geburtsnamen in Karl Hagen (* 1856 in Köln; † 1938 in Potsdam). Er zog nach Berlin und leitete dort zunächst eine Filiale von A. Levy & Co, bevor er das Berliner Bankhaus Hagen & Co gründete und sehr reich wurde. Er wohnte in Tiergarten, Kurfürstenstr. 57 (Villa Schwatlo) und baute sich einen stattlichen Sommersitz in Potsdam, die Villa Karlshagen. Er war auch ein großer Mäzen, Stifter bedeutender Gemälde der Impressionisten für das Kaiser-Friedrich-Museum. Sein Grab ist erhalten geblieben und befindet sich auf dem Jüdischen Friedhof Schönhauser Allee. 

Er hinterließ vier Kinder, die noch unter dem Namen Levy geboren wurden, bevor der Vater den Namen änderte. Der älteste Sohn Hermann Hagen (* 1886, † 1942) galt als Außenseiter der Familie, lebte unverheiratet mit der Mutter seiner Kinder zusammen, kam mehrmals in Nervenheilanstalten und wurde von den Nazis als Vergeltung für den Anschlag der Gruppe Baum im KZ Sachsenhausen ermordet. Seine Kinder waren Karl-Heinz Hagen (bedeutender Journalist und Herausgeber von Illustrierten wie der „Revue“), Hans Oliva-Hagen (Schriftsteller und Vater von Nina Hagen, Großvater von Cosma Shiva Hagen) und drei weitere Geschwister.

Mit dem zweiten Sohn von Carl Hagen, Louis Hagen (II) (* 1888 in Berlin, † 1978 in München) tritt das Bankhaus in die vierte und (bedingt durch die Zeit des NS) letzte Generation ein. Louis Hagen ist der Erbauer der Villa in der Bertinistraße, sein Leben und Werk soll hier ausführlicher ausgebreitet werden.

Einzug der Moderne

Unmittelbar nach dem Kauf wurde die Villa Louis Hagen durch W. Behrend umgebaut. Ziel der Arbeiten war die Vergrößerung des Anwesens und die Verbesserung des Baumaterials. Von Anfang an lieferte sich der neue Besitzer einen erbitterten Kleinkrieg mit der Baubehörde, die streng darüber wachte, dass in der Bertinistraße und besonders am Seeufer der Charakter der kleinteiligen, ländlichen Bebauung erhalten blieb.

Zuerst entstand durch die Erweiterung des Kellers auf der Seeseite eine große Terrasse. Ab 1921 folgten größere Maßnahmen: Das Satteldach wurde dabei zur Hälfte durch einen kubischen Dachboden ersetzt, der ebenfalls in imitierender Blockbauweise ausgeführt war, mit Flachdach und einer umlaufenden, hohen, phantasievoll-exotisch dekorierten, vielleicht durch den Stil des Art Deco beeinflussten Attika, die von einem Wendeltreppentürmchen flankiert war. Mehrfach wurden die Bauanträge, die sich auf Erhöhung des Baukörpers bezogen, von der Behörde abgelehnt, vom Bauherrn aber immer wieder modifiziert und neu eingereicht. Mit der Begründung, es herrschten im Haus unzumutbare Wohnverhältnisse, ließ der Besitzer gelegentlich Baumaßnahmen auch ohne Genehmigung durchführen, was ihm diverse Strafgelder einbrachte.

1927 entschloss sich Louis Hagen, das Gebäude als Hauptwohnsitz für seine siebenköpfige Familie zu nutzen und beantragte durch das Architekturbüro Block und Ebert großzügige Umbauten im Stil des „Neuen Bauens“. Da auch diese Umbaupläne von der Bauverwaltung zunächst abgelehnt wurden, mussten sie nach der endlichen Genehmigung im bereits bewohnten Haus ausgeführt werden.

Louis Hagen war ein bedeutender Vertreter des jüdischen Großbürgertums, religiös indifferent, modernen Ideen aufgeschlossen, mäzenatisch tätig und geschäftlich erfolgreich. Er führte ein gastfreies Haus, wie es seiner Gesellschaftsklasse angemessen war und diesem Anspruch musste der Umbau des Hauses Rechnung tragen. Es wurde auf drei Geschosse erweitert, die aber, um einen zu kompakten Eindruck zu vermeiden, nach Norden hin auf zwei Geschosse abgetreppt wurden. Der gesamte kubische Baukörper wurde mit Dachterrassen, einem luftigen Aussichtsturm, Vorsprüngen und Veranden gegliedert. Da es nicht möglich war, die alte norwegische Holzkonstruktion mit einer zusätzlichen Etage zu belasten und eine komplette Massivbauweise nicht genehmigungsfähig war, wurde ein Eisengerüst in das während der ganzen Zeit bewohnte Haus eingezogen. Das massive Sockelgeschoss wurde verputzt, während die oberen Etagen mit einer horizontalen Holzverschalung verkleidet wurden. Obwohl Spuren aller früheren Bauphasen im Haus noch vorhanden waren, entstand nach außen der Eindruck eines künstlerisch durchgestalteten kubisch-modernen Gebäudes im Bauhaus-Stil. (Lediglich die alten Rundbogenöffnungen des Herrenzimmers auf der Seeseite blieben erhalten).

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Villa Hagen 1927

Auseinandersetzung mit der Baubehörde

Wie viel dem Erbauer an der äußeren Gestaltung des Ensembles gelegen war, wird aus seinem umfangreichen Briefwechsel mit der Baubehörde deutlich. In einem Brief von 1929 verteidigte er seine Baumaßnahmen als Teil eines künstlerischen Gesamtkonzepts, das die Gegend in Nachbarschaft des Neuen Gartens und der Meierei erheblich aufwerten würde und betonte besonders den Wert des von der Behörde untersagten Turms auf dem Dach der Villa:

„Ich messe diesem ästhetischen Gesichtspunkt einen so großen Wert bei in dem Wunsche, alles zu tun, um diesen weit sichtbaren Punkt des Havelufers so zu gestalten, wie ich es mir zusammen mit den ausführenden Architekten in langjähriger Arbeit vorgestellt habe. Mein Haus ist (wenn man das wenig ansprechende Wasserwerk unberücksichtigt läßt) das einzige größere Bauwerk, das außer der Meierei direkt am See gelegen ist, und paßt sich der Form dieses Baues an, soweit ein Wohnhaus sich einem als Pumpstation angelegten Gebäudekomplex aus früherer Zeit anpassen kann.

Villa Hagen 1927 b s:w
Villa Hagen 1927: Flachdächer, Terrassen, Turm

Vielleicht wurde noch vor einigen Jahren ein derartig in die Breite angelegter Bau mit flachen Dächern und Terrassen als Fremdkörper empfunden. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, daß gerade im Lauf der letzten Jahre, nachdem auch deutsche Behörden und ein großer Teil der namhaften Baukünstler zu diesem Stil übergegangen sind, die Bevölkerung beginnt, an dieser Art Bauten mehr Freude zu empfinden als an der früheren Baugestaltung. Da demzufolge das Gefühl für den Rhythmus derartiger Baumassen sich von Jahr zu Jahr entwickelt, lege ich besonderen Wert darauf, soweit es an mir liegt, immer wieder zu betonen, daß der Turm nicht eine unnötige Ausschweifung ist, sondern geradezu die Zusammenfassung der sonst lose gruppierten Baumassen.

Auch schon bei der früheren Gestaltung war der Turm, wie die seinerzeit eingereichte Photographie aufweist, vorhanden und ein beabsichtigter Teil des Baukörpers. Bei der jetzigen einheitlichen Umgestaltung des Baues wurde seine Funktion noch klarer erwiesen, so daß man ihn, entsprechend der veränderten Silhouette, zwar niedriger, aber breiter gestaltete. Es kann sich m. E. und nach Ansicht einer großen Anzahl befragter moderner Architekten nur darum handeln, ob versucht werden soll, zu erreichen, daß dieses hervorspringende Bauglied in einer Weise ausgestaltet wird, daß auch im Winter – wenn die Umgebung kahl wirkt und die überall am Hause angebrachten Ranken und Blumen fehlen – der Turm mehr noch als bisher als leichtes, belebendes Moment wirkt. …“

Auch im Inneren legte der Bauherr Wert auf modernste Ausstattung: Im Badezimmer befand sich eine höchst moderne amerikanische Rundum-Dusche. Die Fußböden im Haus wurden mit weißem Korklinoleum ausgelegt, die Rahmenhölzer der Türen und Schränke waren weiß gestrichen, mit Füllungen aus matt poliertem afrikanischem Mahagoni. Mit Speisezimmer, Salon, Herrenzimmer, Bibliothek, Teezimmer und großer Halle erfüllte das Haus das Repräsentationsbedürfnis des Bankiers in hohem Maße. Im Erdgeschoss befanden sich die Wirtschaftsräume, in den Obergeschossen die Schlafräume.

Den Bootsschuppen baute man zum Bootshaus für das Elektroboot des Bankiers um und setzte eine offene Turnhalle mit einem Dach aus Glasbausteinen darauf. Die Turnhalle mit einem elastischen Hartgummiboden wurde für den Fecht-und Boxunterricht der Hagen-Kinder genutzt, vom Bootshaus aus ließ sich Hagen im Elektroboot zum Bahnhof Griebnitzsee chauffieren, wo er den „Bankierszug“ nach Berlin zur Arbeit nutzte.

Das Fehlen eines auf dem Grundstück nicht unterzubringenden Gartens wurde durch Terrassen und den begrünten Dachgarten kompensiert. Die große Terrasse war mit Marmor umfasst und mit Designermöbeln des Architekten ausgestattet.

