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Vorwort
Dieser Reiseführer informiert über die Geschichte Neapels und führt in zwei Stadtrundgängen und mehreren Ausflügen zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt und ihrer Umgebung: Zu Kastellen wie Castel Nuovo und Castel dell’Ovo, Kirchen wie S. Chiara, S. Lorenzo und dem Dom, den wichtigsten Museen und den schönsten Plätzen. Exkurse zur Kunst, Literatur, Musik, Archäologie und Geschichtswissenschaft vertiefen das Verständnis für die Metropole des Mezzogiorno und die Allgegenwart der Bedrohung durch den Vulkanismus wird in den Kapiteln über den Vesuv, Herkulaneum und die Solfatara von Pozzuoli verdeutlicht.
I Stadtgeschichte von Neapel
Viele verschiedene Völker ziehen durch Neapels Geschichte: Griechen, Römer, Ostgoten, Byzantiner, Langobarden, Normannen, Staufer, Franzosen, Spanier, Österreicher und schließlich Italiener. Neapels 2500jährige Geschichte ist in wesentlichen Teilen durch Fremdherrschaft und Unterdrückung geprägt. Spuren aus fast allen Epochen dieser langen Entwicklung finden sich bis heute in den Gebäuden und Museen, aber auch in den kulturellen Eigenheiten der Stadt und ihrer Bewohner. Neapel ist nach Rom und Mailand die drittgrößte Stadt Italiens und die größte Stadt in Süditalien. Sie ist die Hauptstadt der Region Kampanien und der Provinz Neapel. Die Innenstadt selbst hat etwa 1 Million Einwohner, zusammen mit den Vororten weist sie als Agglomeration über 4,4 Millionen Einwohner auf.
Antike
Neapels Ursprung geht auf das 8. Jahrhundert v. Chr. zurück, als ausgewanderte Griechen aus Rhodos die Stadt Parthenope in dem Gebiet, wo heute das Castel dell’Ovo liegt, gründeten. Den Name leiteten sie von der gleichnamigen Sirene aus der Odyssee ab. (Die Sirenen, Fabelwesen, die teils als betörend schöne Jungfrauen, teils als vogelköpfige Monster dargestellt wurden, versuchten durch verzaubernden Gesang Odysseus‘ Schiff ins Unglück zu stürzen). Um einen Gründungsmythos zu konstruieren, lokalisierten die griechischen Kolonisatoren das Grab der Parthenope an der Stelle ihrer Stadt. Im 6. Jahrhundert v. Chr. wurde diese Siedlung aufgegeben und 100 Jahre später ganz in der Nähe „Neàpolis“ (Neustadt) gegründet, der verlassene Ort erhielt dem Namen „Palaeopolis“ (alte Stadt). Die neuen Bewohner waren Griechen aus dem benachbarten Cuma. Von diesem griechischen Neapolis haben sich nur der Name und spärliche Reste seiner Stadtmauern erhalten. (Besonders gut sieht man sie auf der Piazza Bellini zwischen der Porta Alba und S. Pietro a Maiella. Grosse Tuffstein-Blöcke, sauber geformt und sorgfältig miteinander verklammert bilden einen Teil der antiken Doppelmauer.)
Die griechische Stadt kam ab dem 1. Jh. v. Chr. unter die Herrschaft des Römischen Reiches, während der sie eine Zeit des wirtschaftlichen und kulturellen Wohlstands erlebte, aber ihre griechische Prägung behielt. Die Schönheit ihrer Küsten machte sie schon damals zu einem sehr begehrten Urlaubsort. Die luxuriösen Thermen, die in der Nähe am Golf von Neapel lagen, waren im ganzen Römischen Reich bekannt und beherbergten politische und intellektuelle Persönlichkeiten wie Tiberius, Nero, Cicero und Vergil.
Mittelalter
Mit dem Untergang des Römerreiches war auch Neapels Blütezeit vorbei. Es fiel 543, in der Zeit der Völkerwanderung, zunächst an die Ostgoten, die ersten einer langen Kette von germanischen Stämmen, die sich im Süden niederließen, doch schon 553 ging es an das oströmische Kaiserreich. 200 Jahre herrschten die Byzantiner und wurden 763 von den aus dem Norden eingewanderten Langobarden abgelöst, die es zum Sitz eines Herzogtums machten. Mit dem Gewinn der Selbstständigkeit und der Funktion als Hauptstadt endete die Stagnation der Stadt. Doch 1139, nach der Eroberungung durch die Normannen, endete die langobardische Herrschaft. Der Normanne Roger II. nahm im Jahr 1130 den Titel eines Königs von Sizilien, Kalabrien und Apulien an und schuf ein modernes zentralistisches Staatswesen, das seiner Zeit weit voraus war. Neapel teilte von nun an das Schicksal dieses Staates und wurde die Hauptstadt des festländischen Teils im Königreich Sizilien, weshalb man oft von den „beiden“ Sizilien spricht. Durch die Heirat von Rogers Erbtochter Konstanze mit dem Stauferkaiser Heinrich VI. (1186) fiel das Königreich an die Deutschen und erlebte unter Kaiser Friedrich II. (1194-1250) seine Blütezeit. Dieser errichtete einen streng zentralistischen Beamtenstaat, schuf moderne Gesetze und stiftete 1224 in Neapel die drittälteste Universität Europas. Da das Heilige Römische Reich nun den Vatikanstaat von Norden und Süden in die Zange nahm, geriet Friedrich in einen erbitterten Konflikt mit dem Papst in Rom, dem auch die weltliche Ausrichtung des Stauferstaats mit praktizierter Toleranz gegen Muslime zuwider war. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung setzte der Papst den Kaiser ab (ein ungeheurer Vorgang im Mittelalter) und vergab das Königreich an den Franzosen Karl von Anjou. Zwar konnte sich Friedrich zu seinen Lebzeiten noch behaupten, jedoch zerfiel die Stauferherrschaft nach seinem Tod rasch. Konradin, Enkel Friedrichs II. und letzter dieses Geschlechts, wurde von Karl I. von Anjou auf dem Marktplatz von Neapel hingerichtet (ebenfalls eine Ungeheuerlichkeit für damalige Verhältnisse). Durch den Aufstand der „Sizilianischen Vesper“ verlor die Dynastie der Anjou die Macht in Sizilien schon bald wieder und machte Neapel zur Hauptstadt ihres Restreiches. Die Stadt entwickelte sich unter ihrer Herrschaft erheblich.
Zeit der Spanier, Napoleon und Restauration
Ab 1505, mit der erneuten Zusammenführung der beiden Sizilien unter Ferdinand dem Katholischen aus dem spanischen Hause Aragòn erlebte Neapel seine größte künstlerische und kulturelle Glanzzeit: es wurden viele Kirchen und Monumente erbaut und die Stadt wurde zu einem Treffpunkt für viele ausländische Künstler. Nach der Vereinigung von Kastilien und Aragòn zum Königreich Spanien ging Süditalien an die spanische Krone und Vizekönige (u.a. Pedro de Toledo, 1532-52) verwalteten nun das Südreich von Neapel und Palermo aus. Im weiteren Verlauf der spanischen Epoche stagnierte Neapel/Sizilien allerdings, denn die Politik wurde stets in Madrid gemacht, es geriet nach der Eroberung Mittel- und Südamerikas in eine Randlage im spanischen Weltreich und wurde zu einem der unmodernsten und rückständigsten Staaten Europas. Aufgrund der Verbindung der spanischen Krone mit dem Hause Habsburg ergaben sich Konflikte mit Frankreich, das der „Habsburgischen Umklammerung“ entgehen wollte und dafür sorgte, dass sich die Kronen des Deutsch-Römischen Reiches und Spaniens stets in unterschiedlichen Händen befanden. Die spanischen Bourbonen blieben bei dieser Aufteilung die Herren Neapel-Siziliens.
Nach einem kurzen Zwischenspiel unter den österreichischen Habsburgern gründeten im Jahre 1799 fortschrittliche Bürger – unter dem Einfluss und Schutz französischer Revolutionstruppen – die Parthenopeische Republik (der Name dieses Staates griff bewusst auf den ersten griechischen Namen Neapels und die dort angeblich praktizierte Demokratie zurück). Der Bourbonenkönig Ferdinand I. wurde abgesetzt und verließ das Land. Die Republik hielt nur sieben Jahre, dann setzte Napoleon zuerst seinen Bruder Joseph und nach dessen Inthronisierung als König von Spanien 1808 seinen Schwager Joachim Murat als König von Neapel ein. Insbesondere letzterer führte umfangreiche Sozialreformen durch und erreichte bei der einheimischen Bevölkerung schnell große Beliebtheit. Doch mit dem Untergang Napoleons kam auch das Ende dieses französischen Vasallenstaats; Murat wurde unter den zurückgekehrten Bourbonen als Usurpator erschossen.
Ferdinand I. von Bourbon führte als Herrscher des im Wiener Kongress geschaffenen Königreichs Beider Sizilien (die spanische Oberherrschaft wurde dabei abgeschafft) eine gnadenlose Restauration der alten Verhältnisse durch, die auch die letzten Spuren französischer Reformen beseitigte – die intellektuelle Elite des Landes, die sich der Revolution angeschlossen hatte, wurde dabei quasi ausgerottet. Viele sehen die bis heute anhaltende Rückständigkeit des Südens in diesen Ereignissen begründet. Die Neapolitaner jedoch, die kurzzeitig in den Genuss der Reformen gekommen waren und nun die restaurative Politik der Bourbonen erleiden mussten, blieben aufmüpfig, auch begannen sie sich mit den aus Norditalien kommenden Ideen des Risorgimento anzufreunden, dem Kampf um die Schaffung eines vereinten Italien.
Widerstand gegen Unterdrückung und daraus resultierende Volksaufstände gehörten von nun an zum Alltag in Neapel und sämtliche europäischen revolutionären Ereignisse hatten hier ihre Entsprechung, manchmal sogar ihren Vorläufer, so dass der revolutionäre Initialfunke der Revolutionen Europas im Jahre 1848 vom Königreich Beider Sizilien ausging. In gewohnter Regelmäßigkeit wurden diese Aufstände vom bourbonischen Regime brutal niedergeschlagen, wobei das abstoßendste Beispiel die Bombardierung Messinas während der Revolution von 1848 war. Ferdinand II., erhielt vom Volk dafür den Spitznamen „Re Bomba“, Bombenkönig.
Die italienische Einigung
1860 zog Giuseppe Garibaldi nach der Eroberung Süditaliens unter dem Jubel der Bevölkerung in Neapel ein und die Neapolitaner stimmten in einem Plebiszit mit überwältigender Mehrheit für den Anschluss an das Königreich Italien. Der letzte Bourbonenkönig Franz II. – bereits aus der Stadt geflüchtet – gab seine Kapitulation bekannt, wurde für abgesetzt erklärt und im März 1861 proklamierte man offiziell das Vereinigte Königreich Italien als konstitutionelle Monarchie.
Die Neapolitaner mussten allerdings schon bald erkennen, dass dieser neue italienische Staat nicht der ihre war. Alle Entwicklungsprojekte und Förderungsmaßnahmen der neuen Zentralregierung kamen fast ausschließlich dem Norden des Landes zu Gute, während der Süden vernachlässigt und ausgebeutet wurde. Die Regierung hatte lediglich eine formelle, politische Einigung des Landes erreicht, versagte aber vor der Aufgabe, das Land auch innerlich zu einigen, ja sie bewirkte sogar genau das Gegenteil: Die ungleiche Behandlung der Landesteile führte dazu, dass sich der Norden wirtschaftlich rasant entwickelte und bald Anschluss an die führenden europäischen Industrienationen fand, während der Süden in Armut versank. Hier liegt die Ursache für die Entstehung des bis heute wirksamen Nord-Süd-Gefälles in Italien. Auch Neapel entwickelte sich so zu einer typischen süditalienischen Großstadt, geprägt von Armut, Kriminalität, Schattenwirtschaft und mafiösen Strukturen, die bis in die höchsten politischen und wirtschaftlichen Machtzentren reichen.
Risanamento
Neapels Stadtbild war für Jahrhunderte gekennzeichnet durch den schroffen Gegensatz zwischen feudaler Architektur und den Behausungen der Armen. Während das Königshaus und der Adel in prachtvollen Palazzi mit eigenen Gärten lebte und auch die Kirche mit ihren großen Basiliken und weitläufigen Klöstern nicht zurückstand, drängten sich die Armen in der schon immer sehr großen Stadt in engen Gassen und überfüllten Wohnungen ohne jeglichen hygienischen Standard zusammen. Eine neapolitanische Besonderheit waren die Bassi, meist fensterlose Wohnungen mit maximal zwei Zimmern im Erdgeschoss der großen Mietshäuser, die sich mit der Eingangstür direkt zur Straße hin öffneten. Hier wohnten die Ärmsten der Armen und hier war meist der Ausgangspunkt für die vielen Epidemien, die die Stadt im Laufe der Jahrhunderte heimsuchten.
Der Feudalstaat wusste zwar von diesen Problemen, versuchte sie aber mit falschen Mitteln zu lösen, dem Bau von riesigen Institutionen für Arme, Kranke, Waisen und Invaliden, auch von Großfriedhöfen. An der Ursache für die Missstände änderte sich jedoch nichts, was immer wieder zu Unruhen und Aufständen führte. Erst als das Königreich Beider Sizilien im italienischen Einheitsstaat aufgegangen war, entstanden konkrete Überlegungen, diese Zustände nachhaltig zu verändern. Eine große Cholera im Jahre 1884 gab schließlich den Ausschlag für den Risanamento, ein Gesundungsprojekt der Stadt, das alle Bereiche umfassen sollte.
Die engen Altstadtviertel wurden als Ursache für Epidemien und soziale Unruhen angesehen, weshalb man, ähnlich wie schon Baron Haussman bei seinem radikalen Umbau von Paris in den 1860er Jahren, große Schneisen in Form von Prachtstraßen durch die Altstadt schlug. Die bekannteste dieser Straßen ist der vom Hauptbahnhof zum Hafen führende Corso Umberto I., der von der Bevölkerung heute noch „Il rettifilo“ (die gerade Linie“) genannt wird. Die Straßenränder bebaute man mit vierstöckigen Wohnhäusern von gehobenem Standard, die sich die Armen aber nicht leisten konnten und deshalb noch dichter in den verbliebenen Altstadtvierteln zusammengeballt oder in neu entstehende Armutsgebiete am Stadtrand verdrängt wurden.
Auch über den Verkehr stellte man Überlegungen an, was zum Ausbau des Hauptbahnhofs führte und zur Planung weiterer Eisenbahnlinien zur Erschließung entfernterer Stadtteile und Vorstädte. Die im Stadtgebiet befindlichen Hügel wie bespielsweise den Vomero erschloss man durch Standseilbahnen, aber die Planung für ein einheitliches U-Bahnnetz blieb in den Ansätzen stecken. So kamen die Maßnahmen zur Verbesserung des Verkehrs (insbesondere die neuen Straßendurchbrüche) hauptsächlich dem aufkommenden Autoverkehr zugute, was dafür sorgte, dass die Verkehrsverhältnisse in Neapel nach dem Zweiten Weltkrieg die schlimmsten in ganz Italien waren.
Heute
Die Programme zur weiteren Gesundung Neapels nach dem Zweiten Weltkrieg verliefen – meist nach enthusiastischem Beginn – häufig im Sande. Reaktionäre Kräfte, insbesondere die allgegenwärtige Camorra mit ihren Verästelungen in Politik und Wirtschaft, verfolgten mit Mitteln der Korruption und des Terrors stets ihren eigenen Vorteil und verhinderten damit Verbesserungen zum Wohl der Allgemeinheit.
Erst im Rahmen des gesamtitalienischen Erneuerungsprozesses ab 1992 („Aktion saubere Hände“) änderten sich auch die Verhältnisse in Neapel und die Ära der korrupten Kommunalpolitiker wurde beendet. 1993 wurde Antonio Bassolino vom Mitte-Links-Bündnis L’Ulivo gegen Alessandra Mussolini (!) zum Bürgermeister gewählt. In seiner bis zum Jahr 2001 währenden Amtszeit erlebte die Stadt einen schnellen und nie für möglich gehaltenen Aufschwung. Die Korruption wurde systematisch bekämpft, der Einfluss der Camorra zumindest eingedämmt. Restaurierungsarbeiten am Stadtbild und Sanierungsmaßnahmen wurden eingeleitet. 1994 war Neapel Tagungsort des G7-Gipfels, 1995 wurde die Altstadt von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Bei seiner Wiederwahl 1997 erhielt Bassolino 73 % der Stimmen, im Jahre 2000 wurde er auch Präsident der Region Kampanien. Seit 2001 setzte seine Parteifreundin und Nachfolgerin Rosa Russo Iervolino die von ihm begonnene Kommunalpolitik fort. Um 2007 begannen sich die Probleme Neapels aber wieder zu verschärfen, wie die Enthüllungen von Roberto Saviani über die Camorra und der unglaubliche Müllskandal bezeugten. Seit 2011 versuchte ein links-liberales Bündnis unter dem ehemaligen Staatsanwalt und Mafia-Gegner de Magistris der Probleme Herr zu werden. Dieser trat jedoch zur Wahl 2021 nicht mehr an, seine Stelle nahm der parteilose ehemalige Forschungsminister im Kabinett Draghi, Gaetano Manfredi ein. Der mit absoluter Mehrheit (63%) gewählte ehemalige Professor und Rektor der Neapler Universität Federico II ist Experte für erdbebensicheres Bauen, gewiss keine schlechte Qualifikation für einen Bürgermeister dieser Region.
II Erster Stadtrundgang
1 Castel Nuovo
Unweit des Hafens erhebt sich der imponierende Komplex des Castel Nuovo, wo der Spaziergang durch Neapel beginnen soll. Die Festung wurde ab 1279 von Karl I. von Anjou erbaut, nachdem er das Königreich von den Staufern erobert hatte. Der Stadt fehlte damals eine „moderne“ Verteidigungsanlage, denn das Castel dell’Ovo (s. u.) war bereits 120 Jahre alt; deshalb musste jetzt eine „Neue Burg“ her. Nach nur 3 Jahren war das Bauwerk vollendet, in dem die Anjou-Könige auch ihren Sitz nahmen. In mehreren Kriegen in den folgenden Jahrhunderten wurde die Burg beschädigt und teilweise zerstört. Was wir heute vor uns sehen, ist ein Umbau unter den Aragoniern, der spanischen Dynastie, die auf die Anjou folgte und Sizilien und Neapel wieder vereinte.
Fünf abweisende Türme aus schwarzem Pipernum flankieren den mächtigen Mauerring in Form eines Trapezes. Zwischen zweien von ihnen bildet ein spektakulärer Triumphbogen den Eingang ins Kastell. Um 1464, zum Einzug eines aragonesischen Herrscherpaares fertig gestellt, stellt das an der Antike orientierte Tor das erste Renaissancekunstwerk in Neapel dar. Im Innern, das jetzt als Museum und für kulturelle Veranstaltungen genutzt wird, sind die Schlosskapelle aus der Zeit der Anjou und der Saal der Barone sehenswert. Erstere wurde einst von Giotto, dem Begründer der italienischen Malerei mit Fresken ausgemalt, als dieser Gast des Königs in Neapel war; leider sind sie im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen.
Letzterer stellt eine Art Parlamentssaal dar, stammt aus der Zeit der Aragonier und besitzt eine beeindruckende rippengewölbte Decke. Einst war das Castel Nuovo von einem Häusergewirr umgeben, nach deren Abriss ragt es heute freistend am Hafen auf.
2 Palazzo Reale
Der große Königspalast wurde 1602 zur Zeit der spanischen Vizekönige vom damaligen Stararchitekten, dem obersten Baumeister des Reiches, Domenico Fontana gebaut. Im Palast befinden sich Prunkgemächer, das Hoftheater, eine Gemäldesammlung und Gärten, 1727 entstand das prächtige Treppenhaus. Später wurde er das Machtzentrum der Bourbonenkönige. Im 19. Jh. renovierte man ihn komplett; in die Nischen der Fassade wurden Statuen der acht bedeutendsten Könige von Neapel eingearbeitet. Seit 1925 ist der Palazzo Reale Sitz der Nationalbibliothek von Neapel. Im Museum des Palazzo Reale wird in den ehemaligen königlichen Gemächern ausgebreitet, wie die Bourbonen dereinst gewohnt haben.
3 Piazza Plebiscito
Die Piazza del Plebiscito ist der größte Platz in Neapel. Benannt nach der Volksabstimmung, die im Jahre 1860 das Königreich Neapel in das vereinte Königreich Italien einbrachte, wird er auf der Ostseite durch den Palazzo Reale (Königspalast) und im Westen durch die Kirche San Francesco di Paola begrenzt. Zwei Flügel von Kolonnaden umschließen ihn auf beiden Seiten. Der Platz ist eine Schöpfung aus den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts, als Napoleons Schwager, Joachim Murat, König von Neapel war. Er plante den Platz und die Gebäude als eine Hommage an den Kaiser.
Nach Napoleons Abdankung und der Erschießung Joachim Murats kamen die Bourbonen wieder auf den Thron von Neapel, vollendeten aber dennoch die napoleonischen Bauten. Ferdinand I. weihte die Kirche, die in der Form an das Pantheon in Rom erinnert, dem Heiligen Franziskus von Paola. Sie sollte nun ein Denkmal der Rückeroberung Neapels durch die Bourbonen sein. Auf der Platzmitte wurden die beiden Reiterdenkmäler von Ferdinand I. und Karl III. von Bourbon aufgestellt.
4 Teatro di San Carlo
Das Teatro San Carlo ist Neapels Opernhaus. 1735 wurde es von den Architekten Medrano und Carasale für den Bourbonenkönig Karl III. von Neapel errichtet. Es wurde allein schon wegen seiner Architektur und der prunkvollen Ausstattung bewundert, lange Zeit war es mit 3.300 Plätzen das größte Opernhaus der Welt. Das eindrucksvolle, ganz in Rot und Gold gehaltene Innere weist sechs steil aufragende Ränge und eine prächtige Königsloge auf. Zahlreiche Uraufführungen berühmter Komponisten wie Bellini, Donizetti, insbesondere Rossini und die Auftritte großer Tenöre, wie natürlich Enrico Caruso, Benjamino Gigli und Mario del Monaco machten es zum angesehensten Haus in Europa. Im Februar 1816 zerstörte ein Brand große Teile des Theaters, doch bereits Ende August desselben Jahres wurde es – außen jetzt in klassizistischer Form – wieder der Öffentlichkeit übergeben.
5 Galleria Umberto
Sie ist die berühmteste Laden-Galerie in Neapel und befindet sich direkt gegenüber dem Teatro San Carlo. Sie wurde zwischen 1887-1891, während des Jahrzehnte dauernden Umbaus von Neapel (Risanamento = Wiedergesundung) errichtet. Der Architekt, Emanuele Rocco, verwendete moderne architektonische Elemente aus Stahl und Glas, die an die sehr ähnliche Galleria Vittorio Emanuele II in Mailand erinnern. Die Galerie wurde nach Umberto I. – zum Zeitpunkt des Baus König von Italien – benannt. In ihr verbinden sich gesellschaftliches Leben (Unternehmen, Geschäfte, Cafés) mit privatem Leben in den Wohnungen im dritten Stock. Die Galleria besteht aus einem hohen und geräumigen kreuzförmigen Raum, überwölbt von einer Glaskuppel, die von 16 Metallrippen getragen wird. Von den vier glasgewölbten Flügeln öffnet sich einer auf die Via Toledo, die nach wie vor wichtigste Straße der Stadt, ein anderer auf das Teatro San Carlo. Nach langen Jahren des Verfalls ist sie nun wieder ein aktives Zentrum von Neapels bürgerlichem Leben.
6 Castel dell’Ovo
Das Kastell ist die mittelalterliche Hafenburg, in der heutigen Gestalt aus dem 12. und 13. Jahrhundert. Es liegt auf einer dem Stadtteil Santa Lucia vorgelagerten Felseninsel. Die Insel ist über eine kleine Straße mit dem Festland verbunden. Die Aussicht vom Turm des Castel dell’Ovo ist der schönste Blick auf Neapel. Östlich der Burg entstand durch Geländeaufschüttung ein kleines, heute fast ausschließlich von Restaurants genutztes Siedlungsgebiet mit dem Yachthafen Porto Santa Lucia.
Der Name (Eierburg) stammt von einer alten Legende, der zufolge der Zauberer (!) Vergil (zum Zeitpunkt der Entstehung der Legende hatte man längst vergessen, dass dieser Vergil einer der berühmtesten lateinischen Schriftsteller gewesen war!) in einem Verlies der Burg ein geheimnisvolles Ei hütete, dessen Schicksal eng mit dem der Burg und der Stadt verbunden war. Sollte diesem Ei etwas zustoßen, würde das katastrophale Folgen für die Stadt haben.
Unter der Herrschaft des Normannenkönigs Roger II. wurde das Kastell zum stark befestigten Herrschersitz ausgebaut, später unter den Staufern erweitert und zur Aufbewahrung des kaiserlichen Schatzes bestimmt. Nachdem die Dynastie der Anjou das Castel Nuovo als neue Residenz erbaut hatte, verkam das Castel dell‘Ovo zum Staatsgefängnis. Bis weit ins 20. Jh. blieb es als militärische Anlage für Besucher unzugänglich, jetzt wird es für Ausstellungen genutzt.
7 Stazione Zoologica Anton Dohrn
Die zoologische Station Neapel, 1872 von Anton Dohrn begründet, wurde noch weit bis bis ins 20. Jh. als private Institution von seinen Nachkommen geleitet. Sie ist mit einem großen öffentlichen Aquarium verbunden und sollte der Erforschung der Meeresfauna dienen. Im Geiste Darwins, dessen begeisterter Jünger Dohrn war, sollte die natürliche Züchtung der Arten durch den Kampf ums Dasein beobachtet, überhaupt umfassende Lebensforschung getrieben werden. Durch seine mitreißende Begeisterung und das Einsetzen seines privaten Vermögens gelang es Dohrn, an der schönsten Stelle der Neapler Bucht, in der Villa Reale (königlicher Park), seinen Plan zu verwirklichen. Im März 1872 wurde mit dem Bau begonnen, der damals noch direkt am Meer lag. Erst später wurde das Gelände durch Anschüttungen erweitert, so dass die (jetzt vergrößerte) Station etliche Meter vom Meer entfernt liegt.
Dohrn vermietete die Arbeitsplätze in der Station, die sich dadurch selbst finanzierte. Hier sollte direkt vor Ort an lebendem Material geforscht werden. Zudem waren die entsprechenden wissenschaftlichen Instrumente und betreuendes Personal vorhanden, weshalb das Angebot von Wissenschaftlern in großem Maße genutzt wurde. So konnte sich die Station schnell in eine Begegnungsstätte internationalen Ranges verwandeln, in der Wissenschaftler wie auch Künstler verschiedener Nationen ihr Wissen austauschten. Das Aquarium innerhalb der Station ist eines der ältesten dieser Art in Europa. Es ist für die Öffentlichkeit seit Januar 1874 geöffnet. Heute enthält es rund dreißig Becken mit mehr als zweihundert Arten von Meerestieren und Pflanzen, von denen die meisten aus dem Golf von Neapel stammen.
Als Stazione Zoologica Anton Dohrn ging sie 1967 an den italienischen Staat, führt aber das Konzept ihres Gründers weiter. Sie besitzt eine Fachbibliothek von mehr als 90.000 Bänden auf ca. 3000 Regalmetern. Außerdem verfügt sie über eine wertvolle Sammlung von frühen wissenschaftlichen Texten und ihren Nachdrucken und eine Sammlung von wissenschaftlichen Zeitschriften.
Einen weiteren Bezug zu Deutschland bewahrt die Station im ehemaligen Bibliotheksraum: Die berühmten Fresken von Hans von Mareés (1837 – 1887), des Malers umfangreichstes und wohl bedeutendstes Werk. Er wollte die stille und edle Schönheit der Welt darstellen, die um Neapel kreist und wollte das einfach, klar und großzügig tun. Die Gruppe der Ruderer, von denen sich eine Ölstudie in der Berliner Nationalgalerie befindet, entspricht dem am besten, auch das Gruppenbild, das Anton Dohrn, den Maler und seine Freunde in ihrer Stamm-Wirtschaft in der Ruine des nördlich gelegenen Palazzo di Donn‘ Anna zeigt.
Exkurs Kunst: Hans von Marées
(* 24.12. 1837 Elberfeld – † 5.6. 1887 Rom) deutscher Zeichner, Grafiker und Maler des Idealismus.
Der Sohn eines preußischen Kammerpräsidenten aus altem französisch-niederländischem Adel zeigte schon früh seine zeichnerische Begabung, allerdings behinderten seine Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen eine gradlinige Karriere. An der Berliner Kunstakademie war er 1854 Schüler des auch als Maler und Grafiker renommierten Lehrers Carl Steffeck, von dem er sich aber nach einem Jahr bereits wieder trennte. Nach dem Militärdienst ging er 1857 nach München und schloss sich den Plein-Air-Malern an, die – außerhalb des Ateliers – nach der Natur arbeiteten. Der Kreis seiner Freunde Franz von Lenbach, Adolf Lier und Anton Teichlein stand damals in Opposition zur offiziellen akademischen Kunst. Mit seinem dunkeltonig-malerischen Kolorit orientierte sich Marées in dieser Zeit an den alten Niederländern. Neben Militärmotiven und Landschaftsbildern (darunter das programmatisch vorausweisende „Bad der Diana“, 1863) entstanden eindringliche Freundesporträts und Selbstbildnisse. 1864 wurde er von dem Mäzen Adolf Friedrich Graf von Schack nach Rom geschickt, um bedeutende Gemälde zu kopieren, doch 1868 kam es zum Bruch mit diesem. Marées fand jedoch im Kulturphilosophen Konrad Fiedler einen neuen Mäzen. Auf einer gemeinsamen Reise 1869 nach Spanien, Frankreich und Holland entwickelte er um 1870, besonders beeindruckt von Delacroix, eine neue Farbkraft und eine sich verfestigende idealistische Formensprache (z. B. „Orangenpflückender Reiter“, 1869/70). Dadurch kam er mit den neu-idealistischen „Deutsch-Römern“ um Arnold Böcklin, Anselm Feuerbach und Adolf von Hildebrand in Kontakt. Adolf von Hildebrand verehrte Marées und „hütete“ seinen Schüler „fast rührend und väterlich wie sein spezielles Kleinod“.
Mit Hildebrand eng befreundet, arbeitete Marées 1871/72 gemeinsam mit ihm in Berlin, anschließend allein in Dresden. Als einzigen Großauftrag seines Lebens führte er die von Fiedler finanzierte Ausstattung der Zoologischen Station in Neapel mit Fresken 1872 aus. Mit der monumentalen Überhöhung einer realistischen Szenerie am Golf von Neapel ist das Werk eine der bedeutendsten deutschen Kunstleistungen des 19. Jahrhunderts. Marées schloss Freundschaft mit Arnold Böcklin, trennte sich aber 1876 von Hildebrand und ging endgültig nach Rom, wo er einsam und öffentlichkeitsscheu sein reifes Werk schuf. Angesichts der als unübertroffen geltenden Werke Raffaels und der klassischen antiken Skulptur, die er hier vorfand, war es der Ausdruck seiner unerfüllten Sehnsucht nach idealer menschlicher Existenz in der Natur. Mit klassischen Akten in südlicher Landschaft, oft von mythologisch Themen inspiriert, fand er hier zu letzter formaler Klarheit und dunkelglühender Farbkraft (z. B. in den Triptychen „Die Hesperiden“, zwei Fassungen 1879/80 und 1884/87; „Die Werbung“, 1885–87; „Die heiligen drei Reiter“, 1885–87). Sein selbstquälerisches Vollkommenheitsstreben veranlasste ihn jedoch immer wieder zu Übermalungen seiner Werke.
Zu Lebzeiten stets unverstanden, wurde er erst nach der Jahrhundertwende − zum Teil ebenfalls mit Missdeutungen wie z. B. in nationalsozialistischer Zeit − als Wegbereiter einer modernen figurativen Ausdruckskunst erkannt. Größere Werkbestände von Marées befinden sich in der Neuen Pinakothek München (Schenkung von Fiedler 1891), der Staatlichen Graphischen Sammlung München, dem Von der Heydt-Museum Wuppertal und in der Nationalgalerie Berlin.
!887 starb Hans von Marées in Rom und wurde auf dem protestantischen Friedhof in Rom (cimitiero acattolico) nahe der Cestius-Pyramide beigesetzt. Dort kann man sein Grab heute noch besuchen.
Exkurs Literatur: Curzio Malaparte
Der als Curt Erich Schuckert 1898 in Prato geborene Schriftsteller hatte einen deutschen Vater und eine italienische Mutter. Sein Pseudonym Malaparte ist eine Anspielung auf den Namen Napoleons, dessen Bedeutung er ins Gegenteil verkehrte. (Bonaparte = der gute Teil). Er publizierte sein Werk auf italienisch und machte im Verlauf seines Lebens etliche politische Wandlungen durch. So befürwortete er anfangs den italienischen Faschismus, wandte sich aber wieder von ihm ab. Geschockt durch die fünfjährige Internierung auf der berüchtigten Gefängnisinsel Lipari ließ er sich als Korrespondent des Corriere della Sera nach Äthiopien versetzen, wo er eigentlich die faschistische Kolonialpolitik in Afrika dokumentieren wollte, sich aber auch an der Bekämpfung der äthiopischen Rebellen beteiligte und dafür mit dem Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. Anschließend wurde er Kriegsberichterstatter, was ihm wohl endgültig die Augen für die Verbrechen des Faschismus öffnete.