Kunst und Pädagogik

Unter dem Dach gab es ein Trickfilm-Atelier, in dem eine von Louis Hagen protegierte avantgardistische Künstlergruppe um Lotte Reiniger (1899 – 1981) an einem neuen Medium, dem Silhouetten-Trickfilm, arbeitete. 1923, in den Zeiten der Inflation und der Flucht in Sachwerte hatte Louis Hagen eine größere Menge Film-Rohmaterial angekauft. Auf der Basis dieses Kapitals gründete er die Comenius Film GmbH, Berlin und bot der Hauslehrerin seiner Kinder die Finanzierung und Produktion eines langen Silhouettenfilms an. Dafür wurde der Raum über der Gartenhaus-Garage zum Trickstudio umgebaut. In fast dreijähriger Arbeit entstand der erste abendfüllende Animationsfilm „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ nach einem Märchen aus „Tausend und eine Nacht“. Der 66-minütige Film, für den über 250.000 Einzelbildaufnahmen der Scherenschnitte angefertigt wurden, entstand „in fast asiatischem Fleiß“ (Bert Brecht, 1928) mit Hilfe von 6 Assistenten, darunter dem Kunsthistoriker Carl Koch, den Charlotte Reiniger 1921 geheiratet hatte, sowie dem Maler und Experimentalfilmer Walther Ruttmann. (Ruttmanns 1927 hergestellter Film „Die Sinfonie der Großstadt“ wurde später eine Ikone der Berlin-Filme). In Paris erlebte Reinigers Film Anfang Juli 1926 eine glanzvolle, von Jean Renoir mitorganisierte Premiere, und am 3.9.1926 war die offizielle deutsche Premiere im Gloria-Palast.

Der moderne Lebensstil des Hausherrn kam nicht nur in der Architektur des Hauses und seiner künstlerischen Neigung zum Ausdruck. Der kinderliebe Hagen war ein Anhänger der Reformpädagogik, die auf freie geistige Schularbeit, freies Unterrichtsgespräch und selbstbewusste Schüler und Schülerinnen zielte. Da eine entsprechende Schule in Potsdam nicht existierte, gründete er 1922 in seiner Villa als pädagogisches Experiment eine „Arbeitsschule“, in der sich seine fünf Kinder sowie zehn Nachbarskinder den Lehrstoff selbst erarbeiteten. Der Sohn des Potsdamer Verlegers Gustav Kiepenheuer, Wolfgang Kiepenheuer, besuchte ebenfalls diese Schule. Seine Schwester Bettina Hürlimann (1909 – 1983), zeichnet in ihrer Autobiographie „Sieben Häuser“ ein lebendiges Bild vom Leben im Hause Hagen. Sie charakterisierte die Hauptlehrerin Cläre With, Verfasserin von geographischen Sachbüchern, die im Verlag ihrer Mutter (Müller und Kiepenheuer) erschienen, als eine „auf ihre Art geniale Pädagogin“. Als weitere Lehrer arbeiteten unter anderen Lotte Reiniger und Carl Koch, deren Trickfilm Hagen 1923 – 26 produziert hatte, an Hagens Schule.

NS

Das glanzvolle Leben des Großbürgers am Jungfernsee war nicht von langer Dauer. Die Schikanemaßnahmen der Nazis gegen die Juden schlossen diese aus dem öffentlichen Leben weitgehend aus, womit ab 1933 das gesellschaftliche Leben in der Villa allmählich zum Ende kam. 1933 emigrierte der älteste Sohn Karl-Viktor (* 1912 Berlin, † 1948 Berlin) in die Vereinigten Staaten. Der jüngste Sohn Louis Hagen (III) (* 1919 Berlin, † 2000 London) wurde 1934 Opfer einer Denunziation: Der Fünfzehnjährige, nach abgebrochener Gymnasiallaufbahn Lehrling bei BMW, hatte sich auf einer Postkarte nach Hause über die SA lustig gemacht. Das Hagensche Dienstmädchen hatte dies ihrem Freund, der in der NSDAP war, weitererzählt, worauf Hagen Jr. in das ehemalige Schloss Lichtenburg bei Torgau mit seinem im Jahre 1879 angebauten Zellentrakt verbracht wurde. Das Gefängnis Lichtenburg war 1933 von den Nationalsozialisten als eines der ersten Konzentrationslager für Männer eingerichtet worden. Nach sechswöchiger entwürdigender Haft wurde er, ausgerechnet auf Intervention eines Richters mit Parteibuch, wieder frei gelassen. Dessen Sohn war von Hagen auf dem Gymnasium gegen rabiate Mitschüler beschützt worden und war sein bester Freund. Als Reaktion auf die Inhaftierung begann die Familie Hagen, unterstützt von der Familie des berühmten Pianisten Wilhelm Kempff, die in der Nachbarschaft in der Straße Am Neuen Garten wohnte, ihre Kinder aus Deutschland zu evakuieren. Louis Hagen Jr. emigrierte 1936 nach England, ihm folgten die übrigen drei Geschwister, diese zogen allerdings in die USA weiter.

Bankier Louis Hagen und seine Frau Victoria harrten zunächst noch aus, obwohl sie die Ausschaltung aller Juden aus dem Geschäftsleben miterleben mussten. Sie hofften auf ein schnelles Ende des Naziregimes. Zu ihrem Schutz zog 1935 der „arische“ Architekt der Villa, Otto Block, mit seiner Familie mietfrei bei Hagens ein. Bis 1939 nahm der Druck auf die Juden, ihren Grundbesitz zu verkaufen, ständig zu. Gerade noch rechtzeitig (nach Kriegsbeginn war keine Ausreise von Juden mehr möglich) erkannte Louis Hagen die Aussichtslosigkeit seiner Lage.

Abenteuerliche Flucht

Er überließ der evangelischen Kirche seine Villa zur Nutzung und schiffte sich mit seiner Frau in Genua ein. Das Schiff musste jedoch wieder umkehren, da kein Land willens war, die an Bord befindlichen Emigranten aufzunehmen und das Ehepaar blieb zunächst in Italien. Aber auch dort wurde die Situation für Juden immer prekärer und so entschlossen sich die Hagens 1941 (wiederum rechtzeitig vor dem deutschen Überfall auf Russland) zu einer abenteuerlichen Flucht über drei Kontinente: Mit der Transsibirischen Eisenbahn durchquerten sie die UdSSR bis nach Wladiwostok, setzten nach Japan über und konnten von dort aus in die USA einreisen, weil die Häfen an der Westküste für Flüchtlinge offen blieben.

In New York vereinigte sich die Familie (bis auf Louis Hagen jr.) und baute sich eine neue Existenz auf. Der zweitjüngste Sohn Hans Peter Hagen (* 1918) kehrte allerdings später nach Deutschland zurück und nahm seinen Wohnsitz in München, wohin ihm sein Vater nach dem Tod seiner Frau (1968) folgte. 1978 starb Louis Hagen (II) 90-jährig in München.

Louis Hagen (III)

Louis Hagen Jr. trat nach Kriegsausbruch 1939 in die Britische Armee ein. Diese gab ihm den englischen Namen Lewis Haig um zu verhindern, dass er bei einer Gefangennahme besonderen Repressalien zum Opfer fallen könnte. Er diente, wie viele andere jüdische Flüchtlinge, in einem Pionierkorps und hatte 1944 einen spektakulären Einsatz als Pilot eines Lastenseglers in der für die Alliierten desaströsen Schlacht von Arnheim. Nach dem Vorbild der Landung in der Normandie wurden Truppen und militärisches Gerät mit Segelflugzeugen hinter den deutschen Stellungen abgesetzt. In verlustreichen Kämpfen konnten die Truppen ihre Position jedoch nicht halten und gerieten größtenteils in Gefangenschaft. Hagen gehörte zu den Wenigen, die es schafften, nach England zurückzukehren. König Georg VI. bedachte ihn für diesen Einsatz, bei dem er auch verwundet wurde, mit einer militärischen Auszeichnung. Nach dem Krieg war er zunächst als Journalist und Buchautor erfolgreich, unter anderem mit der Verarbeitung seiner Kriegserlebnisse in “Arnhem Lift“, bis er 1950 die Filmproduktionsgesellschaft Primrose Film Productions gründete. Mit dieser Firma produzierte er 25 Kinderfilme zusammen mit Lotte Reiniger, der Lehrerin seiner Kindheit und Mentorin seiner Film-Ambitionen. Er erlebte noch den Fall der Mauer und die Rückgabe der Villa an die Familie, bevor er 2000 in London starb.

Karl-Viktor Hagen

Karl-Viktor Hagen, der in New York zum Finanzexperten geworden war, kam nach dem Krieg als Mitarbeiter der US-Militärregierung nach Deutschland zurück. Er leitete das Währungsressort in der Finanzdivision in Berlin, das mit dem Aufbau der neuen Währung in den Westzonen befasst war. Kurz vor Beendigung seiner Mission flog er am 7. Juli 1948 ein letztes Mal dienstlich von Berlin nach Frankfurt. Als er abends am Zivilflughafen Frankfurt keinen Rückflug bekommen konnte, fiel ihm ein, dass er auch Militärflugzeuge nutzen durfte – und dass diese seit Beginn der Luftbrücke (26.06.1948) vom nahen US-Stützpunkt täglich Hilfsgüter nach Berlin flogen. So überredete er zwei junge Piloten, ihn mitzunehmen. Sie starteten bei regnerischem Wetter um 21:28 Uhr, fünf Minuten später riss der Funkkontakt ab und die Maschine stürzte auf einen Waldhügel bei Königstein. Die drei Insassen waren die ersten Todesopfer der Berlin-Blockade; ihre Namen sind auf dem Rundsockel des Luftbrückendenkmals in Berlin verewigt.*)

*) Der Grabstein für Karl-Viktor Hagen befindet sich auf dem jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee. Er ist am Grab seines Großvaters Carl Hagen angebracht und erwähnt den Flugzeugabsturz.