Nach dem Ausstieg Italiens aus der Koalition mit Hitler arbeitete er als Verbindungsoffizier für die Amerikaner während der Invasion der Apeninnenhalbinsel. Aus dieser Zeit stammt sein Roman „Die Haut“ in dem er schonungslos die sozialen Bedingungen der Einwohner Neapels am Kriegsende schilderte. Ganz anders als der sozialkritische und schockierende Inhalt dieses Buches ist das satirische Kapitel über das Dinner bei General Cork, von dem unten eine Leseprobe gegeben wird. Es beschäftigt sich ausgiebig mit dem Aquarium der zoologischen Station. Malaparte engagierte sich nach dem Krieg für die kommunistische Partei und schrieb weitere Bestseller wie „Kaputt“. Sehr bekannt ist die Villa Malaparte auf Capri, das Sommerhaus im Stil der Moderne, das er sich auf der Insel vor Neapel errichtete. Gegen Ende seines Lebens erkrankte er an Lungenkrebs und trat wieder zum Katholizismus über, 1957 starb er in Rom.
Dinner bei General Cork
„Nach der Befreiung Neapels hatten die Alliierten aus militärischen Gründen die Fischerei im Golf verboten: zwischen Sorrent und Capri, zwischen Capri und Ischia war das Meer von Minenfeldern abgeriegelt und mit Treibminen durchsetzt, die eine große Gefahr für die Fischerei bildeten. Und die Alliierten, vor allem die Engländer, wollten aus Mißtrauen die Fischer nicht aufs offene Meer hinausfahren lassen aus Sorge, diese könnten deutschen Unterseebooten Nachrichten übermitteln oder sie mit Brennstoff versorgen oder sonstwie die Hunderte und Aberhunderte von Kriegsschiffen, Truppentransportern, Liberty-Ships, die im Golfe vor Anker lagen, in Gefahr bringen. Wie kann man neapolitanischen Fischern mißtrauen, sie derartiger Verbrechen für fähig halten! Aber jedenfalls: die Fischerei war verboten.
In ganz Neapel war es unmöglich, nicht nur etwa einen Fisch, sondern auch nur eine Fischgräte aufzutreiben: keine Sardelle, keinen Hummer, keine Barbe, keinen Seepo- lyp, keine Muschel. Wenn also General Cork irgendeinem hohen alliierten Offizier ein Essen gab, wie Marschall Alexander oder General Juin oder General Anders, oder ei- nem wichtigen Manne der Politik, wie Churchill, Wyschinskij, Bogomolow, oder auch einer Abordnung amerikanischer Senatoren, die im Flugzeug aus Washington ankamen, um Urteile der Soldaten der Fünften Armee über ihre Generäle, um deren Meinungen oder Ratschläge zu den schwierigsten Problemen des Krieges zu sammeln – bei solchen Gelegenheiten hatte General Cork sich daran gewöhnt, den Fisch für seine Tafel im Aquarium von Neapel angeln zu lassen; in diesem berühmten Aquarium, das nach dem von Monaco wohl das bedeutendste Europas ist.
Bei Corks Einladungen war der Fisch daher stets frisch und von seltener Art. Bei dem Essen, das er zu Ehren General Eisenhowers gab, hatten wir den „Riesenpolypen“ ver- speist, den der deutsche Kaiser Wilhelm II. dem Aquarium in Neapel geschenkt hatte. Die bekannten japanischen Fische, die sogenannten „Drachen“, Gaben des japanischen Kaisers Hirohito, waren auf dem Tisch General Corks zu Ehren einer Gruppe amerikanischer Senatoren geopfert worden. Das riesige Maul dieser Fischungeheuer, die gelben Kiemen, die schwarzen und dunkelroten Flossen, die den Flügeln von Fledermäusen glichen, der grüngoldene Schwanz, die stachelbewehrte, mit einem Raupenkamm wie der Helm des Achill geschmückte Stirn hatten Eindruck auf die Gemüter der Senatoren gemacht, die über den Gang des Krieges gegen Japan ihre Sorgen hatten. Doch General Cork, der militärische Tugenden mit den Eigenschaften eines vollendeten Diplomaten verband, hatte die Stimmung seiner Gäste wieder gehoben, indem er das allbekannte Lied der amerikanischen Pazifikflieger, „Johnny got a zero“, anstimmte, das alle im Chore mitsangen.
In der ersten Zeit hatte General Cork den Fisch für seine Tafel in den Gewässern des Lucriner Sees fangen lassen, die berühmt sind wegen der köstlichen, aber mordlustigen Muränen, welche Lucullus, der ein Landhaus in der Gegend hatte, mit dem Fleisch seiner Sklaven füttern ließ. Aber amerikanische Zeitungen, die keine Gelegenheit versäumten, schwere Vorwürfe gegen das Oberkommando zu erheben, hatten General Cork der „mental cruelty“ beschuldigt, weil er seine Gäste, „ehrenwerte amerikanische Bürger“, gezwungen habe, die Muränen des Lucullus zu essen. „Würde General Cork uns sagen“, hatten einige Zeitungen zu drucken gewagt, „mit was für Fleisch er seine Muränen füttert?“
Eben diese Anschuldigung hatte General Cork veranlaßt, in Zukunft den Fisch für seine Tafel im Aquarium von Neapel fangen zu lassen. So waren, einer nach dem anderen, die seltensten und berühmtesten Fische des Aquariums der „mental cruelty“ General Corks geopfert worden; sogar der heroische Schwertfisch, ein Geschenk Mussolinis – man hatte ihn gesotten auf den Tisch gebracht, mit gekochten Kartoffeln garniert -, und der prächtige Thunfisch, ein Geschenk seiner Majestät Victor Emanuels II., und die Hummern der Isle of Wight, ein huldvolles Geschenk Seiner Britischen Majestät, Georgs V.
Die kostbaren perlenbildenden Austern, die der Herzog von Aosta, Vizekönig von Äthiopien, dem Neapler Aquarium als Geschenk gesandt hatte – es waren Perlenaustern von der arabischen Küste, gegenüber Massaua -, hatten das Festmahl bereichert, welches General Cork zu Ehren Wyschinskijs gab, des späteren sowjetischen Volkskommissars und damaligen russischen Vertreters in der Alliierten Kommission für Italien. Wyschinskij hatte sich sehr erstaunt gezeigt, in jeder seiner Austern eine rosa Perle von der Farbe des aufgehenden Mondes zu finden. Und er hatte die Augen vom Teller erhoben und General Cork mit dem gleichen Blick ins Gesicht gesehen, mit dem er den Emir von Bagdad bei einem Gelage aus „Tausendundeiner Nacht“ angesehen hätte.
„Spucken Sie den Kern nicht aus“, hatte General Cork zu ihm gesagt, „er ist kostbar.“ – „Aber das ist ja eine Perle!“, hatte Wyschinskij ausgerufen. – „Of course, it is a pearl! Don’t you like it?“
Wyschinskij hatte die Perle hinuntergeschluckt, wobei er auf russisch zwischen den Zähnen murmelte: „Diese verkommenen Kapitalisten!“
Und nicht weniger erstaunt schien Churchill gewesen zu sein, als er, Gast General Corks, auf seinem Teller einem merkwürdigen Fisch begegnete, rund und lang, von stählerner Farbe, von derselben Farbe wie die Wurfscheiben antiker Diskuswerfer.
„Was ist das?“, fragte Churchill. – „Ein Fisch“, erwiderte General Cork. – „A fish?“, zweifelte Churchill und betrachtete sich aufmerksam diesen seltsamen Fisch.
„Wie nennt man diesen Fisch?“, fragte General Cork den Haushofmeister. – „Es ist eine Torpedine, ein Zitterrochen“, antwortete der Haushofmeister. – „What?“ , fragte Churchill. – „A torpedo“, sagte General Cork. – „A torpedo?“, fragte Churchill. – „Yes, of course, a torpedo“, bestätigte General Cork, und an den Haushofmeister gewendet, fragte er diesen, was eine „Torpedine“ sei.
„Ein elektrischer Fisch“, antwortete der Haushofmeister. – „Ah, yes, of course, ein elektrischer Fisch!“, sagte General Cork zu Churchill, und beide sahen einander lächelnd an, ihre Fischbestecke in halber Höhe haltend, ohne zu wagen, den „Torpedo-Fisch“ zu berühren.
„Sind Sie sicher, daß er nicht gefährlich ist?“, fragte Churchill nach einigen Augenblicken des Schweigens.
General Cork wandte sich an den Haushofmeister: „Glauben Sie, daß es gefährlich ist, ihn zu berühren? Ist er mit Elektrizität geladen?“ – „Die Elektrizität“, antwortete der Haushofmeister in seinem neapolitanisch gefärbten Englisch, „ist gefährlich, wenn sie roh ist: Gekocht ist sie nicht schädlich.“
„Ah!“, riefen wie aus einem Munde Churchill und General Cork; und mit einem Seufzer der Erleichterung berührten sie den elektrischen Fisch mit der Spitze ihrer Gabel.
Aber eines schönen Tages war es mit den Fischen aus dem Aquarium zu Ende: es waren lediglich die berühmte Sirene – ein seltenes Exemplar der Gattung der „Sirenoiden“, deren nahezu menschliche Gestalt die antike Sage von den Sirenen entstehen ließ – und einige prachtvolle Korallenzweige übriggeblieben.
General Cork, der die löbliche Gewohnheit hatte, sich persönlich um die kleinsten Dinge zu kümmern, hatte den Haushofmeister gefragt, welche Sorte Fisch man im Aquarium für das Essen zu Ehren von Mrs. Flat finden könne.
„Es ist nur wenig übriggeblieben“, hatte der Haushofmeister erwidert, „eine Sirene und ein paar Korallenzweige. „Ist das ein guter Fisch, die Sirene?“ – „Ein ausgezeichneter Fisch!“, hatte der Haushofmeister geantwortet, ohne mit der Wimper zu zucken. – „Und die Korallen?“, hatte General Cork weiter gefragt, der besonders peinlich besorgt war, wenn es um eines seiner Dinners ging, „kann man die essen?“ – „Nein, Korallen nicht. Sie sind etwas schwer verdaulich.“ – „Also dann keine Korallen.“ – „Wir könnten sie als Garnierung geben“, hatte der Haushofmeister angeregt, unerschütterlich. – „That’s fine!“ Und der Haushofmeister hatte auf die Menukarte geschrieben: „Sirene in Mayonnaise, mit Korallen garniert.“
Und jetzt saßen wir alle, stumm vor Überraschung und schreckensbleich, und starrten auf das arme, tote Mädchen, das da mit offenen Augen auf der silbernen Platte ausgestreckt lag, auf einem Bett aus grünen Salatblättern, inmitten einer Girlande rosenroter Korallenzweige.
Wenn man durch die ärmsten Gassen Neapels geht, begegnet es einem häufig, daß man in diesem oder jenem „Basso“ durch die offen stehende Tür hindurch einen Toten auf seinem Bette ausgestreckt liegen sieht, von einer Blumengirlande umkränzt. Und nicht selten erblickt man so auch ein totes Mädchen. Aber ich hatte noch nie ein totes Mädchen inmitten einer Girlande von Korallen daliegen sehen. Wieviele arme neapolitanische Mütter hätten sich für ihre kleinen Toten eine so prachtvolle Girlande aus Korallen gewünscht! Die Korallen gleichen den Zweigen blühender Pfirsichbäume, man betrachtet sie mit Freude, sie verleihen Kinderleichen etwas Heiteres, etwas Frühlingshaftes. Ich betrachtete dieses arme, gesottene Mädchen und fühlte, wie ich vor Mitleid und Stolz erschauerte. Welch ein wundervolles Land, dies Italien!, dachte ich. Welch anderes Volk dieser Welt kann sich den Luxus erlauben und ein fremdes Heer, das sein Land zerstört und besetzt hat, mit einer Sirene bewirten, mit Sirene in Mayonnaise und Korallen-Beilage? Ach, es lohnte sich, den Krieg zu verlieren, nur um diese amerikanischen Offiziere zu sehen, diese stolze amerikanische Frau, wie sie bestürzt und bleich vor Entsetzen um die Leiche einer Sirene herumsaßen, einer Meeresgottheit, die tot auf einer silbernen Platte ausgestreckt dalag, auf der Tafel eines amerikanischen Generals!
„Disgusting!“, rief Mrs. Flat und bedeckte sich die Augen mit den Händen.
„Yes … I mean … yes … „, stotterte bleich und bebend General Cork.
„Weshalb?“, fragte ich; „es ist ein ausgezeichneter Fisch.“
„Aber das muß ein Irrtum sein! I beg pardon … but … es muß ein Irrtum sein … I beg pardon … „, stammelte mit klagender Stimme der arme General Cork.
„Ich versichere Ihnen, daß es ein ausgezeichneter Fisch ist“, sagte ich.
„Aber wir können das nicht essen, that … , dieses Mädchen … that poor girl!“, meinte Colonel Eliot.
„Das ist kein Mädchen“, sagte ich, „es ist ein Fisch.“
„General“, sagte Mrs. Flat mit strenger Stimme, „ich hoffe, Sie werden mich nicht zwingen, das zu essen, that … this … that … poor girl!“
„Aber es ist ein Fisch!“, erwiderte General Cork, „es ist ein ausgezeichneter Fisch! Malaparte sagt, daß er ausgezeichnet ist. He knows …“
„Ich bin nicht nach Europa gekommen, damit Ihr Freund Malaparte und Sie mich zwingen, Menschenfleisch zu essen“, sagte Mrs. Flat mit vor Empörung zitternder Stimme, „überlassen wir es diesem barbarous Italian poeple to eat children at dinner. I refuse. I am an honest American woman, I don’t eat Italian children!“
„I’m sorry., I’m terribly sorry“, sagte General Cork und trocknete sich die schweißgebadete Stirn; „aber alle in Neapel essen diese Art Kinder… yes… I mean… no… I mean … that sort of fish! … Ist es nicht so, Malaparte. daß that sort of children … of fish … is excellent?“
„Es ist ein ausgezeichneter Fisch“, erwiderte ich; „was tut es schon, wenn er das Aussehen eines Mädchens hat? Es ist ein Fisch. In Europa sind Fische nicht verpflichtet, wie Fische auszusehen …“
„Auch in Amerika nicht!“, sagte General Cork, froh, endlich jemanden zu finden, der ihm zu Hilfe kam.
„What?“ , rief Mrs. Flat.
„In Europa“, sagte ich, „sind die Fische frei, wenigstens die Fische! Niemand verbietet es einem Fisch, auszusehen, was weiß ich, wie ein Mensch, wie ein Mädchen, wie eine Frau. Und das hier ist ein Fisch, selbst wenn … Im übrigen“, setzte ich hinzu, „was glaubten Sie denn hier zu essen vorzufinden, in Italien? Die Leiche Mussolinis?“
„Ah! ah! ah! funny!“, rief General Cork, mit einem Lachen, das zu schrill war, um aufrichtig zu sein, „Ah! ah! ah!“ Und alle anderen lachten mit ihm im Chor, ein Gelächter, in dem Bestürzung, Zweifel und Heiterkeit seltsam miteinander stritten. Nie habe ich die Amerikaner so geliebt, nie wieder werde ich sie so lieben wie an jenem Abend, an jener Tafel, vor diesem gräßlichen Fisch!
„Sie werden hoffentlich nicht verlangen“, sagte Mrs. Flat, bleich vor Zorn und Grauen, „sie werden nicht von mir verlangen, daß ich dieses schreckliche Ding dort essen soll! Sie vergessen, daß ich Amerikanerin bin! Was würde man in Washington sagen, General, was würde man im War Department sagen, wenn man wüßte, daß bei Ihren Dinners gesottene Mädchen … , boiled girls, verspeist werden?“
„I mean … yes … of course …“, stammelte General Cork und warf mir einen flehenden Blick zu.
„Boiled girls with maionese!“ wiederholte Mrs. Flat mit eisiger Stimme.
„Sie vergessen die Korallen-Beilage“, sagte ich, als wollte ich mit diesen Worten General Cork rechtfertigen.
„I don’t forget corals! Ich vergesse die Korallen nicht!“, rief Mrs. Flat, deren Augen Blitze zu mir herüberschossen.