Nach 1945

Die Villa Hagen diente nach dem Krieg zunächst als Begegnungsstätte der evangelischen Kirche. Nach dem Bau der Mauer wurde auf dem Nachbargrundstück eine Schiffskontrollstelle eingerichtet, um den Binnenschiffsverkehr nach West-Berlin zu überwachen. Dazu gehörten Sperranlagen, Schiffswerft, Mannschaftsunterkünfte, ein Wachtturm, Hundezwinger und eine Seilwinde, die nachts ein Drahtseil über die Engstelle des Jungfernsees zog. Eine hohe Mauer riegelte das Gelände zum Jungfernsee ab. Kindererholung und Jugendaustausch waren unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich.

Deshalb wurde die Villa 1970 und 1981 für den VEB Informationsverarbeitung Potsdam (Rechenzentrum der bezirksgeleiteten und Lebensmittelindustrie und der örtlichen Versorgungswirtschaft) umgebaut und erweitert. In den großbürgerlichen Wohnräumen sollten – dem damaligen Technikstand entsprechende – voluminöse Rechneranlagen aufgestellt werden. Bemühte man sich beim Anbau nach Norden noch um Bezug auf die Bauhausfassade indem man die Verbretterung in Putz nachbildete, so ging bei den folgenden Erweiterungen das künstlerische Erscheinungsbild der Villa völlig verloren. Durch die Erweiterung der Baumasse auf dem ohnehin schon dicht bebauten Grundstück wurden die Proportionen erheblich gestört. Der niedrige, lange Baukörper entlang der Straße, zugesetzte Fenster bzw. neue, unorganische Öffnungen und insbesondere der fensterlose Anbau, der der Seefassade vorgeblendet wurde, machen den Eindruck eines durchgestalteten Kunstwerks modernen Bauens nicht mehr erlebbar. Das Interieur war schon in der Zeit nach 1945 verschwunden. Der Datenverarbeitungsbetrieb nutzte das Gebäude von 1970 bis 1992.

Nach der Wende ging es als ehemals jüdisches Eigentum wieder in den Besitz der Hagen-Familie über. Diese verkaufte es an Peter Block, den Sohn des Architekten, der schon von 1935 bis 1939 zusammen mit seinen Eltern bei den Hagens gewohnt hatte. Block wollte zusammen mit einem Investorenkonsortium das Gelände entwickeln, die Villa restaurieren und 4 Luxuswohnungen darin errichten. Den Geldgebern ging jedoch die Luft aus und so wurde die Immobilie erneut zum Verkauf angeboten.

Da das Erscheinungsbild der Villa im Bauhausstil als Element der Potsdamer Kulturlandschaft wieder hergestellt werden sollte, erwartete die Denkmalpflege zunächst einen Rückbau auf den Zustand der 20-er Jahre. 2007 kaufte der Oldenburger Architekt und Bauunternehmer Dirk Onnen das Gebäude. Berichten zufolge wollte er es mit (nun) sechs Eigentumswohnungen ausbauen und 3,5 Millionen Euro investieren. Allerdings sollte das Ensemble zunächst abgerissen und dann wieder „originalgetreu aufgebaut“ werden, da die Bausubstanz der Villa „nicht mehr zu retten sei“. Nur ein paar alte Fundamente wären erhalten geblieben. Ehe dieser Unsinn in die Tat umgesetzt werden konnte, verkaufte Onnen das Gelände weiter und die Villa, die schon so viele Wechselfälle in ihrer Geschichte überstanden hatte, musste weiterhin des Wiederaufbaus harren. Allerdings erteilte die Stadt Potsdam zwischenzeitlich schon einmal eine Abrissgenehmigung.

Der oben erwähnte „Unsinn“ hat sich aber mittlerweile vervielfacht! 2023 signalisierten Absperrungen um das Gebäude und Sicherungsgeländer auf dem Dach, dass endlich Bewegung in den Niedergang dieses für Potsdam so bedeutenden Denkmals kommen würde. Doch was passierte? Die Villa Louis Hagen wurde innerhalb von wenigen Wochen abgerissen und das geschichtsträchtige Grundstück eingeebnet. Dem Bebauungsplan ist zu entnehmen, dass eine eingeschossige Neubebauung vorgesehen ist – kein Wort mehr von der Wiederherstellung der alten Kubatur und von der Erinnerung an den für die Potsdamer Geschichte so bedeutenden jüdischen Bauherrn. Ein bemerkenswerter Umgang mit Potsdams jüdischer Geschichte!

4 Ein Unternehmer, verstrickt in deutsche Geschichte

Villa Starck

Neben der „Casa Bartholdy“, auf dem Grundstück Bertinistr. 6 – 9 steht heute die Villa Starck. 1869 hatte das Grundstück die Nummer 4 und in einem Vorgängerbau der heutigen Villa lebten Konsul Klenze, aber auch einige Mieter, darunter ein Weinmeister. Aus dieser Konstellation kann man schließen, dass hier – wie auf dem Nebengrundstück – ein Weinmeisterhaus von einem besitzenden Bürger angekauft und zur Sommer- oder Altersresidenz gemacht worden war. In den Jahren 1873 bis 1881 war nur noch Konsul Klenze (bzw. seine Erben) auf dem Grundstück ansässig und dazu eine wachsende Zahl von Bediensteten (Gärtner, Kutscher, Arbeiter).

F. W. Borchardt

1882 kaufte August Friedrich Wilhelm Borchardt (* 1826 Labes, † 1896 Berlin) das Grundstück, jetzt unter der Hausnummer 6 – 9, und richtete hier seinen Sommerwohnsitz ein. Das Wohnhaus, das er ausbauen und vergrößern ließ, trug die Nr. 9, während die Wirtschaftsgebäude, inklusive eines neu erbauten Palmen- und Gewächshauses unter Nr. 6-8 liefen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde ein Wassergarten am Jungfernsee angelegt.

Er hatte 1853 das Unternehmen F. W. Borchardt mit Firmensitz in Berlin, Französische Str. 47/48, als „Wein & Delikatessenhandel“ gegründet, brachte es zu beträchtlichem Wohlstand und wurde Hoflieferant und Kommerzienrat. Der Titel Kommerzienrat wurde im Deutschen Reich, vor allem bis 1919, an Persönlichkeiten der Wirtschaft verliehen. Die Ehrung erfolgte in der Regel nach erheblichen „Stiftungen für das Gemeinwohl“. F. W. Borchardt starb im Jahre 1896, jedoch behielt seine Witwe Marie, geb. Rissmann das Sommerhaus in der Bertinistraße noch bis zu ihrem Tod 1909. Danach ging es an Borchardts Erben.

Das Unternehmen Borchardt existiert heute wieder, auch im alten Haus an der alten Adresse, allerdings nur mehr als Nobelgaststätte. Bekannt wurde der Name F. W. Borchardt während des Nationalsozialismus als Namensgeber für das jüdische Unternehmen Kempinski. Der Gastronom Berthold Kempinski betrieb ebenfalls eine Weingroßhandlung und mehrere Speisegaststätten mit Stammhaus Leipziger Straße und u. a. einer Filiale am Kurfürstendamm. Kempinskis Nachfolger übernahm von den Erben F. W. Borchardts deren Wein- und Delikatessenhaus. Unter den Nazis wurde der jüdische Betrieb Kempinski durch die Firma Aschinger „arisiert“, auch der jüdische Name Kempinski sollte verschwinden. Weil der Name Aschinger aber mit billiger Gastronomie konnotiert war, wurde der Name F. W. Borchardt für das ehemalige Kempinski gewählt.

H. C. Starck

1921 erwarb der Kaufmann Hermann C. Starck (* 1891 Magdeburg, † 1974 Düsseldorf) das Grundstück Bertinistr. 6 – 9 von den Borchardt-Erben. Anfänglich, als er das Gebäude, wie seine Vorgängerin als Sommerwohnsitz nutzte, fügte er dem Ensemble einen Gartenpavillon und ein Bootshaus hinzu. Die Bauausführung lag in den Händen von Maurermeister Behrend. 1923 beschloss Starck wohl, hier dauerhaft zu wohnen und ließ das Borchardtsche Sommerhaus zu der stattlichen Villa umbauen, die hier heute noch steht. Den Entwurf zeichnete der kgl. Baurat Otto Mattes, für die Bauausführung war Bauleiter Michael Rachlik verantwortlich. Starcks Vita, in der sich die Brüche der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert exemplarisch aufzeigen, soll hier detaillierter wiedergegeben werden:

Durch den frühen Tod des Vaters war der 16-jährige Hermann Starck gezwungen, ohne höhere Schulbildung in die Lehre im Handelshaus R. Weichsel & Cie in Magdeburg zu gehen. Neben vielen anderen Handelswaren hatte diese Firma auch Erze und Metalle in ihrem Sortiment. Starck begann während der Lehre, sich für Metallurgie zu interessieren. Dieses Interesse erstreckte sich nicht nur auf die Beschaffung und den Verkauf von Metallen, sondern auch auf Verarbeitungsfragen, Innovationen und insbesondere die Verarbeitung von Wolfram als neuem Werkstoff. Nach seiner Lehre erwarb er sich große Kompetenz im Handel mit Rohstoffen zur Stahlveredlung. Als 1914 Deutschlands Kriegsgegner die Importe kriegswichtiger Rohstoffe blockierten, konnte Starck, nachdem er nach kurzem Kriegsdienst sehr schnell wieder in den Beruf zurückgekehrt war, durch eine kurzfristige Beschaffung von Wolframerz aus Portugal einen Versorgungsengpass beheben. Dadurch wurde AEG-Präsident Walther Rathenau auf ihn aufmerksam und berief ihn in seiner Funktion als Leiter der „Kriegsrohstoffabteilung des preußischen Kriegsministeriums“ in 1916 in eine Kommission zur Beschaffung rüstungswichtiger Metalle. In der Kommission war Starck Experte für Wolfram (genannt „Mr. Wolfram“). Durch diese erfolgreiche Tätigkeit wurde er zum Freund und Protegé des späteren Außenministers.

1916 befasste er sich mit der Gewinnung von Wolfram aus Abraumhalden von jahrhundertealten Zinnminen. Obwohl er nicht der erste war, der diese geniale Idee zur billigen und problemlosen Rohstoffgewinnung hatte, verdiente er damit (nach eigener Aussage) seine „erste Million“. 1917 gründete er zusammen mit einem Kompagnon die Metallhandelsfirma Starck, Michael & Co in Berlin. Nach der Trennung von dem Geschäftspartner erfolgte 1920 in Berlin die Gründung seiner eigenen Handelsfirma „Hermann C. Starck“ mit Firmensitz in der Bellevuestr. 13. Gegenstand des Geschäftsbetriebes war der Handel mit Metallen, Erzen, Chemikalien, Fetten und Ölen. In den turbulenten Jahren nach dem Krieg, in denen sein jüdischer Mentor Walther Rathenau ermordet wurde, heiratete er die getaufte Jüdin Klara, Tochter ungarischer Juden. Als Besitzer von Sachwerten überstand er die Inflation leidlich. Er investierte in Grundstücke, unter anderem auch in das in der Potsdamer Bertinistraße, wohin er später seinen Hauptwohnsitz verlegte.

Gegen Ende der Inflation 1923 erwarb er seine „zweite Million“ durch den Ankauf von Kupferpfennigen. Deren Materialwert übertraf den Nennwert exorbitant und so beschaffte er sie sich tonnenweise und ließ sie im eigenen Betrieb zum Rohstoff Kupfer umschmelzen. Von der Rendite kaufte er weitere Immobilien, darunter das „Romanische Haus“ an der Gedächtniskirche. Im Erdgeschoss beherbergte es das „Romanische Café“. Hier traf er auf die künstlerische Haute Volée der 20er Jahre wie den Schriftsteller Elias Canetti und den Secessionsmaler Eugen Spiro, der sein Freund wurde. Starck blieb auch zu Zeiten seines größten Reichtums ein zurückhaltender, unauffälliger Mensch, der keinen Wert darauf legte, dass sein Leben öffentlich ausgebreitet wurde. In den Memoiren von Elias Canetti von 1980 heißt es über den Künstlerkreis des „Romanischen Cafés“: „Ein wirklich stiller Mäzen, der nicht mitsprach, weil er so viel von seiner eigenen Sache verstand, dass er über andere kein dummes Zeug sagen mochte, war ein jüngerer Mann namens Starck, der etwas mit den Osram-Glühlampen zu tun hatte. Er war oft dabei, hörte sich alles aufmerksam an und machte sich manchmal nützlich, wenn es geboten schien, aber ohne Aufsehen und immer in Maßen…“

Eugen Spiro: H.C.  Starck
Eugen Spiro: H. C. Starck

Der Maler Eugen Spiro, der als Jude später nach Frankreich und in die USA emigrieren musste, fertigte viele Bilder der Familie Starck an, die später z. T. in Museen (Stadtmuseum Berlin), z. T. in Privatsammlungen hingen. Sein Sohn Peter Spiro, ein Chemiker, arbeitete in Starcks Firma und musste 1939 nach London emigrieren. Als Mäzen unterstützte Starck den kommunistischen Malik Verlag sowie einen jüdischen Verlag, der Bücher über jüdisches Brauchtum und Tradition herausbrachte.

In den Folgejahren bis 1933 baute H. C. Starck durch Ankauf und Neugründung ein Imperium von Metallhandelsfirmen und Metallproduktionswerken auf, auch im Ausland und war jetzt mehrfacher Millionär. Während der Weltwirtschaftskrise und dem Bankenkrach musste er sich zwar vorübergehend von seinen Produktionswerken trennen, aber nach der Wirtschaftskonsolidierung durch erhöhte Rüstungsproduktion während des Naziregimes erwarb Starck die Firma Borchers in Goslar und stieg wieder in die Metallproduktion ein.

Wegen seiner Handelsgeschäfte mit kriegswichtigem Wolfram blieb Starck trotz seiner jüdischen Frau und seiner zwei halbjüdischen Kinder Gerhard und Barbara zunächst unbehelligt. Deshalb entschloss er sich, auch nach 1933 in Nazi-Deutschland zu bleiben. Trotz wachsendem Druck unterstützte er weiterhin jüdische und christliche Organisationen, die Juden halfen. Nach Aussage von Peter Spiro half er einem Juden während der „Kristallnacht“ indem er ihn als „Arier“ den ganzen Tag über begleitete. Als am Tag nach diesem Pogrom seine Frau verhaftet wurde, gelang es ihm mit Riesenglück, sie wieder zu befreien. Peter Spiro erzählte das nach dem Krieg in einem Interview:

Klara Starck wurde verhaftet. Starck muss gerade weg gewesen sein. Die Nazis haben das immer so ausgesucht, wenn der andere Teil weg war, etwas zu machen. Das war auch so bei der Witwe von Liebermann. Sie war geschützt, wenn der Arzt Dr. Sauerbruch im Hause war […]

Klari wurde also verhaftet, sie war in einem Gefängnis in Berlin. Starck wusste nicht, wo sie war, aber eine andere Insassin des Gefängnisses, eine Arierin, schmuggelte einen Brief für sie heraus. Da wusste Starck, wo sie war und ging in die entsprechende Polizeistation und – die Zufälle des Lebens – der wachhabende Offizier war früher der Verkehrspolizist, der am Knie den Verkehr leitete und dem Starck jede Weihnacht ein großes Geschenk gemacht hatte. Damals waren Autofahrer noch eine privilegierte Minorität und hatten ihre Lieblingspolizisten und der Polizist sagte: Sie erkennen mich nicht, aber ich erkenne sie, sie haben mir doch immer Weihnachten und so – und ihre Frau sitzt hier im Gefängnis? Und sie kam raus. Dafür war die Klari ihm, Starck, bis an ihr Lebensende dankbar, denn er hat ihr damit das Leben gerettet.“

Nach diesem Ereignis, das ihm die Gefährdung seiner Familie deutlich machte, brachte er seine Kinder nebst Aufsicht zur Vermeidung von Verfolgungsmaßnahmen nach Rhina, dem Ort einer seiner süddeutschen Produktionsstätten nahe der Schweizer Grenze, wo sie jederzeit auf neutrales schweizerisches Gebiet gebracht werden konnten.

Peter Spiro war der Meinung, „dass Starck, obwohl ihm die Firma ja gehörte, er doch in eine Art Seitenstellung in seiner eigenen Firma geschubst worden sein musste.“ Nicht wegzudiskutieren ist jedoch, dass er Inhaber einer Firma war, die während des Krieges Zwangsarbeiter zur Produktion kriegswichtigen Materials beschäftigte. 1943 wurden sowohl der Firmensitz in der Bellevuestr. als auch das „Romanische Haus“ von Bomben zerstört. Starck verlegte deshalb den Firmensitz in die Bertinistraße.

Nach 1945 blieb Starck naiverweise in Potsdam, offenbar vertraute er auf die Fairness der Besatzungsmacht, da er sich während der Nazizeit – seiner eigenen Auffassung nach – neutral verhalten hatte und ja selbst Repressionen ausgesetzt war. Ungeachtet dessen wurde er von den Sowjets als Kriegsverbrecher festgenommen und in den „Speziallagern“ Fünfeichen und anschließend in Buchenwald inhaftiert. In den Waldheimer Prozessen wurde er 1950 von einem DDR-Sondergericht wegen „Unterstützung des Nazitums“ zu 20 Jahren Zuchthaus und zur Einziehung seines Vermögens verurteilt. 1951 wurde er allerdings – aufgrund der Proteste gegen den willkürlichen Charakter dieser Prozesse – begnadigt. Das Urteil wurde erst 1991, 17 Jahre nach seinem Tod, gerichtlich für ungültig erklärt. Nach der Freilassung verließ er die DDR und verlegte seinen Wohnsitz nach Düsseldorf wegen der zunehmenden Bedeutung der Rhein/Ruhr-Region für die Wirtschaft der jungen Bundesrepublik.

Nach dem Krieg

Seine Firma setzte die Produktion im nicht von Enteignung betroffenen Zweigwerg Gebr. Borchers in Goslar fort; die Fima H.C. Starck GmbH als Hersteller einer breiten Palette von chemischen Spezialprodukten ist mit ca. 1500 Mitarbeitern Goslars größter Arbeitgeber. Die Firma entwickelte sich auch noch zum „global player“ und H. C. Starck blieb bis zu seinem Tod 1974 ihr Geschäftsführer. Heute steht sie im Brennpunkt der Kritik von Umweltschützern und Globalisierungsgegnern. Hermann C. Starck starb 1974 in Düsseldorf.