„Get out!“, rief mit einem Male General Cork dem Haushofmeister zu und wies mit dem Finger auf die Sirene, „get out that thing!“
„General, wait a moment, please,“ sagte Colonel Brown, der Kaplan des Hauptquartiers, „we must bury that … that poor fellow.“
„What?“, rief Mrs. Flat.
„Wir müssen das begraben, dies … , diesen… I mean …“, sagte der Kaplan.
„Do you mean …“, begann General Cork.
„Yes, I mean bury“, antwortete der Kaplan.
„But … it’s a fish …“, sagte General Cork.
„Mag sein, daß es ein Fisch ist“, sagte der Kaplan; „aber es sieht viel eher aus wie ein Mädchen … . Erlauben Sie, daß ich darauf bestehe: es ist unsere Pflicht, dieses Mädchen zu begraben … I mean, that fish. We are christians. Sind wir etwa keine Christen?“
„Ich zweifle daran!“, sagte Mrs. Flat; sie maß General Cork mit einem kalten, verächtlichen Blick.
„Yes, I suppose … „, erwiderte General Cork.
„We must bury it“, sagte Colonel Brand.
„All right“, sagte General Cork, „aber wo sollen wir es begraben? Ich meine, wir sollten es auf den Kehricht werfen, das scheint mir das einfachste zu sein.“
„Nein“, entgegnete der Kaplan, „man kann nie wissen. Es ist ist durchaus nicht sicher, dass es ein richtiger Fisch ist. Wir müssen ihm ein schicklicheres Begräbnis geben.“
„Aber in Neapel gibt es keine Friedhöfe für Fische!“, sagte General Cork, zu mir gewandt.
„Ich glaube nicht, daß es welche gibt“, gab ich zur Antwort; „die Neapolitaner begraben die Fische nicht, sie essen sie.“
„Wir könnten es im Garten begraben“, sagte der Kaplan.
„Das ist ein guter Gedanke“ meinte General Cork, dessen Miene sich aufhellte, „wir könnten es im Garten begraben.“ Und an den Haushofmeister gewandt fuhr er fort: „Bitte gehen Sie und begraben Sie dieses Ding… diesen armen Fisch im Garten.“
„Si, signor Generale“, sagte der Haushofmeister sich verneigend, während die Diener die leuchtende Platte aus massivern Silber aufhoben, auf der die arme, tote Sirene lag, und sie auf die Tragbahre stellten.
„Ich habe gesagt: begraben“, rief General Cork, „ich verbiete euch, in der Küche davon zu essen!“
„Si, signor Generale“, sagte der Haushofmeister, „aber es ist wirklich schade! Ein so guter Fisch!“
„Es ist nicht sicher, daß es wirklich ein Fisch ist“, sagte General Cork, „und ich verbiete, in der Küche davon zu essen!“
Der Haushofmeister verbeugte sich, die Diener bewegten sich auf die Tür zu, auf der Bahre die leuchtende Silberplatte mit sich tragend, und wir alle folgten diesem seltsamen Leichenzug mit traurigem Blick.
„Es wird gut sein“, meinte der Kaplan, sich erhebend, „wenn ich mitgehe, um das Begräbnis zu überwachen. Ich möchte ein reines Gewissen haben.“
„Thank you, Father“, sagte General Cork, sich die Stirne trocknend, und blickte mit einem Seufzer der Erleichterung zaghaft auf Mrs. Flat.
„Oh Lord!“, rief Mrs. FIat mit zum Himmel erhobenen Augen.
Sie war bleich, und Tränen glänzten in ihren Augen. Es gefiel mir, daß sie bewegt war, ich war ihr tief dankbar für diese Tränen. Ich hatte Mrs. Flat nicht richtig beurteilt: Sie war eine Frau von Herz. Sie weinte um einen Fisch, sie würde sicher eines Tages dahin kommen, auch mit dem italienischen Volk Mitleid zu empfinden, auch über die Trauer und Leiden meines armen Volkes zu weinen.
Aus:
Curzio Malaparte: Die Haut, Stahlberg Verlag, 1950
III Zweiter Stadtrundgang
Der zweite Stadtspaziergang durchquert auf dem Spaccanapoli die gesamte historische Altstadt.
1 Spaccanapoli
An der Haltestelle Toledo Ospedale an der Via Toledo mündet der antike decumanus inferiore (die kleinere Hauptstraße), der seit den Tagen der Römer die Stadt durchquert. (Auch die eigentliche Hauptstraße, der decumanus maximus zeichnet sich in Form der Via dei Tribunali noch heute im Straßenbild der Altstadt ab). Der decumanus inferiore wird im Volksmund spaccanapoli (Durchschneidung Neapels) genannt, da er sich als gerade Linie durch das Gewirr der Altstadtgassen zieht. Der Spaccanapoli besteht aus Straßen mit unterschiedlichen Namen, beginnend mit der Via Maddaloni, gefolgt von den Straßen Via Domenico Capitelli und Benedetto Croce, der Piazzetta del Nilo, dann setzt er sich als Via San Biagio dei Librai und Via Vicaria Vecchia bis zur ihn kreuzenden Via Pietro Colletta fort. Hier befindet sich der Kern der Altstadt, der den Lauf der Zeit fast unbeschadet überstanden hat, allerdings bedürfen noch viele Gebäude dringend einer Renovierung. Hier kann man mit allen Sinnen Neapel erfassen; das Gewimmel sehen, die unterschiedlichsten Geräusche hören, orientalische Düfte riechen, die Pizza am Ursprungsort schmecken und die Stadt sogar mit den Füßen fühlen, wozu das historische Straßenpflaster aus Pipernum beiträgt. Es besteht aus kleinen, glatten und schwarzen Vulkansteinen, die einen schönen Kontrast zu dem porösen Tuffgestein bilden, aus dem die Stadt ansonsten besteht. Bei beiden handelt es sich um Lavaasche vom Vesuv, wobei Pipernum von nachfolgenden Ausbrüchen zugedeckt und unter Hitze und hohem Druck zu hartem schwarzem Stein verfestigt wurde.
2 Gesù Nuovo
Pipernum wurde auch für die so genannte Diamantquaderfassade der Kirche Gesù Nuovo verwendet, die die erste Station unseres zweiten Stadtrundgangs ist. Diese, sonst eigentlich im Florenz der Renaissance gebräuchliche Art der Fassadengestaltung gibt es in Neapel nur hier und an einem Palazzo an der Via Toledo. Auch Gesu Nuovo war einmal ein Profanbau und gehörte zum Palazzo Sanseverino aus dem 15. Jh. Im 17. Jh. baute man ihn unter Beibehaltung der Fassade zur Kirche um. Im Innern befindet sich ein großes Fresko aus dem Jahre 1725 von Francesco Solimena, einem der berühmten neapolitanischen Barockmaler.
3 Guglia dell’Immacolata
Vor der Kirche leuchtet auf der Piazza Gesù Nuovo, mitten im Grau der Gassen, die Guglia dell’Immaculata in der Sonne. Sie ist eines von mehreren säulenartigen Monumenten in Neapel, die zu unterschiedlichen religiösen Anlässen errichtet wurden. Dieses hier wurde im 18. Jh. der Jungfrau Maria aus Dankbarkeit für die wunderbare Errettung der Bewohner eines Hauses hier am Platze geweiht. Ein Priester, der in demselben Palazzo wohnte, hatte im Traum seinen Einsturz gesehen und die Bewohner evakuieren lassen – gerade noch rechtzeitig, bevor es in sich zusammenfiel.
4 Piazza S. Domenico
An der malerischen Piazza S. Domenico steht eine der gotischen Großkirchen, San Domenico Maggiore, die während der Anjou-Herrschaft in Neapel erbaut wurden. Sie wendet dem Platz und dem Spaccanapoli ihre Ostseite zu. In dem ihr angeschlossenen Dominikanerkloster lebten so berühmte Kirchenleute wie Thomas von Aquin und der von der Kirche als Ketzer deklarierte und später in Rom verbrannte Giordano Bruno. In der Sakristei befinden sich 45 Gräber des aragonesischen Königshauses, das 1505 auf die Franzosen folgte.
Inmitten der Piazza S. Domenico steht die große Guglia di S. Domenico, die nach der großen Pestepidemie von 1656 aufgestellt wurde. 200 000 Neapolitaner waren der Epidemie damals zum Opfer gefallen in einer Stadt, deren hygienische Verhältnisse der Ausbreitung jeglichen Vorschub leisteten. Nach heftigen Regenfällen im Herbst und einer Abkühlung des Klimas, die der Weiterverbreitung der Pestflöhe abträglich war, konnte nun das Ende der Pest deklariert und das Monument errichtet werden, mit dem man für die „gnädige Errettung“ von der Plage dankte.
5 S. Chiara
Die durch Robert von Anjou 1310 errichtete gotische Kirche ist ein recht nüchterner Bau, hier befindet sich die Grablege des Königshauses Anjou. Die Kirche wurde mehrfach durch Erdbeben zerstört und besonders durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs, aber immer wieder aufgebaut. Außerdem gibt es im Kirchenbereich archäologische Ausgrabungen einer Thermenanlage und eine gigantische neapolitanische Krippe aus der Zeit Ferdinands IV. von Bourbon (1759 – 1825).
Sehr sehenswert ist der Klosterkomplex mit Kreuzgang, Krippensaal und Museum. Säulen und Ruhebänke des anmutigen Kreuzgangs wurden im 18. Jahrhundert von Guiseppe und Donato Massa über und über mit farbigen Kacheln geschmückt mit Darstellungen der Jagd, des Fischfangs, der Seefahrt, des Spiels, des Klosterlebens und anderen mystischen Darstellungen. 72 achteckige Säulen, ebenfalls mit Majolika-Kacheln mit Blüten- und Fruchtabbildungen belegt, durchziehen den Kreuzgang, dazwischen immer wieder Bänke, auf die man sich aber nicht setzen darf, denn dabei könnten sie abgenutzt oder beschädigt werden.
6 Via S. Gregorio Armeno
Wieder ein paar Straßenecken weiter liegt die “ Straße der Krippenbauer“. Die Weihnachtskrippe, „Il presepe“, hat in Neapel eine sehr lange Tradition und spielt in der Weihnachtszeit eine wichtige Rolle. In den zahlreichen Geschäften kann man zauberhafte Krippenfiguren, Nachbildungen von Haushaltsgegenständen und exotischen Tieren in allen Variationen bewundern und kaufen. Nicht die bekannten religiösen Krippenfiguren stehen im Mittelpunkt, sondern vor allen Dingen die Figuren des täglichen Lebens: Fisch- und Obsthändler, Kastanienverkäufer, Pizzabäcker mit flackernden Pizzaöfen, Metzger und Bäcker.
7 Cappella Sansevero
Die ein paar Straßenecken weiter gelegene (in der Nähe der Piazza San Domenico Maggiore), heute entweihte Kirche, ist ein weiteres Kleinod Neapels. Sie ist eines der bedeutendsten Museen Neapels, aber auch ein Mausoleum und ein Freimaurertempel voller Symbolik. Sie spiegelt den charismatischen Genius von Raimondo di Sangro wider, des siebten Fürsten von Sansevero, der die künstlerische Ausstattung der Kapelle im achtzehnten Jahrhundert in Auftrag gab. In der Via Francesco de Sanctis Nr. 19 befindet sich der Eingang in diese Familienkapelle des gleichnamigen Adelsgeschlechts. Da Sangro Mitglied der Freimaurer war, findet sich für den kundigen Betrachter eine Fülle von ihren Symbolen in den Kunstwerken und sogar eingelegt im Fußboden. Der aufgeklärte Prinz war obendrein sehr an Wissenschaft interessiert, was ihn der Kirche höchst verdächtig machte.
Höhepunkte des Barock
Der kleine, üppig ausgestattete Raum der Kapelle ist vollgestellt mit Kunstwerken. Besonderer Anziehungspunkt der Kirche ist der Verhüllte Christus (Christo velato) der, aus einem Marmorblock gehauen, wie aufgebahrt in der Mitte der Kirche liegt. Durch den Schleier sieht man den Körper quasi hindurchscheinen – bis heute wird dieses Werk von Giuseppe Sanmartino (1720-93) als ein erstaunliches Stück barocker Bildhauerkunst bewundert. Ebenso ist die die Statue der Keuschheit, die alles andere als keusch aussieht, ein Meisterwerk der Marmorbearbeitung. Doch geradezu phantastisch ist die Marmorfigur eines Onkels von Raimondo, der sich aus dem verknoteten Netz der Täuschung und des Unwissens herauswindet.
Die Ent-Täuschung
„VINCULA TUA DISRUMPAM VINCULA TENEBRARUM ET LONGAE NOCTIS QUIBUS ES COMPENDITUS UT NON CUM HOC MUNDO DAMNERIS“. (Ich werde deine Ketten der Finsternis und der langen Nacht, durch die du gefangen bist, zerbrechen / damit du nicht verurteilt wirst).
Das sind die lateinischen Worte, die wir links unten auf der Skulptur von Francesco Queirolo eingemeißelt finden. Dieses Werk ist dem Vater Sangros gewidmet, der sich nach einem Leben voller Laster und Unmäßigkeit dem klösterlichen Leben widmete. Es stellt einen Mann dar, eingehüllt in die Ignoranz, die durch das Netz symbolisiert wird. Er befreit sich mit Hilfe der Religion, dargestellt durch die Bibel und einen geflügelten Genius von seinen Irrtümern – indem er das Netz zerreißt. Zu seinen Füßen liegt eine Weltkugel, die das Erdenleben repräsentiert. Das mit größter Meisterschaft und Präzision gefertigte Netz aus Marmor ist das faszinierendste Detail der Skulptur.
Ein Hinweis auf die Riten der Freimaurerei, die in der Kapelle praktiziert wurden ist die Tatsache, dass den Novizen beim Eintritt in die Loge die Augen verbunden wurden, die sie dann wieder öffnen sollten um die Wahrheit zu erkennen.
Naturwissenschaft und Aberglaube
Bevor wir die Kapelle verlassen, kommen wir durch die so genannte Krypta, in der hinter Glas zwei Skelette aufbewahrt werden, denen der Prinz ein künstliches Adern- und Venengeflecht einsetzen ließ um die Kenntnisse der Anatomie zu verbessern. Solches Interesse des Alchemisten und Wissenschaftlers führte zu dem Gerücht, Sangro würde mit dem Teufel im Bunde stehen – und an manchen Abenden glaubte man ihn mit seiner sechsspännigen Kutsche über den Himmel des Golfs von Neapel herumgeistern zu sehen.
8 San Lorenzo Maggiore
Die Kirche wurde in der 2. Hälfte des XIII. Jh. an dem Ort errichtet, wo vorher eine altchristliche Basilika des VI. Jh. n. Chr. stand. Sie ist in Form des lateinischen Kreuzes gebaut, mit einem großen Schiff, Seitenkapellen und einer Holzdecke. Die Apsis zeigt die französische Bauweise mit Chorumgang und davon abgehenden radialen Kapellen. Unter diesen hebt sich die Cappella Barrile hervor, die Szenen aus dem Leben der hl. Jungfrau von einem unbekannten neapolitanischen Maler der Giotto-Schule enthält. Ebenfalls im Bereich der Apsis befindet sich das Grabmonument der Caterina d‘ Austria, ein Werk des Bildhauers Tino di Camaino. Sie war ein trauriges Opfer der Heiratspolitik der Habsburger, die ihre weiblichen Nachkommen mit „aussichtsreichen“ Kandidaten europäischer Throne verbandelten, um eventuell später selbst das Erbe anzutreten. Caterinas Mann aus dem Hause Anjou brachte es aber nur bis zum Thronfolger, bevor er 30jährig vor seinem Vater starb. Auch Caterina starb jung, mit 28 Jahren.
Zwei der berühmtesten italienischen Literaten sind mit dieser Kirche verbunden: Francesco Petrarca übernachtete 1343 in dem Kloster (laut einem Brief an seinen Freund Giovanni Colonna. Darin beschrieb er das Seebeben, das die Stadt am 25. November heimsuchte). Es scheint auch glaubhaft, dass Giovanni Boccaccio hier seiner Fiammetta (der schönen Maria d’Aquino, Tochter des Königs Robert von Anjou), seiner ihn inspirierenden Muse, den Kopf verdrehte, nachdem er sie in der Basilika während der Karsamstagsmesse 1334 gesehen hatte.
9 Ausgrabungsstätte San Lorenzo
Unter der Klosterkirche der Franziskaner San Lorenzo Maggiore befinden sich weitläufige Ausgrabungen der Zeugnisse aus griechisch-römischer Zeit. Hier kann man im antiken Neapolis spazieren gehen, auf der Agorà, dem Hauptplatz der alten griechischen Stadt, der später zum Forum der Römer wurde.