Sein Sohn Gerhard C. Starck, geboren am 4. April 1929 in Berlin, studierte zunächst Metallurgie und wechselte später zur juristischen Fakultät in Göttingen, an der er seine spätere Ehefrau, Renate Oberkoxholt, kennen lernte. Nach dem Staatsexamen ließ er sich als Rechtsanwalt in Düsseldorf nieder. Nach der Wiedervereinigung kämpfte er als juristischer Berater einiger ehemals in Potsdam lebender Familien um die Restituierung sogenannter „arisierter“ Grundstücke. (Sein eigenes Grundstück wurde nicht restituiert, da es im Zeitraum zwischen 1945 und 1949 enteignet worden war und diese Enteignungen lt. Einigungsvertrag nicht rückgängig gemacht werden). Er starb am 09.01.2000 in Düsseldorf.

Seine Alleinerbin Frau Renate Starck-Oberkoxholt ist die Stifterin der Gerhard C. Starck Stiftung zur Förderung beruflichen Aus- und Fortbildung besonders begabter junger jüdischer Menschen, die dem deutschen Sprach- und Kulturraum verbunden sind. Das Stiftungsvermögen stammt u. a. aus der Versteigerung der Kunstsammlung von Hermann C. Starck (Kunstwerke der 20er Jahre, darunter mehrere Gemälde von Eugen Spiro).

Nach 1945 wurde die Villa einer jetzt üblichen sozialistischen Nutzung zugeführt. In den 70er Jahren kam es zum Bau der Schiffskontrollstelle am Jungfernsee (s. Wasserwerk), infolge dessen entstand auf dem Gelände des Starckschen Rosengartens eine Schiffswerft für die Kontrollboote der Grenztruppen, die mit einer hohen Mauer umgeben wurde, um Fluchtversuche mit gestohlenen Grenzbooten zu vereiteln.

Villa Starck 2005
Villa Starck 2005

Nach der Wende stand die Villa zunächst leer, erst nach Klärung der Eigentumsverhältnisse wurde das sehr große Grundstück zum Zwecke der Parzellierung verkauft, es sollten, auf ca. 1200 m2 großen Baugrundstücken, moderne Luxusvillen entstehen. Nach Abriss der DDR-Bootswerft wurde am Ufer eine Marina für die Villeneigentümer gebaut. Ein zu ihr gehöriges, im Rohbau fertiges „Bootshaus“ hat mittlerweile dazu geführt, dass der Bebauungsplan für das Ufer des Jungfernsees neu aufgestellt werden muss, weil versäumt wurde, die zulässige Baumasse für das Gebäude festzulegen (Stand 2023).

Die Restaurierung der Villa Starck ist dagegen schon seit einigen Jahren erfolgt. Dabei wurde unter dem gläsernen Wintergarten ein Wellness-Bereich angelegt, für den das Treppenhaus aus der Zeit H. C. Starcks heraus gerissen wurde. Als Investor und neuer Eigentümer galt der Berliner Unternehmensberater und Investor Markus Höfels, der sich durch den Kauf der Berliner Kaffeehaus-Gesellschaft Einstein und Investitionen in der Modebranche einen Namen machte. Nach einem Streit mit seinem Geschäftspartner änderten sich jedoch die Eigentumsverhältnisse.

Villa Starck 2021
Villa Starck 2021

5 Spekulation, Brache, Townhouses

Townhouses Bertinistr. 10/11

Zwischen der Villa Starck und dem nächsten Altbau, dem so genannten „Ulmenhof“ entstanden 2008 auf einem leeren Grundstück moderne Reihenhäuser, sogenannte Townhouses. Der Baugrund wird zur Straße hin durch eine alte Ziegelmauer, die vermutlich einmal einen schmiedeeisernen Zaun trug, begrenzt. Diese Mauer, die ein großes Gelände einfriedet, lässt auf eine ehemalige Villenbebauung schließen.
In den Bauunterlagen von 1857 finden sich Zeichnungen für eine Villa im Tudorstil, die sich General v. Drigalski errichten ließ. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde sie von Berliner Besitzbürgern als Sommersitz genutzt und befand sich von 1881 bis 1896 im Besitz des Bankiers Heimann aus Berlin. 1899 – 1914 war C. Straßer, Baumeister aus Berlin, als Inhaber verzeichnet.

Der 1925 erstmals aufgeführte neue Besitzer Friedrich Lemke, Kofferfabrikant aus Berlin (Berlin N, Gerichtstr. 23), geriet in Auseinandersetzungen mit dem Bauamt, da dieses eine neue Straßenfluchtlinie für die Bertinistraße festgelegt hatte, die einen Teil seines Grundstücks, auf dem auch die Villa lag, abschnitt. Seine Neubaupläne wurden durch diese ungeklärte Situation sehr erschwert, deshalb verkaufte er das Gelände wieder.

1928 erwarb der Bankier Dr. Herbert Kann (Berlin, Auerbachstr. 2) die Lemke-Villa und stellte einen Antrag auf Abriss und Neubau. Der Neubauentwurf im Bauhausstil stammte von Fritz Grimm, (geb. 24.3.1888) Mitglied im Bund Deutscher Architekten, Berlin Eisenacher Str. 34, und ähnelte sehr dem ebenfalls von 1928 stammenden Entwurf für die Villa Hagen. Dieser Bauantrag wurde jedoch vom Bauamt abgelehnt, vom Besitzer nicht aufrechterhalten und verfiel schließlich. Offensichtlich hatte der Besitzer die Lust an einem Neubau verloren.

1934 erfolgte der (spekulative?) Kauf des Geländes durch die „Berliner Bauland Gesellschaft“, die zuerst einmal den Abriss der Lemke-Villa vollzog. Der Neubau verzögerte sich, weil offensichtlich eine ähnliche Siedlung wie die „Landhauskolonie am Neuen Garten“ geplant war, worauf die in den Akten erwähnte Verpflichtung des Architekten Otto v. Estorff hindeutet. Eine Siedlung dieser Art hätte den Charakter der Bertinistraße grundlegend verändert.

Aufgrund der ausbleibenden Genehmigungen passierte sehr lange Zeit nichts, ein Brief des Nachbarn Haux, Nr. 12, von 1937 an die Baubehörde wegen der Verschandelung der Gegend führte auf: Der Abriss der Villa war vollzogen, die Trümmer jedoch nicht entsorgt, der Eisenzaun der Begrenzung war auf die Straße gestürzt. 1937 kaufte schließlich der Nachbar H. C. Starck das Gelände und ließ es unbebaut. Lediglich die neue halbrunde Fluchtlinie zur Straße, gegenüber dem Wasserwerk wurde mit der noch existenten Mauer befestigt.

Townhouses
Townhouses 2021

Auch nach dem Krieg wurde das Gelände zunächst nicht bebaut, bis nach dem Bau der Schiffskontrollstelle am Ufer des Jungfernsees in den 70er Jahren auf dem Grundstück Hundezwinger und Wach-Unterkünfte entstanden. Mit dem Verkauf der Villa Starck ging nun dieses damals ebenfalls Starck gehörende Grundstück auch an den Investor Höfels über, der in Anlehnung an die (damals abgelehnte) Planung von 1928 in stark vergrößerter Form die jetzige Townhouse-Anlage errichten ließ, deren Vermarktung wegen des wenig ansprechenden Umfeldes schleppend verlief. Glücklicherweise verschwanden durch den Neubau die Baracken aus DDR-Zeiten. Die geplante weitere Bebauung des sich noch weit den Hang hinaufziehenden Grundstücks ist nach der Fertigstellung von zwei Villen zum Erliegen gekommen.

6 Der Salonlöwe im „Ulmenhof“

„Ulmenhof“ bzw. „Villa Bertini“

Der Vorgänger der „Villa Bertini“ (Hausnummer 12/13) entstand 1861 aus dem Umbau eines alten Wohnhauses mit Stall. Es wurde von Hofmaurermeister Friedrich August Hasenheyer (1823-1891) entworfen und noch im gleichen Jahr ausgeführt. Hasenheyer war Königlicher Hofmaurermeister und Gründer der Hasenheyer Stiftung*). Er machte sich einen Namen als Bauleiter bei Projekten der späten Schinkelschule, insbesondere der Entwürfe des Architekten Reinhold Persius, des Sohnes von Ludwig Persius. So war er für die Ausführung des hinter den Arkaden gelegenen Erweiterungsbaus an der Bornstedter Kirche ebenso verantwortlich wie für die Villa Bier (Palais am Stadthaus), Friedrich-Ebert-Str. 37 und die Villa Francke, Gregor-Mendel-Str. 23. Hasenheyer entwarf auch eigene Bauten, so das Haus für den Tabakfabrikanten Denker in der Friedrich-Ebert-Str. 36 und die hier beschriebene Villa in der Bertinistr. 12/13. Der Gebäudekomplex mit Turm und an der Straße gelegenem Stall war im Tudorstil gehalten. Beide Bauten wurden 1887 straßenseitig mit einer aufwändigen Begrenzungsmauer verbunden. Bauherr des Hauses war der General a. D. v. Dorpowski, der es 1881 an einen Verwandten vererbte.

*) Zweck der Stiftung war die Aufnahme und Betreuung von alten, pflegebedürftigen, insbesondere alleinstehenden und bedürftigen Personen im Hasenheyer-Stift in der Meistersingerstraße, einer Einrichtung, die heute noch existiert.

Ulmenhof Entwurfszeichnung
Entwurfszeichnung von Hasenheyer

Seit 1889 gehörte das Anwesen dem Journalisten Dr. Conrad Müller, 1. Redakteur der erzkonservativen Zeitschrift „Der Reichsbote“. (Der „Reichsbote“ war ein Blatt des konservativen Grundadels und der kirchlichen Orthodoxie). Bis 1945 blieb es im Besitz seiner Familie.

Ulmenhof 1993
Ulmenhof 1993

Nach dem Krieg verlor die Villa all ihren Bauschmuck sowie den Turm. Der höhere Teil bekam ein Satteldach und wurde breiter, die zwei niedrigeren Trakte wurden unter einheitlicher Höhe zusammengefasst. Das frühere kielbogige Hofportal wurde ins Gebäude integriert. Es verblieb ein glatt geputztes, banales Gebäude, an dem lediglich das kielbogige Portal noch auf die alte Architektur hindeutete. Das Kielbogenfenster im Giebel ist offensichtlich nicht original, sondern nur ein historistisches Zitat. Wie auch die Villa Hagen diente das Gebäude der VEB Informationsverarbeitung Potsdam bis 1992.

Das jetzige Erscheinungsbild des Anwesens, das seit 1999 „Ulmenhof“ (auch „Villa Bertini“) genannt wird, hat mit dem Aussehen vor dem Krieg nur noch wenig zu tun. Es ist nun ein phantasievoll renoviertes Ensemble aus scheinbar historistischen Gebäuden mit kupfernen Dachrinnen und Regenrohren sowie Darstellungen aus Wilhelm Buschs „Naturgeschichtlichem Alphabet“ über den Fenstern. Der Name für das Anwesen ist nicht historisch, sondern sollte die Assoziation eines großbürgerlichen Landsitzes wecken zum Zwecke, die Vermarktung der Immobilie zu fördern.

Ulmenhof3
Ulmenhof


Diese Villa war das Pilotprojekt der Bertinistraße, der erste mit viel Kapital erneuerte Gebäudekomplex nach der Wende. Sie wurde Sitz der Midat-AG, einer Softwarefirma des Internet-Unternehmers und Salonlöwen Uwe Fenner. Er hatte hochfliegende Pläne zur Errichtung einer IT–Akademie und lud regelmäßig Prominenz aus Berlin und Brandenburg zu Empfängen. Nachdem die Firma jahrelang als Brandenburger Vorzeigeunternehmen gehätschelt wurde, versagten im Jahr 2000 Land und Investitionsbank des Landes weitere Unterstützung. Fenner versuchte den Niedergang aufzuhalten, indem er die Villa als location für Schicki-Micki-Feten vermarktete. Nun wurde ihm vorgeworfen, durch diese Zweckentfremdung Fördermittel der Investitionsbank des Landes Brandenburg in Höhe von etwa 1,4 Millionen Euro veruntreut zu haben. Ein Insolvenzverfahren für die Midat AG wurde mangels Masse abgewiesen, die Gesellschaft 20005 aufgelöst. Das Gebäude ging in den Besitz einer Bank über, stand lange leer und musste vom jetzigen Besitzer bereits erneut renoviert werden. Dieser bewohnt das nördlich gelegene kleinere Gebäude, den ehemaligen Stall, selbst und vermietet die Villa als hochwertige Bürofläche.

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Ulmenhof, ehemaliger Stall

7 Nachbarstreit

Bertinistr. 14 , 15 und 16b

Direkt neben dem „Ulmenhof“ liegt das kleinste Grundstück der Straße. Bertinistr. Nr. 14 und 15 gehörten ursprünglich zusammen, unter der Hausnummer 9 bis 1881, danach unter der Nr. 15. Die Hausnummer 14 diente damals noch zur Nummerierung des linken Nachbargrundstücks. Erst ab 1889 trat die heutige Situation ein, dass die Nummern 14 und 15 die beiden kleinen, nebeneinander liegenden Parzellen bezeichneten. Die um 1886 hier wohnende Witwe Steffens hatte wohl ihren Grundbesitz geteilt und ihr Haus dem Berliner Verlagsbuchhändler Johannes Rentel, (Berlin SW, Großbeerenstr. 27a) als Sommerwohnsitz verkauft. Den rechten Grundstücksteil kaufte 1889 H. Neumann, Kaufmann, ab 1899 technischer Regierungssekretär, der dort bis 1903 im Sommer wohnte. Johannes Rentel beschloss 1902, ganzjährig in der Bertinistraße zu wohnen und vergrößerte sein Haus auf dem rückwärtigen Gelände. 1911 ließ er auf der Vorderseite eine Glasveranda errichten. Das Haus Nr. 15 war mittlerweile von dem Berliner Kaufmann Carl Scheidemantel erworben worden, der es von 1903 bis 1913 als Sommersitz nutzte. Er war Delegierter des Verbandes Deutscher Druckpapier Fabriken GmbH, Berlin und hatte gewiss auch beruflich mit dem Verlagsbuchhändler von nebenan zu tun.

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Haus Rentel

Der Ärger mit dem Nachbarn begann, als er sich entschloss, ebenfalls ganzjährig am Jungfernsee zu wohnen. Die notwendigen Erweiterungsbauten auf dem engen Grundstück erregten den Zorn des Nachbarn und es begann ein mehr als zehnjähriger erbitterter Streit nicht nur um jede Baumaßnahme, sondern auch um die Bepflanzung in den Gärten. Dieser Streit wurde von beiden Seiten mit allen Mitteln, auch unfairen, geführt. Z. B. versprach Scheidemantel der Bauverwaltung, dass er das unschöne Ensemble aus Pferdestall und Wagenremise, das auch heute noch vor der Nr. 15 steht, abreißen würde, wenn man ihm die Erhöhung seines Hauses genehmigte. Tatsächlich baute er aber bereits im folgenden Jahr Stall und Remise zu dem jetzigen Konglomerat um, das er als Gartenhaus nutzte.

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Haus Scheidemantel

Die Erhöhung seines Hauses auf drei Geschosse führte dazu, dass der Nachbar eine hohe Mauer zur Trennung der beiden Gärten hochzog. Einsprüche und gerichtliche Klagen waren die Folge, die jedoch immer erfolglos blieben. Als die Behörde es schließlich auch noch tolerierte, dass Rentel einen 3,50 m hohen eisernen und undurchsichtigen Trennungszaun auf der Vorderseite zwischen den zwei Häusern errichtete, resignierte Scheidemantel. Er erwarb einige Hausnummern weiter, neben der Villa Gutmann, ein weiteres Grundstück um dort seinen Wohnsitz aufzuschlagen.
Das auf dem Grundstück Bertinistraße 16b vorhandene, freistehende quadratische Haus von 1886 ließ er 1919 – 1921 von dem Baumeister Max Erxleben vergrößern. Dieser hatte auch schon die Umbauten für Herbert Gutmann auf dem Gelände der Villa Jacobs und der Villa Gutmann ausgeführt. Die Nr. 16b wurde jetzt direkt an die Brandwand von Gutmanns Wagenremise angebaut, auf dem Grundstück mehrere Wirtschaftsgebäude errichtet. Ob diese Baumaßnahmen einen erneuten Nachbarschaftsstreit auslösten, ist nicht bekannt. Scheidemantel behielt jedenfalls auch noch sein altes Haus Nr. 15 bis zur Enteignung 1945. Bis zum Abzug der Sowjettruppen 1993 wohnten russische Offiziere in den zwei Häusern. Uwe Fenner kaufte außer dem „Ulmenhof“ auch noch das Haus Scheidemantel, belegte es mit dem Fantasienamen „Haus Kensington“ und betrieb darin eine „Knigge-Agentur“, in der die Kunden ihre Umgangsformen auffrischen konnten. Nach der „Ulmenhof“-Pleite musste er es aber zur Begleichung seiner Schulden verkaufen .

8 Das Wasserwerk

Verwaltungsgebäude des Wasserwerks

1876 eröffnete die Stadt Potsdam ihr erstes Wasserwerk am Jungfernsee. Die Wassergewinnung lag direkt am Seeufer, neben dem heute noch existierenden gelben Verwaltungsgebäude in der Bertinistraße 18 – 22. Den Hochbehälter zur Erzeugung des Wasserdrucks legte man auf die halbe Höhe des Pfingstberges, wo er, durch eine Inschrift gekennzeichnet, neben der Villa Henkel auch heute noch steht und pumpte das gewonnene und gefilterte Wasser mit einer Dampfpumpe hinauf. Da die Kapazität dieses kleinen Wasserwerks schon bald nicht mehr ausreichte, wurden weitere errichtet: um 1900 Wasserwerk II in der Speicherstadt an der Havel, gegenüber vom Lustgarten, 1932 Wasserwerk III im Wildpark und 1956 das Wasserwerk IV in Nedlitz, das das alte überflüssig machte.

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Verwaltungsgebäude des Wasserwerks I.

Außer dem Verwaltungsgebäude ist von den technischen Funktionsgebäuden des Wasserwerks nur noch der rechts neben dem Wachtturm liegende, hinter Mauersegmenten und unter Gestrüpp verborgene Betonbauteil übrig geblieben. Dieser Bau ist der ehemalige Reinwasserfilter, stammt aber offensichtlich nicht mehr aus der Erbauungszeit. Die anderen historischen Gebäude (Pumpenhaus etc.) wurden Anfang der 70er Jahre wegen der Umstrukturierung des Geländes abgerissen, das letzte Gebäude erst Ende der 70er Jahre wegen Einsturzgefahr.