Der Eingang liegt im Kreuzgang der Abtei aus dem 18. Jahrhundert. Eine Treppe führt uns in die Geschichte hinab. Dicht unter der Oberfläche befinden sich Reste des Mittelalters. Hier, in der alten Basilika S. Lorenzo versammelte sich im 7. Jahrhundert n. Chr. das Volksgericht. Am Ende der Treppe angekommen, sind wir um 2.500 Jahre zurück versetzt. Etwa 600 v. Chr. wurden die antiken Hauptstraßen gebaut, die heutigen Straßen liegen genau darüber. Spuren von Karren sind deutlich sichtbar, ein Geschäft liegt neben dem anderen, z.B. die Bäckerei mit ihrem Ofen in Kuppelform (der heute noch genau so aussieht), die Wäscherei mit den Kanälen für den Ablauf des Wassers, das Aerarium (zur Aufbewahrung des Stadtschatzes mit erhaltenen Spuren der Eisenbarren und dem verstärkten Türrahmen), die Zisterne, der Kryptoportikus, ein überdachter großer Markt mit langen Reihen von Verkaufstischen aus Stein und Nischen für die Lagerung der Ware. Das Macellum (Lebensmittelmarkt) befindet sich unter dem rechteckigen Kreuzgang der Abtei. In der Mitte des Hofs sieht man einen ein mit Mosaik gepflasterten Boden, auf dem die Tholos stand, ein kleiner runder, mit vielfarbigem Marmor geschmückter Tempel. Hier sind wir direkt im Zentrum der antiken Stadt, und genau darüber befindet sich die heutige Piazza Gaetano. In der Umgebung lagen die wichtigsten Gebäude der Stadt Neapolis wie das große offene Theater und das kleinere überdachte Theater sowie der Tempel der Dioskuren, heute in die Kathedrale San Paolo Maggiore umgewandelt.
10 Chiesa del Pio Monte della Misercordia
1601wurde an diesem Ort von frommen Adligen eine Stiftung für Arme gegründet, die bis heute besteht. Der Pio Monte della Misericordia (wörtlich: frommer Berg der Barmherzigkeit) hat seinen Sitz in der Via dei Tribunali, hinter dem Dom und hier wurde auch die schlichte Kirche errichtet. Überraschend bekam der aus Rom wegen eines Tötungsdelikts geflüchtete Maler Michelangelo Merisi, genannt il Caravaggio, den Auftrag für das Altarbild und schuf mit diesem Bild sein geheimnisvollstes und komplexestes Werk: Die Sieben Werke der Barmherzigkeit. Gemalt von einem Mann, der nicht mehr auf Barmherzigkeit hoffen konnte und dem erst langsam klar wurde, dass der Rest seines Lebens aus der Flucht vor dem Tod bestehen würde.
Die Sieben Werke der Barmherzigkeit bestehen laut der katholischen Kirche aus:
- Hungernde speisen
- Durstige tränken
- Fremde beherbergen
- Nackte bekleiden
- Kranke pflegen
- Gefangene besuchen
- Tote bestatten
Caravaggio läßt das alles gleichzeitig in einer engen neapolitanischen Altstadtgasse geschehen. Und wie immer bringt er eine ungeahnte Dramatik und Bewegung – allein durch den Einsatz des Lichts – in das Geschehen. Was man im Bild sieht, ist ungewöhnlich. Eine Frau nährt einen Greis, der seinen Kopf durch Gitterstäbe streckt, an ihrer Brust, und erfüllt damit gleich zwei der Werke. (Die Geschichte der „Caritas Romana“, in der eine Tochter ihren verurteilten und dem Hungertod preisgegebenen Vater im Gefängnis besucht und mit ihrer Milch ernährt, war zur Entstehungszeit des Bildes allerdings wohl bekannt und somit nur uns heutigen Ignoranten ungewohnt.) Hinter ihr wird eine Leiche aus dem Haus getragen, mit den Füßen voraus. Wird der Edelmann, der an dem nackten Bettler vorbei schreitet, seinen Mantel mit ihm teilen? Je näher man herantritt, um so mehr Figuren erscheinen aus dem Dunkeln, deren Rolle nur scheinbar im Unklaren bleibt. Über allem tragen zwei Engel die Jungfrau mit dem Kind und haben anscheinend Mühe nicht abzustürzen. Ein ganzer Kosmos eröffnet sich in diesem Werk.
Für ein Kirchenbild ist diese Darstellung aus heutiger Sicht ziemlich gewagt: Zwei nackte Männerkörper (die Engel) in inniger Umarmung, ein erwachsener Mann saugt an einer entblößten Brust. Doch in Neapel blieb der Skandal aus, da die Gläubigen von den Krippen deftigere Szenen gewöhnt waren.
Exkurs Kunst: Caravaggio in Neapel
Michelangelo Merisi wurde wahrscheinlich am 29.9.1571 (Festtag des Erzengels Michael, daher sein Name!) geboren. Sein Geburtsort ist umstritten, wahrscheinlich war es Mailand, wo der Vater sich von 1563 bis 1576 aufhielt. Den Beinamen il Caravaggio erhielt er von dem Dorf bei Bergamo, aus dem seine Familie stammte.
Aufgrund der Pestepidemie von 1576 floh seine Familie von Mailand nach Caravaggio als er gerade fünf Jahre alt war (sein Vater und Großvater erlagen der Seuche). Die Mutter hatte Schwierigkeiten, die Familie zu ernähren und das Erbe gegen die Ansprüche der Verwandten ihres Mannes zu verteidigen. Deshalb kehrte sie 1584 mit dem Sohn nach Mailand zurück und schickte ihn dort in die Lehre zu Simone Peterzano, einem Maler aus Bergamo. Einige Jahre nach Beendigung seiner Lehre, während der er möglicherweise eine Studienreise in den Osten der Lombardei oder nach Venedig unternommen hatte, gelangte Caravaggio nach Rom, wo seine Anwesenheit ab 1596 belegt ist. Dort arbeitete und lernte er bei Giuseppe Cesari (Cavalier d’Arpino), damals der bekannteste Maler Roms. Dieser galt als „moderner“ Künstler, der, obwohl die Tradition der Meister des 16.Jh. fortsetzend, Wert auf Naturalismus legte und auch das Alltägliche in seinen Gemälden abbildete.
Wahrscheinlich hatte Caravaggio, als er in Rom ankam, kein Geld und keine feste Bleibe, so dass er wirklich unter den Menschen lebte, die er später so häufig darstellte. Dieses Personal hat nichts mit den klassisch-idealisierten Figuren gemein, die bis dato in Gemälden vorkamen, sondern ist vom wirklichen Leben gezeichnet. Gegen Ende des Jahrhunderts begann der Maler sich religiösen Themen zuzuwenden, wobei er die biblischen Motive vor einen zeitgenössischen Hintergrund setzte und alle Personen nach Modellen malte, die er sich von der Straße holte. Revolutionär war Caravaggios Lichtführung mit starken Hell-Dunkel-Kontrasten. Die Absicht seiner so überaus realistischen Darstellungsweise – z. B. die Unterschicht als Protagonist biblischer Szenen zu verwenden – war nicht etwa, sich gegen die Konventionen aufzulehnen, sondern so genau wie möglich den Worten der Bibel zu folgen und somit eine größere Glaubwürdigkeit zu erzeugen.
Sein schwieriger Charakter und seine auffällige Aggressivität brachte ihn des öfteren mit dem Gesetz in Konflikt, doch konnte er sich stets den schlimmsten Situationen entziehen, da ihm reiche Bewunderer und Freunde zur Seite standen. Als er jedoch bei einem Duell oder einer Schlägerei seinen Gegner Ranuccio Tomassino tödlich verwundete, musste er aus Rom fliehen. Er erreichte das Königreich Neapel, den sicheren Nachbarstaat, dank der Unterstützung eines Gönners. Hier blieb er 18 Monate, während derer er intensiv arbeitete und mehrere private und kirchliche Aufträge ausführte, darunter die „Sieben Werke der Barmherzigkeit“ – eines seiner Hauptwerke. Es wurde sein bestbezahltes Bild überhaupt.
Im Juli 1607 begab er sich nach Malta, wiederum mit der Unterstützung von Gönnern, weil er hoffte, Ritter des Malteserordens zu werden und dadurch eine gewisse strafrechtliche Immunität zu erlangen. Am 4. Juli 1607 erfolgte tatsächlich der Ritterschlag und zudem wurde er ehrenhalber als Ordensbruder aufgenommen. Doch schon nach wenigen Monaten „eckte“ er bereits wieder an, außerdem wurde sein römisches Delikt auch in Malta ruchbar und der Orden fühlte sich hinters Licht geführt. Kurz nach einer Inhaftierung konnte er sich aus dem Kerker befreien und entkam nach Sizilien. Der Malteserorden verstieß ihn daraufhin offiziell.
Auf Sizilien verbrachte der Künstler etwa zwei Jahre, bevor er nach Neapel zurückkehrte und seine letzten Werke schuf. Nur drei Werke verblieben in der Stadt, neben dem schon erwähnten Hauptwerk eine „Geißelung Christi“ und das „Martyrium der hl. Ursula“. Erstere hängt jetzt in der exorbitanten Gemäldesammlung des Königreichs Beider Sizilien im Schloss Capodimonte, das „Martyrium“ im Palazzo Zervallos, dem Sitz einer Bank. Es ist ein gutes Beispiel für die heutigen Verhältnisse im Finanzwesen, wo Kunstwerke an die Stelle von Gold oder Geld als Kapitalsicherung getreten sind und zeigt, wie auch mit Kunstobjekten Spekulation betrieben werden kann: Die Bank hatte das stark beschädigte Bild als Werk des neapolitanischen Barockmalers Mattia Preti für kleines Geld erworben. Bei der notwendigen Restaurierung investierte sie zusätzlich viel Geld in eine akribische Provenienzforschung. Durch italienweite detektivische Tätigkeit, Stöbern in verborgensten Archiven und durch scharfsinnige Beweisketten gelang es den von der Bank beauftragten Kunsthistorikern, das Gemälde Caravaggio zuzuschreiben, was einen 1000 prozentigen Spekulationsgewinn einbrachte. Kein Wunder, dass seitdem immer wieder bisher verschollene Caravaggio-Gemälde auftauchen.
Schon in Sizilien wurde Caravaggios Gemütszustand von Zeitgenossen als labil beschrieben und jetzt in Neapel kam es zu einer erneuten blutigen Auseinandersetzung. Anfang Juli 1610 verließ er die Stadt und reiste per Schiff in Richtung Rom, weil ihm eine Begnadigung durch den Papst in Aussicht gestellt wurde. Bei der Anlandung wurde er jedoch, wahrscheinlich aufgrund einer Verwechslung, festgenommen. Völlig verstört wollte er nach seiner Freilassung auf sein Schiff zurückkehren, auf dem sich alle Habseligkeiten (auch einige Bilder) befanden, doch es war bereits wieder abgefahren. Verzweifelt segelte er nach Norden, an die Grenze des Vatikanstaats, wo er in dem kleinen Küstenort Port’ Ercole ankam. Hier starb er am 18. Juli 1610, die Todesursache könnte eine alte Verletzung oder Malaria gewesen sein, vielleicht war es sogar Mord.
11 Dom von Neapel
Der Dom von Neapel ist eine weitere der gotischen Großkirchen, die während der Anjou-Herrschaft erbaut wurden. Allerdings ist er in seiner 1700jährigen Geschichte so oft umgebaut worden, dass er in bezug auf stilistische Einheitlichkeit nicht mit Santa Chiara und San Domenico konkurrieren kann. Aber für die mehrheitlich tief gläubigen Neapolitaner ist er dennoch das Herz der Stadt, denn er bewahrt die Reliquien des Stadtheiligen San Gennaro und vereint die Bewohner dreimal im Jahr durch das Wunder der Blutverflüssigung. Der lateinisch Januarius genannte Märtyrer war im dritten Jahrhundert Opfer der Christenverfolgung durch die Römer geworden. Kaiser Diokletian wollte eine schwere Staatskrise durch die Rückkehr zu den althergebrachten Werten des Römertums und die Wiederbelebung des alten Götterkults beheben. Wer anderen Religionen anhing, sollte abschwören und wieder den römischen Göttern opfern. Weil Januarius, der zu dieser Zeit Bischof von Benevent war, dieses verweigerte, unterzog man ihn der übelsten Torturen und schlug ihm schließlich den Kopf ab. Ein Anhänger, der der Hinrichtung im Jahre 305 in Pozzuoli beiwohnte, bewahrte das Blut in einer Phiole und sorgte dafür, dass der Märtyrer und sein Blut in einer Katakombe beigesetzt wurden.
Aus dieser Katakombe wurden die Gebeine schließlich in den Dom von Neapel überführt und San Gennaro dadurch zum Schutzheiligen der Stadt. Das Fest der Überführung im Mai, der Gedenktag des Heiligen im September und die Erinnerung an seine „Abwehr“ des Vesuvausbruchs im Jahr 1631 (als seine Reliquien dem Berg entgegengetragen wurden) im Dezember sind die drei Tage, an denen sich das Blutwunder regelmäßig ereignet: Der Bischof dreht die Monstranz mit der Ampulle um, in der sich das „Blut“, eine eingetrocknete, gelb-braune Substanz befindet. Geht alles gut, „fließt“ es in dem Behälter umher, bleibt es jedoch fest, ist das ein schlechtes Omen für Neapel (die Kommunisten werden die Wahl gewinnen, der SSC Napoli wird verlieren oder der Vesuv bricht aus) und eine gute Gelegenheit für die Kirche, die Gläubigen zu disziplinieren. Obwohl es plausible wissenschaftliche Erklärungen für die „Blutverflüssigung“ gibt, ziehen es die Neapolitaner vor, an das Wunder zu glauben, ist es doch der Anlass für drei ausgiebige Festivitäten.
Hinter der Fassade aus dem 19. Jh. liegt das mächtige, mehr als 100 m lange Kirchenschiff aus dem 14. Jh. Aber bedeutender sind die zwei ältesten Zeugnisse des Christentums in Neapel, die Kapelle der Santa Restituta und das Baptisterium. Sie gehen beide auf die Zeit Kaiser Konstantins zurück, als das Christentum offizielle Religion des Römischen Reiches wurde. Santa Restituta fungierte damals als erste Kathedrale Neapels und als die Anjous den jetzigen Dom erbauten, war sie bereits so altehrwürdig, dass man sie nicht abriss, sondern als Anbau und Seitenkapelle in den Neubau integrierte. Ihr Grundriss und die Säulen der Mittelschiffsarkaden sind noch spätantik, das Übrige wurde in der Gotik und im Barock umgebaut..
Dem ihr angeschlossenen Baptisterium kam eine hervorgehobene Funktion zu: Mit der Einführung des Christentums bedurfte es auch der Taufe der übergetretenen erwachsenen Gläubigen. Da man damals die Taufe durch das Untertauchen des ganzen Körpers vollzog, musste ein Bauwerk mit einem großen Wasserbecken in der Mitte errichtet werden. Das Baptisterium von Neapel ist das älteste erhaltene Gebäude dieser Art und bewahrt noch viele Spuren aus der Zeit Kaiser Konstantins, wie die Mosaiken in der Kuppel und das Taufbecken darunter.
Unter dem Altar des Doms liegt eine Krypta mit dem Grab des heiligen Januarius. Der wichtigste Teil des Doms ist jedoch die Kapelle des Heiligen, in der der Erzbischof das Blutwunder zelebriert. Sie entstand in einer Krisenzeit Neapels mit politischen Unruhen, dem Ausbruch der Pest und Eruptionen des Vesuvs. 1646 wurde diese Kapelle im barocken napoletanischen Stil eingeweiht, der Eingang befindet sich im Dom.
IV Das Archäologische National-Museum
Das Archäologische National-Museum von Neapel ist eines der bedeutendsten der Welt. In dem 1585 entstandenen Gebäude, ursprünglich als Kavalleriekaserne genutzt, bevor es 1612 für die Universität umgebaut und dann 1748 von Sanfelice um einen Flügel erweitert wurde, sind seit 1773 Fundstücke aus Pompeji, Herkulaneum und mehreren anderen Ausgrabungsstätten Kampaniens ausgestellt.
Im Zentrum der Sammlungen stehen Funde aus Pompeji und Herkulaneum, aber auch weitere Funde aus Kampanien und der griechischen und römischen Welt sowie aus Ägypten. Spektakuläre Ausstellungsstücke gehören zur Farnesischen Antikensammlung, die der Bourbonenkönig Karl III. 1735 von der Farnese-Familie aus Parma geerbt hatte. Dazu gehören die großen Plastiken des Farnesischen Stiers, der Herkulesstatue und der Tyrannenmörder (aus den Caracallathermen in Rom) sowie Wandgemälde und wichtige Funde aus den Vesuvstädten, wie das aus über 1,5 Millionen Steinchen be-stehende Mosaik aus der Casa del Fauno in Pompeji, das die Schlacht zwischen Alexander dem Großen und dem Perserkönig Dareios III. darstellt.