Das Verwaltungsgebäude Bertinistr. 18 – 22 war seit seiner Erbauung ständig von einem Maschinenmeister und Heizer bewohnt, heute von einer Schiffsdesign-Firma und Segelmacherei. Mittlerweile wurde es verkauft und leer gezogen. Während Planungen im Gange sind, die erhaltenen Reste der Grenzkontrollanlage (s. u.) zu erhalten, riss man erst kürzlich den DDR-Anbau an das Verwaltungsgebäude ab.

Schiffskontrollstelle

GÜSt
Spundwand der „GÜSt“, im Hintergrund die Villa Jacobs.

Weil sich hier die engste Stelle des Jungfernsees befindet, bot sich das Gelände geradezu an für eine Verlegung der GÜSt (Grenzübergangsstelle) Nedlitz, die unweit im Weißen See gelegen, den wachsenden Schiffsverkehr nicht mehr bewältigen konnte. Die Engstelle wurde zunächst mit an eingerammten Dalben festgemachten Pontons versperrt, wobei man nur an den beiden Ufern schiffsbreite Durchlässe freihielt. Aus dem Wasserwerk wurde eine streng bewachte Kontrollstelle für die nach West-Berlin durchfahrenden Schiffe. Das Verwaltungsgebäude des alten Wasserwerks versah man mit einem den Blick auf den See versperrenden Anbau und benutzte es als Dienstsitz für die DDR Grenztruppen. Daneben baute man einen Wachtturm und eine Seilwinde, mit deren Hilfe man die schmalen Durchfahrten durch ein Drahtseil (mit angehängtem Fangnetz) sperren konnte.

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Bertinienge mit Wachtturm, von Süden

Die daneben gelegene Schiffswerft für die Kontrollboote erachtete man als so sehr „zur Flucht einladend“, dass man sie völlig mit den bekannten Mauersegmenten umgab. Die Uferlinie bis hin zur Villa Jacobs wurde begradigt, mit Ostseesand aufgefüllt und zum Festmachen der Schiffe mit einer hässlichen Spundwand versehen. Durch die Sandanschüttung steht das Bootshaus der Villa Gutmann jetzt einige Meter vom Seeufer entfernt. Jenseits der Sperre baute man einen Holzsteg für weitere Kontrollboote, so dass diese die Sperre nicht durchfahren mussten. Um diesen Steg, den das Wasser- und Schifffahrtsamt als Privatsteg genehmigte und verkaufte, ist eine typische Potsdamer Behördenposse entstanden, denn die Stadt verlangt von dem Eigentümer, der arglos mit einer Bundesbehörde (WSA) einen Vertrag geschlossen hat, den Abriss des von der DDR errichteten Bauwerks auf eigene Kosten. (Mehr über die Kontrollstelle findet sich in der Publikation „GÜSt“ auf dieser Website).

Unweit von hier hatte sich bereits in den 1860er Jahren der Zuckerfabrikant Ludwig Jacobs ein eigenes kleines Wasserwerk mit Maschinenhaus und Hochbehälter für die Bewässerung der Gartenanlagen auf dem Grundstück seiner Sommervilla „Am Weinberg“ bauen lassen. Während dessen Hochbehälter spurlos verschwunden ist, zeigt das Maschinenhaus nach aufwändiger Restaurierung wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild, allerdings nur von außen.

9 Der Großbürger

Villa Gutmann

Ursprung

Am Ende der Bertinistraße, Haus Nr. 16, erstreckt sich eine besonders ausgedehnte Villenanlage: der Herbertshof, benannt in den 20er Jahren nach seinem Erbauer Herbert Gutmann. Auf diesem Grundstück, zusammen mit dem der Villa Jacobs, Nr. 17, liegt der Ursprung der Besiedlung der Bertinistraße. Vor 1787 musste hier die Besitzerin der „Töpferkute“, Sophie Hildebrandt drei Kolonistenhäuser errichten. Das waren einfache, einstöckige Wohnhäuser für jeweils zwei Kolonistenfamilien, preußische Neubürger, die diese Häuser unentgeltlich zur Verfügung gestellt bekamen. Der sparsame preußische Staat richtete es jedoch so ein, dass sie durch Privatleute finanziert wurden. Lange blieben die Kolonisten nicht in diesen weitab von ihren Arbeitsplätzen gelegenen Wohnungen. Wie in den anderen beschriebenen Häusern auch, zogen es wohlhabende Bürger (Offiziere a. D., reiche Kaufleute) vor, hier inmitten der Natur den Sommer über zu wohnen. Da die Kolonistenhäuser winterfest gebaut waren, gab es hier von Anfang an auch ganzjährige Bewohner. Das Ensemble wurde bis nach 1874 unter der Hausnummer 10 geführt, 1881 finden sich zum ersten Mal die Hausnummern 16 und 16a.

Um diese Zeit kauften sich wohlhabende Berliner in der Gegend ein. So bewohnten der Kaufmann S. Bernau bzw. später seine Witwe das südlichste Haus (Nr. 16) von 1881 – 1903, der Bankier Burghalter das mittlere (Nr. 16a) von 1874 – 1903. 1903 kaufte der Bankier Dr. Ernst Heller die Grundstücke von Bernau und Burghalter, fasste 2 der alten Kolonistenhäuser zu einem villenartigen Anwesen zusammen und brach das dritte teilweise ab. Dieses Ensemble verkaufte er 1919 an seinen Vetter Herbert Gutmann, der es bereits seit 1913 gepachtet hatte.

Herbert Gutmann

Herbert M. Gutmann wurde 1879 in Dresden geboren. Er entstammte einer assimilierten, jüdischen großbürgerlichen Familie, die, einer Empfehlung Bismarcks folgend, 1898 zum Protestantismus übergetreten war. Sein Vater Eugen hatte 1872 die Dresdner Bank gegründet und gehörte zu den führenden Bankiers des Kaiserreichs. Auch der Sohn wurde Bankier. Er machte sich als Mitbegründer der Deutschen Orientbank und als Vorstandsmitglied der Dresdner Bank mit dem Zuständigkeitsbereich Auslandsgeschäft einen Namen. Darüber hinaus war er Aufsichtsratsmitglied in bis zu 50 großen Unternehmen.

Villa Gutmann 20er Jahre
Villa Gutmann, 20er Jahre
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Arabicum

Er war ein bedeutender Kunstsammler und führte zusammen mit seiner Frau Daisy von Frankenberg einen der namhaftesten Salons der Zeit, zuerst in seiner Wohnung am Pariser Platz, später im „Herbertshof“ in Potsdam. Wichtige Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Kunst und Sport waren hier zu Gast, u. a. im Jahre 1926 der König von Schweden. Dafür wurde die Villa großzügig ausgebaut und im Innern üppig mit Kunstgegenständen ausgestattet, u. a. ein barockes Deckenfresko im Festsaal und das „Arabicum“, eine syrische Wohnzimmer-Innenarchitektur aus dem 18. Jahrhundert, die Gutmann auf einer Orientreise in Damaskus angekauft hatte und die mit nur drei weiteren Exemplaren dieser Art eine absolute Rarität darstellt.

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Arabicum

Gutmann war auch der Gründer und von 1928 bis 1932 Präsident des „Golf und Land-Clubs Berlin Wannsee“. Wie auch für die Familie Hagen am Anfang der Straße spielte der Sport und die Körperkultur für die Gutmanns eine große Rolle. Schon der Vorbesitzer Ernst Heller besaß auf dem Gelände einen Tennisplatz, der von Gutmann 1920 ausgebaut wurde. Auf dem Nachbargelände, dem Garten der Villa Jacobs, ließ Gutmann später einen weiteren Tennisplatz anlegen. Am Ufer des Jungfernsees entstanden ein Bootshaus und ein abgeschirmtes Badehaus mit einem Zugang durch einen Tunnel unter der Bertinistraße hindurch, um den Wassersport unbelästigt durch indiskrete Blicke zu ermöglichen. Das Haus besaß zahlreiche Sonnenterrassen und Sitzplätze an der frischen Luft. Die Krönung des Ganzen war aber die von dem Bauhausarchitekten Reinhold Mohr (vielleicht nach Entwurf des renommierten Potsdamer Architekten Laurenz Dietz) 1927 eingebaute Turnhalle mit angeschlossenem Kachelbad, dessen Fliesen von einem renommierten Keramikkünstler entworfen wurden.

Turnhalle
Turnhalle

Zur Selbstversorgung mit frischen Lebensmitteln gründete Gutmann auf seinem Gelände eine Gärtnerei, in der ein selbstständig wirtschaftender Gärtner Gemüse anbaute, das Gutmann ihm dann abkaufte. Eine mit Steinkohle beheizte Gewächshausanlage zog sich den Hang des Grundstücks hinauf. Zum Transport der Kohle wurden Schienen verlegt, auf denen eine Lore rollte. Zu Gutmanns Gärtnerei wird noch mehr in der Publikation „Die Zuckerburg am Jungfernsee“ ausgeführt.

Die „Goldenen 20er Jahre“ (für viele einfache Menschen gar nicht so „goldig“!) waren die hohe Zeit des Herbertshofes. Obwohl nicht nach dem stringenten Entwurf eines überragenden Architekten erbaut, hatte die ständig nach den Wünschen des Hausherrn um- und weiter gebaute Villenanlage einen hohen Reiz und selbst heute, im Zustand des ruinösen Stillstands, der sich seit 16 Jahren hinzieht, ist noch zu erahnen, dass sich hier ein besonders wertvolles Beispiel der untergegangenen großbürgerlichen Lebensweise befindet.