Am ersten Stock sind die Bronze-Statuen ausgestellt, welche in der berühmten „Papyrus Villa“ in Herculaneum gefunden wurden. Diese Villa steht außerhalb Herculaneums und wird so benannt, weil man mehr als 2000 Papyrusrollen – die griechische Bibliothek der Villa – in ihr gefunden hat. Auch diese Papyrusrollen werden gezeigt.
Seit 2000 ist auch die antike Erotika-Sammlung zu sehen, die aus „moralischen Gründen“ lange unter Verschluss gehalten wurde. In den letzten Jahren wurde mit der kompletten Neukonzeption der Ausstellungen unter modernen museumspädagogischen und ausstellerischen Gesichtspunkten begonnen, die schrittweise durchgeführt wird und die Besichtigung des Museums gelegentlich erschwert.
1 Der Farnesische Stier
Diese größte erhaltene antike Skulptur zeigt einen grausamen Racheakt: Die von Zeus in Gestalt eines Satyrs geschwängerte thebanische Königstochter Antiope floh aus Angst vor ihrem Vater in das Nachbarreich, von wo sie Lykos, ihr Bruder und späterer König, zurückholte. Wie es in der Sage heißt, wurde sie danach von ihrer Schwägerin Dirke schlechter behandelt als eine Sklavin. Als Amphion und Zethos, die Zwillingssöhne Antiopes, herangewachsen waren, nahmen sie Rache an Dirke. Sie banden die Königin an die Hörner eines Stiers, der sie zu Tode schleifte.
Exkurs Mythologie: Antiope, Amphion und Zethos
Antiope war die überaus schöne Tochter des Königs Nykteus von Theben. Ihre Schöheit weckte Zeus`Begierde, daher näherte er sich ihr in Gestalt eines Satyrs und schwängerte sie, als sie im Mittagsschlafe lag. Epopeus, der König von Sikyon, der ebenfalls von ihrer Schönheit gehört hatte, kam heimlich nach Theben, entführte sie und machte sie gewaltsam zu seinem Weibe. Ihr erboster Vater fiel darauf mit einem Heer im Lande des Entführers ein. Es kam zur Schlacht, die Nykteus`Heer gewann, in welcher aber beide Könige tödlich verwundet wurden.
Vor seinem Tode hatte Nykteus seinen Bruder Lykos zum Nachfolger auf dem Throne bestellt und ihn dringend beschworen, Antiope wieder nach Theben zurückzubringen. Lykos gelobte das dem sterbenden Bruder feierlich und rüstete sich zum Kriege mit Sikyon. Der dortige Thronerbe gab Antiope jedoch freiwillig heraus. Als nun Lykos mit ihr zurückkehrte, schenkte sie unterwegs zwei Söhnen das Leben. Diese wurden im Gebirge ausgesetzt, da man sie für die Kinder des Feindes hielt. Aber ein gutherziger Rinderhirte nahm sich ihrer an und erzog sie allmählich zu herrlichen Jünglingen. Niemand ahnte, dass Amphion und Zethos Söhne des Götterkönigs selbst seien.
Während so die Brüder unerkannt in der Einsamkeit aufwuchsen, musste ihre Mutter Antiope schweres Leid erdulden. König Lykos, ein milder und gütiger Mann, hatte ein böses Weib mit Namen Dirke. Diese war von Eifersucht verblendet und glaubte, ihr Gemahl liebte die Tochter seines Bruders. In ihrer blinden Wut übte sie an der Unglücklichen die grausamste Rache. Oft sengte sie ihr mit glühendem Eisen das goldene Lockenhaar weg, schlug ihr mit der Faust ins zarte Antlitz und quälte sie auf die boshafteste Weise. Die arme Antiope mußte spinnen und arbeiten wie eine gemeine Sklavin und erhielt oft nicht einmal Wasser und Brot zur Nahrung. Tagelang schmachtete sie im Dunkel verpesteter Kerker, ihr Lager war der harte Stein.
Endlich aber war das Maß ihrer Leiden voll; Zeus ließ in einer Nacht die Ketten von ihren Händen abfallen und sprengte die Tür des Gefängnisses. So enteilte die Unglückliche ins Gebirge, bis sie an ein einsames Hirtengehöft mitten im Walde kam. Dort flehte sie um ein Obdach. Zwei Jünglinge traten heraus, ihre eignen Söhne, die beide ihre Mutter nicht kannten. Amphion und Zethos gewährten der Flehenden Zuflucht, jedoch kam nun Dirke daher geeilt. Sie hatte die Flucht der Gefangenen bemerkt und ihre Spur verfolgt. Durch erlogene Beschuldigungen überzeugte sie die beiden Jünglinge, dass Antiope eine gemeine Verbrecherin sei. Den Drohungen der Königin wagten die Brüder nicht zu widerstehen, auf ihren Befehl brachten sie einen wilden Stier herbei, an den sie ihre eigene Mutter binden sollten, damit sie zu Tode geschleift werde.
Da stürzte endlich der alte Hirt herbei, der einst die Zwillinge vom Tode errettet hatte, und offenbarte das Geheimnis, dass Antiope die Mutter des Zethos und Amphion war! Nun kehrte sich die gerechte Wut der Brüder gegen die nichtswürdige Dirke. Sie ward mit den Haaren an die Hörner des wilden Stiers gebunden, und dieser schleifte sie durch das Gebirge, bis sie unter den gräßlichsten Qualen ihren Geist aufgab.
2 Der „Tyrannenmord“
Als im Jahre 514 v. Chr. Athen unter der Herrschaft der Tyrannen Hippias und Hipparch stand, ereignete sich der berühmte „Tyrannenmord“, der uns durch mehrere erhaltene Kopien des berühmten, aber verlorenen Bronzedenkmals auf dem Athener Marktplatz noch heute ein Begriff ist: Als die beiden Tyrannen 514 v. Chr. damit beschäftigt waren, das Hauptfest Athens, den Panathenäen-Festzug auszurichten, stürzten sich die Bürger Harmodios und Aristogeiton auf Hipparch und erstachen ihn. Harmodios wurde sofort von den Leibwächtern des Hipparch erschlagen, während Aristogeiton zunächst fliehen konnte. Später wurde auch er gefasst und hingerichtet.
Wenige Jahre später, nach dem Sturz des anderen Tyrannen Hippias, errichteten die „dankbaren Athener“ den beiden Attentätern das bekannte Denkmal und sorgten dafür, dass das „Scherbengericht“, eine Abstimmung, die der Gefahr einer erneuten Tyrannis vorbeugen sollte, in seiner Nähe abgehalten wurde. Die vielen Kopien, die von dem Denkmal angefertigt und in der griechisch-römischen Welt verbreitet wurden, sollten die moralische Qualität einer solchen Handlungsweise hervorheben und die gewaltsame Tötung eines Gewaltherrschers rechtfertigen. Auch die sehr gut erhaltene Skulptur im archäologischen Museum gehört zu diesen Kopien.
Exkurs: Antike Geschichte und Geschichtswissenschaft
Die stark verkürzte und einseitige Darstellung der Tat von 514 v. Chr. hat uns zwar den Begriff des „Tyrannenmordes“ und die nützliche, zu allen Zeiten geführte Diskussion über die Legitimität einer solchen Tat gebracht, sie entspricht aber historisch in vielen Punkten nicht der Wahrheit.
Unter einem Tyrannen verstand man im Athen des 6. Jh. v. Chr. noch nicht dasselbe wie heute, Tyrannis war nicht automatisch auch Tyrannei. Diese Regierungsform galt neben der Aristokratie (Herrschaft des Adels), der Oligarchie (Herrschaft der Wenigen) und auch der Demokratie (Herrschaft des Volkes) nur als eine mögliche. Im Gegensatz zu den anderen Herrschaftsformen galt bei der Tyrannis zwar die Art und Weise der Machtübergabe als nicht legal, damit war aber noch nichts über die Qualität einer solchen Herrschaft ausgesagt. Peisistratos von Athen (* um 600 v. Chr. – † 528 v. Chr.) galt z.B. als „guter“ Tyrann. Er eroberte die Regierungsgewalt durch einen Putsch, regierte dann aber viele Jahre durchaus zum Wohle Athens, obwohl ein Großteil der Aristokratie die Stadt nach dem Putsch verlassen hatte.
Nachdem Peisistratos im Jahr 528 in hohem Alter eines natürlichen Todes gestorben war, ging die Herrschaft problemlos auf seine Söhne Hippias und Hipparch über. Der Wechsel gefährdete die Herrschaftsform der Tyrannis in Athen zunächst nicht. Hippias als der Ältere hielt die Herrschaft in seinen Händen, an der aber auch Hipparch beteiligt war. 514 v. Chr. geschah dann das Attentat auf Hipparch.
Die Tyrannis wurde auch dadurch nicht gestürzt, aber die Herrschaft des Hippias war doch erschüttert. Er regierte nach 514 wesentlich diktatorischer und ließ eine große Anzahl von einflussreichen Athenern umbringen. Damit fand die bisherige Verständigungspolitik zwischen der Familie des Tyrannen und den in Athen verbliebenen Aristokraten ein Ende. Viele dieser Aristokraten, darunter auch die einflussreiche Familie der Alkmaeoniden, verließen jetzt Athen und versuchten aus dem Exil heraus, die Tyrannis gewaltsam zu stürzen.
Erst als im Jahr 510 Sparta auf Seiten der Verbannten in den Kampf um Athen eintrat, wendete sich das Blatt. Hippias zog sich auf die Akropolis zurück. Hier hätte er vielleicht nur zu warten brauchen, bis die Spartaner, die sich nicht auf eine lange Belagerung einlassen wollten, wieder abgezogen wären. Durch einen Zufall bekamen diese aber seine Kinder in ihre Hände, und nun begann Hippias zu verhandeln. Nachdem ihm der freie Abzug unter Mitnahme seines Eigentums zugestanden worden war, verließ er die Stadt. Nach über fünfzig Jahren war die Tyrannis in Athen beendet.
Aber auch diese nüchterne Darstellung klärt noch nicht alle Aspekte des „Tyrannenmordes“ insbesondere nicht das Motiv der Täter. Bei den griechischen Historikern Herodot und Thukydides findet sich eine überraschende Überlieferung des Tatmotivs der„Tyrannenmörder“. Den Berichten der antiken Historiker zufolge hatten die Attentäter aus persönlichen Gründen gehandelt und den Sturz der Tyrannis nicht beabsichtigt. Auslöser der Tat war eine (im damaligen Athen absolut übliche) homosexuelle Affäre. Hipparch, der jüngere Tyrann, lernte den Aristokraten Harmodios (der von einer „strahlenden Jugend“ gewesen sein soll) kennen und bemühte sich um ihn nach Kräften. Seine Anträge blieben aber erfolglos, weil Harmodios seinem Liebhaber Aristogeiton die Treue hielt. Da es Hippias nicht ertragen konnte, abgewiesen worden zu sein, sann er auf Rache. So wie er zurückgewiesen worden war, so wollte er nun Harmodios eine Kränkung zufügen.
Hipparch wartete für seine Rache auf eine günstige Gelegenheit und fand sie anlässlich der Vorbereitung des Panathenäen-Festzugs. Die Schwester des Harmodios war von den Tyrannen als eine der Trägerinnen von Opfergaben auf der Prozession ausgewählt worden. Als sie nun erschien, um diese ehrenvolle Aufgabe auszuführen, wurde sie mit der Bemerkung, weder sei sie jemals ausgewählt worden noch sei sie dieses Amtes würdig, von den Tyrannen wieder fortgeschickt. Nun fühlte sich Harmodios gedemütigt und wollte die Beleidigung seiner Schwester nicht hinnehmen. Als die Tyrannen damit beschäftigt waren, den Festzug in Gang zu setzen, führte er gemeinsam mit Aristogeiton den Anschlag auf Hippias aus.
Das Ende der Tyrannis und die Etablierung einer neuen Regierungsform, der Demokratie, wurde nicht durch die Tyrannenmörder bewerkstelligt, sondern erst 508 v. Chr. durch Kleisthenes, der den Athenern eine neue Verfassung gab. Die Aufstellung des berühmten Denkmals wird zu seiner Zeit erfolgt sein, wo man die wahren Umstände der Tat bereits vergessen hatte und sie deshalb für die Identifikation der Bürger mit dem Staatsgebilde instrumentalisieren konnte.
V Der Vesuv und Herkulaneum
Vesuv
Das unglaubliche Panorama von Neapel wird bestimmt durch den weit geschwungenen Bogen des Golfs von Neapel und den Vesuv. Es hat zu dem geflügelten Wort geführt „Neapel sehen und sterben“, das oft Goethe zugeschrieben wird. Er zitiert es jedoch nur in der Form „Sieh Neapel und stirb“ und ist darüber verwundert, dass die Neapolitaner nichts besseres über ihre Stadt zu sagen haben.
Der Vesuv, der in der Vergangenheit so viel Unheil angerichtet hat, wirkt heutzutage überhaupt nicht bedrohlich. Mit seiner nur mäßigen Höhe, den zwei sanft gerundeten Gipfeln und durch die seit 1944 fehlende Rauchsäule trägt er viel zum lieblichen Eindruck dieser Ausnahmelandschaft bei. Aber man lasse sich davon nicht täuschen: Genau wie die Solfatara von Pozzuoli (s. u.) gilt der Vesuv als keinesfalls erloschen und seine momentane Ruhe ist nur trügerisch, ähnlich wie im Jahre 79 n. Chr., als der mit erstarrter Lava angefüllte Krater durch steigenden Druck aus dem Erdinnern quasi gesprengt wurde. Die Folgen waren verheerend: Erdbeben, Schlammlawinen durch das aus dem Kratersee herabstürzende Wasser, Niederschläge von Lapilli (kleinen vulkanischen Steinen) und wochenlanger Ascheregen, der zur Verdunkelung der Sonne und zur Änderung des Klimas führte. Eine Besonderheit der Vesuv-Ausbrüche waren pyroklastische Ströme, Hitzewellen von mehreren hundert Grad, die alles Leben in ihrem Umkreis vernichteten. Mehrere Orte am Fuße des Vulkans wurden 79 n. Chr. zerstört und anschließend mit Vulkanasche verschüttet.
Auch in den folgenden Jahrhunderten gab der Vesuv keine Ruhe: Eruptionen, Lavaströme und Erdbeben wechselten sich ab und der Gipfel änderte beständig sein Aussehen. Auch seine Höhe war Änderungen unterworfen, in früheren Jahrhunderten war er wesentlich höher als heute mit seinen 1281 Metern, zur Zeit von Pompeji sogar ca. doppelt so hoch. Alexander von Humboldt besuchte ihn 1822 während eines Ausbruchs, war aber angesichts der südamerikanischen Vulkane, die er bereits bestiegen hatte, nicht sonderlich beeindruckt. Er stellte aber hier die Hypothese auf, dass Vulkankrater durch einen Schlot mit dem Erdinnern in Verbindung stehen müssen. 1944 gab es den letzten Ausbruch, der 80 amerikanische Bomber, die nach der Invasion der Alliierten auf dem Pompeii Airfield stationiert waren, zerstörte – das war der größte Verlust an Kriegsgerät, den die Amerikaner im gesamten Zweiten Weltkrieg erlitten. Seitdem ist nur noch geringe vulkanische Aktivität zu beobachten wie Fumarolen und leichte Beben, was aber – wie schon gesagt – keinesfalls bedeutet, dass zukünftige Katastrophen ausgeschlossen sind.
1841 eröffnete man am Südhang das „Osservatorio Vesuviano“ als erste vulkanologische Beobachtungsstation überhaupt und bis heute wird der Berg von hier aus überwacht. Eine Fülle von Messtationen liefert Daten, die zur Risiko-Bewertung eines erneuten Ausbruchs herangezogen werden. Im Falle einer Katastrophe müsste mehr als eine Million Einwohner evakuiert werden, zwei Drittel von ihnen leben sogar im 200 km² großen Gebiet der höchsten Gefährdungsstufe, in dicht besiedelten Orten an den Hängen des Vesuvs. Planungen streben eine (bisher noch nicht mögliche) Vorwarnzeit von zwei Wochen an, doch bisher sind die Prognosen weder zuverlässig, noch treffen sie rechtzeitig genug ein. Neuere Erkenntnisse weisen darauf hin, dass die Magma-Kammer des Vesuvs wieder aktiv ist, was seit 2012 zu Planungen geführt hat, die Bevölkerung in der Roten Zone stark zu reduzieren: Mit Motivationsprämien von € 30.000 pro Familie sollten 150.000 Menschen in den nächsten Jahren umgesiedelt werden, bisher allerdings mit nur geringem Erfolg, denn in den letzten 20 Jahren wurden in der Roten Zone ca. 50.000 Häuser illegal neu gebaut.
Schon früh wurde der Vesuv ein Tourismusziel und ein Aufstieg auf den Gipfel wie auch der Besuch einer der Ausgrabungsstätten zählt seit 150 Jahren zum Standardprogramm eines Neapelaufenthalts. Zunächst erschloss man das Gebiet mit einer Eisenbahnlinie, der Circumvesuviana, dann wurde im Zuge des Baus von Standseilbahnen auf die Hügel von Neapel 1880 eine ebensolche auf den Vesuv realisiert. Ihre Einweihung war Anlass zu einem spektakulären Fest, wozu eigens das Lied Funiculì, Funiculà komponiert wurde. Amüsante Einzelheiten dazu kann man dem Exkurs „Neapolitanisches Volkslied“ am Ende dieses Kapitels entnehmen. Der Kabinenbahn auf schräger Ebene (Funicolare Vesuviano) war nur eine Existenz bis 1944 beschieden, dann wurde sie beim letzten Ausbruch des Vesuvs zerstört. Man verzichtete auf eine Wiederherstellung, sondern baute – jetzt im automobilen Zeitalter – eine Straße, von deren Endpunkt eine Sesselbahn auf den Gipfel führte. Diese war dem Touristenansturm nie gewachsen, weshalb man sie nicht mehr modernisierte und schließlich abbaute.
Heute fährt man mit dem Autobus oder dem eigenen Wagen in das zum Nationalpark erklärte Areal, muss am Parkplatz ein Eintrittsticket von 10 Euro erwerben und 400 Meter steil aufwärts bis zum Krater klettern. Festes Schuhwerk, geeignete Kleidung und Proviant sind empfohlen und ganz besonders ein Blick in den Wetterbericht. Es kann nämlich sein, dass unten am Golf die Sonne scheint, während der Berg sein Haupt in Wolken oder Nebel verhüllt. Es bleibt dann nur ein Blick in das aufgeschlagene Buch, das der Bergführer an der Stelle des spektakulärsten Blickes in die Höhe hält.
Herkulaneum
Ebenso wie das weit größere Pompeji erlitt Herkulaneum das tragische Schicksal der Zerstörung und Verschüttung durch den großen Ausbruch des Vesuv im Jahre 79 n. Chr. Der vielfach kopierte Brief des römischen Schriftstellers Plinius des Jüngeren, der als Achtzehnjähriger die Eruption im römischen Militärhafen Misenum am westlichen Ende des Golfs von Neapel erlebte, ist die erste durch einen Augenzeugen dokumentierte Naturkatastrophe der Geschichte. Viele Jahre später beschrieb er in zwei weiteren Briefen an den Historiker Tacitus den Tod seines Onkels, des Gelehrten und Präfekten der römischen Flotte Plinius des Älteren, in dessen Haushalt er lebte. Dieser war nach dem Ausbruch mit dem Schiff zum Fuße des Vulkans gesegelt, konnte aber wegen der Heftigkeit der Ereignisse nicht landen. Deshalb fuhr er weiter ins nahe gelegene Stabiae um sich an der Rettung der Einwohner zu beteiligen, brach aber während dieser Aktion zusammen und starb noch am selben Tage. In diesem zweiten Bericht nennt Plinius der Jüngere zahlreiche Einzelheiten des Ausbruchs: das Aufsteigen der Eruptionssäule, Niederschlag von Asche und Bimssteinen, Erdbeben und das Zurückweichen des Meeres.
Anders als Pompeji, das durch ein Erdbeben und die meterhohe Verschüttung durch Vulkanasche unterging, wurden in Herkulaneum die Zerstörungen durch eine pyroklastische Welle und mehrere Schlammströme verursacht. Als in der Nacht des Ausbruchs die vom Vulkan bis in die Stratosphäre aufgestiegene Eruptionssäule zusammenbrach, fiel das herausgeschleuderte Material auf die Flanke des Vesuvs zurück und löste dort einen Hitzesturm aus, der mit einer Temperatur von über 400°C und einer Geschwindigkeit zwischen 100 und 300 km/h auf Herkulaneum zuraste. Alle, die nicht sofort geflohen waren, starben binnen Sekunden an thermischem Schock. Die Gebäude Herculaneums wurden davon nur relativ wenig beschädigt. Eine Stunde später folgte ein Schlammstrom, der sich aus dem Wasser des ausgelaufenen Kratersees auf dem Gipfel des Vesuvs speiste. Er traf die Gebäude Herkulaneums mit großer Wucht. Gegen Morgen erreichten weitere Ströme die Stadt. Das Material der letzteren war dicht, zähflüssig und füllte die Gebäude bis in den letzten Winkel aus. Zunächst beim Abkühlen und später im Verlauf der Jahrhunderte verfestigte sich dieses Material zu dichtem Tuffstein. Anschließend (genau wie in Pompeji) wurde Herkulaneum unter einer vulkanischen Ascheschicht von bis zu 20 m Stärke völlig begraben.
Obwohl die Freilegungsarbeiten ungleich schwieriger waren als in Pompeji sind viele Gebäude und insbesondere das Inventar in Herkulaneum viel besser erhalten geblieben. Das hatte folgende Gründe:
- Bevor die Gebäude von Asche bedeckt wurden, war ihr Inneres bereits verfüllt, daher brachen manche Dächer nicht ein.
- Die Hitze der ersten pyroklastischen Welle verkohlte organische Materialien nur oberflächlich, entzog ihnen aber das Wasser und konservierte sie dadurch.
- Unter der dichten Tuffsteinmasse lag Herkulaneum praktisch abgeschlossen von Luft und unzugänglich für die Nachgrabungen der Überlebenden.
Durch zufällige Grabungen wurden im 17. Jahrhundert erstmals Funde im Bereich des Theaters gemacht. Unter Karl III. begannen 1738 ernsthafte Ausgrabungen, bei denen man Stollen in das weiche Tuffgestein trieb. Gleich die ersten Resultate waren ermutigend, da aus den Stollen in der Nähe einer römischen Patriziervilla wundervolle Marmor- und Bronzeskulpturen sowie Papyrusrollen und zahlreiche andere Gegenstände ans Licht kamen. Diese wurden ins Archäologische Nationalmuseum von Neapel verbracht, die Ausgrabungen jedoch eingestellt. Erst im Jahre 1927 nahm man unter Prof. Amedeo Maiuri systematische Grabungen auf, die unter anderem das südliche Viertel der Stadt zum Vorschein brachten und bis heute andauern.
Besonders beeindruckt in Herkulaneum die Stimmung in den Häusern, die Atmosphäre des Alltäglichen, die man noch heute in den Wohnungen und in den Kaufläden spüren kann. Man betritt das Gebiet der Ausgrabungen auf einer schönen Allee, von Zypressen und Oleander beschattet, die den Blick auf das Meer frei gibt. Nachdem man die verschiedenen Wohnviertel im ersten Teil der Ausgrabungen besucht hat, sind weiterhin die erst kürzlich erfolgten Ausgrabungen interessant: bemerkenswerte öffentliche Gebäude (Thermen und Sporthallen) und herrschaftliche Wohnsitze mit gut erhaltenen Bildwerken.
Diese Nobelvillen erstrecken sich längs des südlichen Gürtels der Stadt und bezaubern durch Veranden und Wohnräume mit ehemals herrlichem Blick auf das Panorama des Golfes. Empfehlenswert ist hier ein Besuch im „Haus der Hirsche“, welches ausgezeichnete Bronzeskulpturen von Hirschen birgt, die von Hunden angefallen werden. Ferner gibt es hier den Satyr mit dem Weinschlauch, den trunkenen Herkules, das Telephos-Relief und ein Mosaik, Neptun und Amphitrite darstellend. Durch Besuch dieser Häuser erhält man einen vollständigen und tief beeindruckenden Eindruck vom Leben der alten Römer.
Den atemberaubendsten Eindruck von der Naturkatastrophe erhalten wir durch die Gipsabgüsse der Opfer. Den Ausgräbern war zunächst in Pompeji aufgefallen, dass die versteinerten Ascheschichten Hohlräume mit darin befindlichen Knochen enthielten. Sehr schnell fanden sie heraus, dass diese den Negativ-Abdruck des von der Asche umschlossenen Körpers eines Opfers darstellten. Goss man den Hohlraum mit Gips aus und legte den Abguss frei, hatte man die Momentaufnahme des Todes eines Betroffenen der Katastrophe. In Herkulaneum machte man solche Funde erst 1982 bei der Ausgrabung der Bootshäuser, in deren Nähe viele Flüchtende bei der Einschiffung umgekommen waren. Die vielen Abgüsse gut erhaltener Skelette und Abdrücke lassen erstmals Rückschlüsse über Aussehen, Lebensgewohnheiten und Krankheiten der Menschen in der Antike zu.
Die Holzgestelle der Möbel und die verschiedenen häuslichen Gegenstände sind perfekt erhalten. Es ist sogar noch möglich, die Türen in ihren ursprünglichen Angeln zu drehen, in die höher gelegenen Stockwerke auf den originalen Treppen hinaufzusteigen, wo man sogar noch eine durch hastige Flucht verlassene Bettstatt vorfindet. Man kann den Besuch der Ausgrabungen durch einen Gang zum völlig von Lava umschlossenen Theater vervollständigen, welches durch geniale bergbaumäßige Ausgrabungstätigkeit (über ein unterirdisches Stollensystem) zugänglich gemacht wurde.
Exkurs: Neapolitanisches Volkslied
„Funiculì, Funiculà“, Auf- und Abstieg eines populären Liedes in drei Abschnitten
1 Ein Schlager wird zum Evergreen
1880 wurde die erste Seilbahn auf den Vesuv eröffnet. Zum spektakulären Anlass schrieb der in Rom tätige, aber 1880 zur Kur im Hotel Quisisana („Hier gesundet man“) in Castellamare di Stabia (am Vesuv) weilende Journalist Peppino Turco einen Liedtext, den der aus Castellamare stammende Luigi Denza – ein mittelmäßig erfolgreicher Liedkomponist – vertonte. Das Lied in neapolitanischem Dialekt bekam den Namen Funiculì, Funiculà (Die Seilbahn rauf – die Seilbahn runter) und wurde zuerst in besagtem Hotel Quisisana gespielt. Nachdem es jedoch auf dem jährlichen Volksfest von Piedigrotta in Neapel präsentiert worden war, verbreitete es sich blitzartig, wurde unglaublich populär und begründete sogar eine neue Tradition des neapolitanischen Volkslieds. Durch eine englische Übersetzung von Edward Oxenfort gelangte es über die englischsprachigen Länder in die gesamte Welt. Große Sänger wie Enrico Caruso nahmen es in ihr Repertoire auf.
2 Aufstieg in klassische Gefilde
Im Sommer 1886 unternahm Richard Strauss eine 5-wöchige Italienreise, auf der er unter anderem Rom, Neapel, Sorrent und Capri besuchte. Schon auf der Reise skizzierte er sein erstes Tongedicht für großes Orchester: „Aus Italien“, Op. 16, welches er im selben Jahr in München vollendete. Es hat vier Sätze:
1. Auf dem Land
2. Ruinen von Rom
3. Am Strande von Sorrent
4. Neapolitanisches Volksleben
Über den vierten Satz sagte der Komponist selbst: „Nach einigen lärmenden Eingangstakten beginnt das Hauptthema, von Bratschen und Celli vorgetragen, diesen tollen Orchesterspuk, der in einem lustigen Durcheinander von Themen das bunte Treiben Neapels schildern will; …“
Über die Provenienz dieses Hauptthemas schwieg sich Strauss jedoch dezent aus. Doch nachdem das Werk 1887 in München uraufgeführt worden war, kam die Wahrheit schnell heraus. Beim Thema des vierten Satzes handelte es sich nämlich nicht um eine – vom Komponisten während der Reise zufällig „aufgeschnappte“ – Volksweise, sondern um das höchst erfolgreiche Werk „Funiculì, Funiculà“ eines italienischen Kollegen, das der berühmte Musiker einfach abgekupfert hatte. Denza strengte einen Prozess gegen Strauß an, bei dem er in Deutschland offene Türen einlief. Strauß, der sich stets für die Stärkung der Komponisten an ihrem geistigen Eigentum engagierte, hatte nämlich für die Gründung einer der späteren GEMA ähnlichen Organisation gesorgt, die die Rechte der Urheber von Musik schützte. Diese Organisation verdonnerte ihren Gründervater nun dazu, bei jeder Aufführung von „Aus Italien“ Tantiemen an Denza zu zahlen. – Dumm gelaufen!
20 Jahre später wiederholte sich der Vorgang bei Nikolai Rimskij-Korsakows „Neapolitanischem Lied“, wo sich der Plagiator ebenfalls mit Berufung auf eine „italienische Volksweise“ vergeblich herauszureden suchte. Wieder einige Jahre später verarbeitete auch noch Arnold Schönberg die Melodie des Liedes in einem seiner Streichquartette, hier sind jedoch keine Querelen um den Urheber bekannt. So viel zur Existenz von „Funiculì, Funiculà“ im Bereich der klassischen Musik. Denn von nun an ging’s bergab.
3 Absturz
Wie unzählige andere „Hits“ derer man durch zu häufiges Anhören überdrüssig wird, geriet „Funiculì, Funiculà“ zunächst in den Bereich der Musik-Persiflage. Die Comic-Band Alvin and the Chipmunks verfremdete die Musik mit Micky-Maus-Stimmen, in der Zeichentrick-Serie „Veggie Tales“, in der lauter personifiziertes Gemüse auftritt, wurde der Song von „Larry the Cucumber“ gesungen. Aber das Schlimmste sollte noch kommen: das Lied verlor komplett seine nationale Identität und wurde nun auf Deutsch mit einem spanischen Bezug gesungen. Vom Konzertsaal stieg es in die Tiefen der Sportler-Umkleidekabinen hinab und zweifelhafte Performer von Party-Hits nahmen sich seiner an. Die dreiteilige Liedform wurde, weil zu lang und deshalb zu kompliziert, auf zweiteilig reduziert und es kam ein blöder, schlüpfriger Text hinzu:
Olé, wir fahrn in‘ Puff nach Barcelona, Olé Olè, (Olé Olè),
Olé, wir fahrn in‘ Puff nach Barcelona, Olé Olè, (Olé Olè).
Lesbisch, lesbisch und ein bisschen schwul,
Lesbisch, lesbisch und ein bisschen schwul.
Wir fummeln hier, wir fummeln da, Wir fummeln hier, wir fummeln da:
Tausend nackte Weiber auf dem Männerpissoir.
Tausend nackte Weiber auf dem Männerpissoir.
(Die Verfremdung von „Funiculì, Funiculà“ zu „Wir fummeln hier, wir fummeln da“ kann man als Freund der Persiflage eventuell noch lustig finden). Dennoch bleibt zu hoffen, dass diesem – eigentlich wunderschönen – Lied auch wieder bessere Tage beschert sind.
„Santa Lucia“
Die Rolle Neapels als eine der Musikmetropolen Europas hatte auch äußerst positive Auswirkungen auf das Musizieren des einfachen Volkes. Die Stadt als Hauptstadt eines Königreichs war voll von Musikern, die gute Beschäftigung im Teatro San Carlo und an den Höfen unzähliger Adliger fanden. Wie auch in Venedig (wo Vivaldi auf der Basis dieses Konzepts große Erfolge feierte) dienten die Armen- und Waisenhäuser zur Ausbildung von Musikern, wodurch die Beschäftigung mit Musik auch in die unteren Schichten getragen wurde. Insbesondere der Gesang war in diesen Kreisen außerordentlich populär und eingängige Melodien verbreiteten sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. Viele Opernkomponisten machten es sich zur Angewohnheit, die Noten der „Hits“ ihrer Opern den Sängern erst am Aufführungsabend auszuteilen, damit sie sich nicht bereits vor der Uraufführung in den Straßen verbreiteten.
Neben der klassischen Opernarie für die Oberschicht entwickelte sich deshalb in Neapel auch die Kultur des volkstümlichen Liedes. Während die Opernkomponisten die italienische Hochsprache verwendeten, sang man die Volkslieder im neapolitanischen Lokaldialekt. Ihre Popularität entwickelten sie auf Volksfesten wie in Piedigrotta, wo jährlich eines prämiert wurde und verbreiteten sich dann rasant als allgemeines Gesangsgut. Musikverlage entwickelten daraus ein Geschäftsmodell, indem sie diese bisher rein mündliche Musik in Noten transkribierten und massenhaft in den Handel brachten.