Hatte Gutmann den verlorenen Krieg, die Inflation und den Börsenkrach in New York wirtschaftlich noch halbwegs unbeschadet überstanden, so griff 1931 die Bankenkrise erheblich in sein Leben ein. Er wurde aus dem Aufsichtsrat der Dresdner Bank entlassen, was einen sofortigen Wegfall des größten Teils seiner Einkünfte bedeutete. Der feudale Lebensstil auf dem „Herbertshof“ ließ sich damit nicht aufrecht erhalten. 1932 ließ Gutmann seine chinesische Porzellansammlung bei Sotheby‘s versteigern, 1934 seine gesamte Kunstsammlung.

Das Aufkommen des Nationalsozialismus hatte Gutmann zunächst gelassen verfolgt. Er war schließlich mit einer „Arierin“ verheiratet und in seiner politischen Einstellung durchaus „deutsch-national“. Der Boykottaufruf gegen jüdische Geschäfte und der ständig wachsende Antisemitismus gaben ihm jedoch zu denken. 1934 gab er den Wohnsitz im Herbertshof auf und zog nach nebenan in die wesentlich kleinere und durch ihr großes eingezäuntes Parkgrundstück auch abgelegenere Villa Jacobs.

Der 30. Juni 1934, die „Nacht der langen Messer“, war das Ereignis, bei dem der NS die Maske fallen ließ. Bei dieser, von den Nazis verschleiernd als „Röhm-Putsch“ bezeichneten, blutigen Abrechnung mit konservativen Gegnern und der Opposition in den eigenen Reihen war der vorletzte Reichskanzler der Weimarer Republik, General von Schleicher, ein guter Bekannter der Gutmanns, ermordet worden. Herbert Gutmann wurde verhaftet und, zusammen mit dem damals in Babelsberg lebenden Konrad Adenauer, in der Villa Jacobs interniert. Gutmann hatte den Nazis diesen Ort selbst angeboten, da in diesen Tagen alle Gefängnisse überfüllt waren. Adenauer war den Nazis als Politiker des alten „Systems“, als langjähriger Präsident des Preußischen Reichsrates, dem er als Oberbürgermeister von Köln automatisch angehörte, verhasst. Nach seiner Absetzung als Oberbürgermeister war er in Babelsberg untergetaucht. Auf Intervention von Gutmanns „arischer“ Frau wurden sowohl Adenauer als auch Gutmann glücklicherweise wieder frei gelassen.

Noch bis 1936 blieb Gutmann*) Optimist und hoffte, dass der Nazispuk von selbst in sich zusammenfallen würde. Die während der olympischen Spiele scheinbare Zurückhaltung der Nazis in Bezug auf die Judendiskriminierung endete jedoch abrupt direkt nach den Spielen. Während eines Italienurlaubs erreichte ihn ein Telegramm mit der Warnung, „wegen des schlechten Wetters“ nicht nach Berlin zurückzukehren. Dies bewog ihn, von Italien aus direkt ins Exil nach London zu gehen, wo er in sehr bescheidenen Verhältnissen lebte und nach wenigen Jahren an Krebs starb. Kurz davor (1939) hatte er den Herbertshof von London aus verkauft. (Über das noch in der Villa Jacobs wohnende Kindermädchen Barbara Schmidt an den (obskuren) „Verein für das Deutschtum im Ausland“, für einen lächerlich niedrigen Preis). Nach Abzug der „Reichsfluchtsteuer“, die allen Juden auferlegt wurde, die das Land verlassen wollten, blieb ein bescheidener Betrag übrig, der auf einem „Auswanderersperrkonto“ fest lag und 1941 vom Deutschen Reich konfisziert wurde. Der Verein nahm das Haus nie in Besitz, ab 1943 wurde es als Lazarett der Wehrmacht genutzt.

*) Sehr ausführlich wird alles über Gutmann und seine Villa in dem Prachtband „Herbert M. Gutmann“ von Vivian Rheinheimer (Hg.) ausgebreitet, in dem sich auch opulente Fotos vom Interieur der Villa und dem gesellschaftlichen Leben der Gutmanns finden.

Die russische Besatzungsmacht beschlagnahmte das Gutmannsche Anwesen als „NS-Vermögen“ und übertrug es an die Stadt Potsdam, 1945 zog eine städtische Kinderklinik ein. Das Adressbuch von 1949 verzeichnet 44 Bewohner (Personal und Säuglingsschwestern) was aber trotz der Größe des Gebäudes unwahrscheinlich klingt. Wahrscheinlich bezieht sich die Angabe auf das tagsüber hier beschäftigte Personal. 1957 wurde die Anlage zum Altenheim, das Wirtschaftsgebäude Nr. 16a zur Pflegestation. Das Arabicum diente als Aufenthalts- und später Fernsehraum für die Bewohner, in der Turnhalle wurde Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Ins Gärtnerhaus zog eine Angehörige der Denkmalschutzbehörde ein und erwarb es nach der Wende aufgrund des Modrow-Gesetzes *). Durch die Anlage einer Kontrollstelle des Binnenschiffahrtsverkehrs nach West-Berlin wurde die Villa vom Wasser abgeschnitten. Man tat nicht viel, um das Gebäude zu unterhalten, erst sehr spät fiel überhaupt auf, dass sich hochrangige Kunstwerke darin befanden.

*) Aufgrund dieses Gesetzes konnten Hauseigentümer 1990 auch das Grundstück, auf dem das Haus stand, erwerben.

Villa Gutmann1
Villa Gutmann von Süden 2021

1987 wurde das Gebäude leer gezogen und für die Renovierung vorbereitet, ein Zustand, an dem sich seit 35 Jahren kaum etwas geändert hat. Da die Villa jüdisches Eigentum gewesen war, stand einer Rückgabe eigentlich nichts entgegen, trotzdem zog sich das Restitutionsverfahren bis 1992 hin. Auch nach dessen Abschluss kamen die Alteigentümer nicht an ihren Besitz: Eine Gruppe jugendlicher Besetzer war 1991 in die verlassene Villa eingedrungen und hatte sich dort verbarrikadiert. Das Arabicum war glücklicherweise bereits vorher durch eine Holzverschalung geschützt worden und nahm dadurch keinen zusätzlichen Schaden. Erst ein Brand im Haus bot der Polizei den Anlass, das Ensemble 1999 endlich zu räumen. Es wurde vernagelt und von einem Wachschutz überwacht, die Kosten dafür stellte man den Erben in Aussicht.

Villa Gutmann von vorn 2003
Villa Gutmann von vorn, 1999

Die Erbengemeinschaft, die die enorm hohen Instandsetzungskosten nicht allein schultern konnte, stellte die Villa zum Verkauf. Der hohe Sanierungsaufwand (damals von der Stadt in einem internen Papier mit zehn Millionen Mark beziffert) sowie der anfänglich überzogene Kaufpreis (1,6 Mio EUR) schreckten viele potenzielle Käufer ab. Die Planungen der verbliebenen Investoren sahen tiefgreifende Veränderungen der Bebauungsdichte und Umbauten des Baudenkmals vor, die eine Genehmigung des Projekts unmöglich gemacht hätten, da es im Plangebiet des Potsdamer UNESCO- Welterbes lag.

Deshalb verkauften die Gutmannschen Erben im Oktober 2005 das Gelände sehr preiswert (650 000 EUR) an eine Gruppe junger Leute um eine bekannte Schauspielerin, die mit viel Enthusiasmus und Idealismus das denkmalgeschützte Ensemble (einschließlich des Arabicums und der Art-Deco-Turnhalle) wieder herrichten und in einem Mehr-Generationen-Projekt selbst bewohnen wollte. Leider zerbrach die Erwerbergemeinschaft sehr schnell und die verbliebenen Besitzer zeigten sich von der Größe des Sanierungsprojekts bald überfordert. Auch von dem Wohnprojekt ist keine Rede mehr.

Seither verfiel die Villa immer weiter. Die Erwerber sanierten bisher nur das Wirtschaftsgebäude (den kleinsten Teil des Anwesens), in dem sie selbst wohnen. Das Hauptgebäude mit Festsaal, Turnhalle und Arabicum liegt hinter einer löcherigen Bauplane weiterhin ungeheizt brach, gelegentliche Materialanlieferungen bringen keinen ersichtlichen Fortschritt der Bauarbeiten. Wesentlich erfolgreicher waren die Besitzer allerdings mit der Durchsetzung einer Straßensperrung vor ihrem Haus. Während sie selbst seitdem von lästigem Autoverkehr verschont bleiben, muten sie Nachbarn und Ausflüglern auf der Straße stehende Absperrgitter, hässliche Betonpoller, abgestellte Baumaterialien und eine eingeengte Bertinistraße zu – und das seit 16 Jahren!

Villa Gutmann2
Villa Gutmann 2021
Villa Gutmann1
Villa Gutmann von Süden 2021

Ein Beitrag von 80 000 EUR der Deutschen Stiftung Denkmalschutz reichte nur für die Sanierung des westlichen Dachs bis zum First, die marode östliche Hälfte blieb bisher unsaniert. Es ist nur zu wünschen, dass die lange Leidensgeschichte dieses für Potsdam, aber auch für den Lauf der deutschen Geschichte so charakteristischen Bauwerks endlich eine positive Wendung nimmt und die Öffentlichkeit die Gelegenheit bekommt, bei einem Tag der offenen Tür einen Blick auf das Arabicum, immerhin ein äußerst rares Denkmal arabischer Kunst, sowie auf die Art-Deco Turnhalle zu werfen.

10 Villa Jacobs

Über das historisch interessanteste und architektonisch bedeutendste Haus in der Bertinistraße findet man alles in der Publikation: Die Zuckerburg am Jungfernsee.

Villa Jacobs
Villa Jacobs

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