Der unter der Herrschaft Napoleons nach Neapel gekommene Franzose Joseph Cottrau war der erste, der solch einen Verlag für populäres Liedgut begründete. Seinem Enkel Teodoro Cottrau wird die Urheberschaft an dem berühmten, 1850 veröffentlichten Lied „Santa Lucia“ zugeschrieben, dem ersten „Welthit“ der neapolitanischen Folklore. Zu dessen Komposition wurde er wahrscheinlich durch die Arie „Wie schön, wie bezaubernd“ aus der Oper „Lucrezia Borgia“ von Donizetti inspiriert. Das Lied wurde so berühmt, dass es auch die klassischen Sänger nicht ignorieren konnten, insbesondere, wenn sie selbst aus Neapel stammten, wie beispielsweise 50 Jahre später Enrico Caruso.
Der Text des Liedes besingt das Hafenviertel Santa Lucia durch einen Bootsmann, der – um die Kühle des Abends zu genießen – zu einer Fahrt auf seinem Kahn einlädt. Anfangs hatte das im Dialekt verfasste Lied noch keinen überregionalen Erfolg, erst als Cottrau eine Version in italienischer Sprache herausbrachte, gewann es an Popularität und verbreitete sich daraufhin weltweit. Besonders beliebt ist es in Skandinavien wegen des dortigen Brauchtums der „Lichterkönigin“ Lucia.
„O Sole Mio“
Kurios ist die Geschichte des dritten neapolitanischen Hits „O Sole Mio“. Sein Komponist Eduardo Di Capua befand sich 1898 mit dem Neapolitanischen Staatsorchester auf Tournee in Russland. Während einer Nacht in Odessa konnte er wegen der Kälte und aufgrund seines Heimwehs nicht schlafen. Als am nächsten Morgen die Sonne aufging und durch das Fenster ins Hotelzimmer schien, kam ihm die Idee zu „O Sole Mio“. Di Capua unterlegte die Melodie mit den Versen des neapolitanischen Dichters Giovanni Capurro, natürlich in einheimischem Dialekt. (Das O im Titel bedeutet deshalb nicht die Anrufung der Sonne sondern schlicht den bestimmten männlichen Artikel, also il sole mio). Noch im selben Jahr gewann das Lied den zweiten Preis auf dem Fest von Piedigrotta und trat einen Siegeszug in Italien an. Enrico Caruso und andere renommierte klassische Sänger namen es in ihr Repertoire auf.
Wie so viele Schlager im 20. Jh. wurde auch „O Sole Mio“ schnell international. Da ausländische Sänger mit dem dem neapolitanischen Dialekt nicht klar kamen, wurde der Text auch in gängigere Sprachen übersetzt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Coverversion von Elvis Presley, der das Lied während seiner Zeit als GI in Deutschland kennenlernte. Er bestand auf einer englischen Übersetzung und machte es als „It’s Now or Never“ zum Welthit. Als Sequel folgte unmittelbar darauf eine Coverversion von „Santa Lucia“.
Vom gigantischen finanziellen Erfolg des Liedes hatten die Urheber übrigens nichts; wegen des damals noch fehlenden Copyrights starben sowohl der Komponist di Capua als auch der Textdichter in Armut. Aber viele Jahre später strengten die Erben eines Alfredo Mazzucchi einen Urheberrechtsprozess um das Lied an. Sie argumentierten, di Capua habe sich das Werk ihres Vorfahren damals widerrechtlich angeeignet und präsentierten ein Autograf von Mazzucchi. Nach 25 Jahre dauernden Auseinandersetzungen bekamen sie Recht und haben, aufgrund der jetzt geltenden Gesetze, noch 20 Jahre lang Anspruch auf ca. 250 000 $ Tantiemen jährlich.
„Caprifischer“
Von besonderer Komik ist, dass das in Deutschland populärste Lied über den Süden Italiens, die „Caprifischer“, in Italien völlig unbekannt ist. Das sehnsuchtsvolle Lied zählt ohne Zweifel zu den bemerkenswerten Schlager-Kompositionen des 20. Jahrhunderts. Es steht exemplarisch für die Sehnsucht der Deutschen nach dem Süden, insbesondere nach Italien, die bereits in der Vorkriegszeit in zahlreichen romantischen Schlagern ihren Ausdruck gefunden hatte und die nach dem Krieg, zur Zeit des „Wirtschaftswunders“, als die Westdeutschen erstmalig ins Land ihrer Träume reisen konnten, erneut aufblühte. Viele Schlager der folgenden Jahre griffen in Thematik, Melodie und Form das Modell des Liedes wieder auf; es war gewissermaßen die Keimzelle eines Genres (der Italo-Schnulze), das viele Schlager-Interpreten heute noch pflegen.
Es entstand im Jahre 1943 mit einem Text von Ralph Maria Siegel (1911-1972), einem der bekanntesten Schlagertexter der dreißiger bis sechziger Jahre („Chiantilied“, „Der Theodor im Fußballtor“, „Ich hab‘ noch einen Koffer in Berlin“). Die Musik stammt von Gerhard Winkler (1906-1977), der zur gleichen Zeit sehr erfolgreich war (teilweise zusammen mit Ralph Maria Siegel): „Chiantilied“, „Schütt‘ die Sorgen in ein Gläschen Wein“, aber auch Ausrutscher zu verantworten hatte wie den „Starfighter-Marsch“, eine Auftragskomposition für die Bundeswehr-Luftwaffe auf Anregung von Franz Josef Strauß. Eine Plattenaufnahme (auf Schellack) mit der Sängerin Magda Hain wurde noch 1943 produziert, durfte jedoch nicht im Rundfunk gespielt werden, weil der Herrscher des besungenen Landes – Mussolini – bereits abgesetzt, die Achse Berlin-Rom zerbrochen war und die besungene Insel am 1.10.1943 von den Alliierten erobert wurde. Alles Italienische war jetzt in Deutschland verpönt und auch die bereits gepressten Schallplatten wurden eingelagert.
Nach 1945, als ganz Deutschland in Trümmern lag und für die Bevölkerung der Kampf gegen Wohnungsnot, Hunger und Kälte im Vordergrund stand, war kein Platz für die Sehnsucht der Deutschen nach Italien. Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet in der Sowjetischen Besatzungszone 1947 die erste Nachkriegsversion auf Amiga-Schallplatte mit Kurt Reimann als Sänger erschien. Sie erregte jedoch kein allzugroßes Aufsehen.
1949 brachte die Plattenfirma Polydor „die“ berühmte Aufnahme des Liedes mit Rudi Schuricke heraus. Erst jetzt wurde der Schlager unglaublich populär, er brachte Schuricke die erste Goldene Schallplatte der Bundesrepublik Deutschland ein und wurde gewissermaßen zum Inbegriff des deutschen Schlagers der Nachkriegszeit.
Cover-Versionen gibt es von 1950 bis heute:
Von Vico Torriani (50er, 60er, 70er Jahre) über Peter Kraus (50er, 60er), Die Flippers (70er), G.G. Anderson (80er, 90er) bis zu Max Raabe (90er bis heute). Max Raabe erzählte, dass sein Palastorchester den Titel aufgrund eines besonderen Wunsches von Helmut Kohl ins Repertoire aufgenommen habe. Das Lied soll auch zur Lieblings-Musik von Gerhard Schröder gehören. Kurioserweise erklang es – vor allem in den 1950er und 60er Jahren – regelmäßig auf der so völlig unitalienischen Insel Sylt beim gemeinsamen Besingen des Sonnenuntergangs durch eine Vielzahl von Gästen auf der Westerländer Strandpromenade.
Auf der besungenen Insel selbst kennt man „Caprifischer“ kaum. Bestenfalls wird es zum Befremden der Einheimischen durch deutsche Touristen – nach reichlichem Genuss italienischen Weines – vor Ort intoniert.
VI Paestum
Paestum wurde etwa 600 v.Chr. von Griechen aus Sybaris, einer damals bedeutenden griechischen Stadt in Kalabrien, gegründet. Die Stadt wurde etwa 9 km südlich des Flusses Sele auf einem Kalksteinplateau errichtet, das auch das Baumaterial für die Stadtmauern und die Tempel lieferte. Zu Ehren des Meeresgottes Poseidon wurde die Stadt Poseidonia genannt. Trotz dieser Namensgebung war Poseidonia keine richtige Hafenstadt, denn zwischen ihr und dem Meer lag damals eine flache Süßwasserlagune, die höchstens von kleineren Schiffen befahren werden konnte. Man nimmt an, dass größere Schiffe in der Sele-Mündung ankerten. Die Bedeutung von Poseidonia ergab sich aus der zentralen Lage in einer fruchtbaren Ebene. Deshalb war nicht Poseidon sondern Hera, die Göttin der Fruchtbarkeit, die beherrschende Gottheit der Stadt, der auch der größte der drei Tempel geweiht wurde. Diese einzigartige Gruppe von wohl erhaltenen Tempeln, denen eigentlich nur das Dach fehlt, macht die Bedeutung von Paestum heute aus.
Am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. wurde Poseidonia von den Lukanern (einem in dieser Region ansässigen Teil des italischen Volksstamms der Samniten) erobert, die die Stadt Paistom nannten. Im Jahre 273 v. Chr. wurde sie von den Römern in Besitz genommen, die ihren Namen in Paestum umwandelten. Das Lateinische wurde zur offiziellen Sprache und das Stadtbild wurde durch eine Reihe von römischen Bauten geprägt. Insbesondere wurde der griechische Marktplatz (agorà) durch das römische Forum ersetzt.
Ab dem 4. Jahrhundert n. Chr. setzte der Niedergang der Stadt ein. Die Abholzung der Wälder führte zur Ausbreitung der Sümpfe und Verbreitung der Malaria. Das im Norden etwas höher gelegene Gelände um den Tempel der Athena wurde zum Zentrum der verkleinerten Stadt. Im 5. Jahrhundert entstand die kleine frühchristliche Kirche, (neben dem Museum). Auch der Athena-Tempel scheint als christliche Kirche genutzt worden zu sein, da im Innern des Tempels Gräber gefunden wurden.
Unter dem Eindruck fortgesetzter Überfälle durch die Sarazenen im 9.Jahrhundert n. Chr. verließen schließlich die letzten Einwohner die Stadt und gründeten die neue Siedlung Capaccio auf einem nahe gelegenen Berg.
Von Sümpfen umgeben und im Schlamm versunken blieb das verlassene Paestum mit seinen gut erhaltenen Tempeln etwa 900 Jahre vergessen, bis es im Jahre 1748 beim Straßenbau wieder entdeckt und die Siedlung nach und nach ausgegraben wurde, ein Vorgang, der bis heute andauert. Für die vielen Funde errichtete man ein kleines Museum, das einen einzigartigen Schatz birgt: Die umfangreichste Dokumentation altgriechischer Malerei, die es in einem Antikenmuseum gibt. Die Bilder stammen aus Sarkophagen, die man, um dem Toten ein Stück Leben mit ins Jenseits zu geben, auf der Innenseite (!) bemalte wodurch sie hervorragend erhalten blieben.
VII Pozzuoli
Gegründet im Jahre 531 v. Chr. von Griechen aus Samos, diente die Stadt als Hafen für das weiter landeinwärts gelegene Kyme (Cuma). Als die Stadt 194 v. Chr. römische Kolonie wurde, benannte man sie um in Puteoli („die Stinkende“, ein Hinweis auf den Solfatarenzustand), aus dem sich der heutige Name Pozzuoli ableitet. Die heißen Quellen, die es hier überall gibt, wurden schon in der Antike als Heilbäder verwendet und trugen zur Beliebtheit Neapels bei berühmten Römern bei.
In der Stadtmitte, nahe der Küste liegen die Ruinen des Macellum, eines Marktes im Bereich des antiken Hafens: Etwa 4 m unterhalb des heutigen Straßenniveaus und 2 m unterhalb des heutigen Meeresniveaus stehen einige Säulenreste, die ab 3,6 m Höhe nach oben hin ein 2,7 m breites Band von Löchern mariner Bohrmuscheln aufweisen. Diese sind ein Beleg dafür, dass sich die Erdkruste seit Errichtung der Bauten hier mehrfach gesenkt und gehoben hat, so dass die Säulen zeitweise in Schlick und Wasser versunken waren.
Amphitheater
Die andere antike Sehenswürdigkeit Pozzuolis ist das gut erhaltene flavische Amphitheater, das einst ca. 40.000 Zuschauer fasste. Damit wäre es die drittgrößte römische Arena in Italien nach dem Kolosseum und derjenigen im unweit gelegenen Capua. Der Beiname „flavisch“ leitet sich von den Kaisern Vespasian und Titus ab, die der Familie der Flavier entstammen und unter denen auch das Kolosseum erbaut wurde. Die sehr gut erhaltenen Räume unterhalb der Arena machen das Amphitheater von Pozzuoli besonders interessant. Es handelt sich dabei um Funktionsräume, die Aufschluss darüber geben, wie die Spiele in der römischen Antike abliefen. Sie muten heutzutage barbarisch an, aber Boxkämpfe, Autorennen mit spektakulären Unfällen und Splatter-Filme, bei denen die gezeigten Scheußlichkeiten angeblich „echt“ sind, stellen uns auch kein besseres Zeugnis aus.
Damals waren die beliebtesten „Unterhaltungen“ Tierhetzen (venationes) und Gladiatorenkämpfe. Bei ersteren baute man in der Arena eine exotische Landschaft auf und trieb die in unterirdischen Käfigen in Dunkelheit und ohne Nahrung gehaltenen Raubtiere über Rampen und mechanisch zu öffnende Falltüren in die Kampfbahn. Das gleißende Sonnenlicht, das sie empfing, der Lärm der Zuschauer und der Hunger steigerte die Aggressivität der Tiere enorm. Sie fielen gegenseitig übereinander her oder mussten von nur spärlich bewaffneten Sklaven erlegt werden. Die Gladiatorenkämpfe fanden in einem ähnlichen Szenario statt, hier mussten trainierte Kämpfer mit unterschiedlichen Waffen und Rüstungen auf Leben und Tod miteinander fechten. Die Protagonisten waren Kriegsgefangene, die man zum Tode verurteilt und nur unter der Bedingung am Leben gelassen hatte, dass sie sich zu diesem Spektakel bereit erklärten. Ob in dieser Arena auch Christenverfolgungen stattfanden, ist historisch nicht gesichert, denn es gibt überhaupt nur einen antiken Quellenhinweis auf ein Massaker an Christen in einem Amphitheater nämlich dasjenige im Zirkus Kaiser Neros auf dem ager vaticanus, bei dem der Apostel Petrus den Tod fand. Die neapolitanische Legende vom heiligen Januarius sieht jedoch den Ort seines Martyriums hier im Amphitheater von Pozzuoli.
Solfatara
Noch berühmter als für die Überreste aus der Antike ist Pozzuoli für ein geologisches Phänomen, die Solfatara. Die Stadt liegt in einer vulkanologisch außerordentlich interessanten Zone, die seit der Antike „campi flegrei“ (brennende Felder) genannt wird. Der Solfatarenzustand wurde lange Zeit als postvulkanische Erscheinung gewertet, d.h. als zu in jüngerer Zeit erloschenen Vulkanen gehörend. Neuere Forschungen ergaben jedoch, dass die als äußerst gefährlich angesehene Magmakammer unter dem Vesuv eine Verbindung bis Pozzuoli hat. Auf dem gesamten Gelände gibt es mehr als 50 Eruptionsherde: Solfataren und Mofetten ((Orte, wo Schwefelgase oder Kohlendioxid austreten), unzählige Thermalquellen und Fumarolen (Dampfaustrittsstellen). An vielen Stellen ist das Gestein durch die aufsteigenden Schwefeldämpfe gelb gefärbt. Wirft man einen Stein auf den Boden, überkommt einen leichter Grusel, denn das Aufschlagsgeräusch kling hohl!
Die Solfatara von Pozzuoli ist also ein ehemaliger Vulkankrater, was durch den erhöhten Rand und das „Auge“, die erstarrte Magmafläche im Inneren, erkenntlich ist. Ihr Boden kann durch vulkanische Aktivität sehr heiß werden, weshalb der Aufenthalt hier keinefalls ungefährlich ist. 2017 wurden drei Personen in der Solfatara tödlich verletzt, ein 11-jähriger Junge und seine beiden Eltern aus Norditalien (42 und 45 Jahre alt). Der Junge kletterte angeblich über eine Absperrung und fiel in ein mehrere Meter tiefes Loch mit kochendem Schlamm, welches durch einen spontanen Kollaps entstanden war. Beide Eltern kamen bei dem Versuch, den Jungen zu retten, ebenfalls ums Leben, der 7-jährige Bruder des Jungen überlebte unverletzt. Seitdem (Stand 2021) ist die Solfatara für Besucher gesperrt.